Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 II 298



106 II 298

58. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 6. November 1980
i.S. B. gegen Vormundschaftsbehörde Feuerthalen (Berufung) Regeste

    Entmündigung auf eigenes Begehren (Art. 372 ZGB).

    1. Das Entmündigungsbegehren muss auf freiem Willensentschluss
beruhen. Es ist jedoch nicht schon dann ungültig, wenn der Schutzbedürftige
nicht von sich aus, sondern auf Vorschlag der Behörde um seine Entmündigung
nachsucht (E. 2).

    2. Auch die Trunksucht kann ein Gebrechen im Sinne von Art. 372 ZGB
darstellen (E. 3).

    3. Kann der Schutzbedürftige trotz seiner Trunksucht seine
Angelegenheiten gehörig besorgen, so darf er nicht gestützt auf Art. 372
ZGB entmündigt werden (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Auf Antrag der Vormundschaftsbehörde Feuerthalen beschloss der
Bezirksrat Andelfingen am 19. Mai 1970, den im Jahre 1939 geborenen
B. wegen Geistesschwäche und Trunksucht gestützt auf Art. 369 und 370
ZGB zu entmündigen, nachdem ihm die Vormundschaftsbehörde bereits am 23.
Dezember 1968 vormundschaftliche Massnahmen nach Art. 370 ZGB angedroht
hatte. B. verlangte eine richterliche Entscheidung über die Entmündigung,
worauf die Vormundschaftsbehörde beim Bezirksgericht Andelfingen Klage
auf Bestätigung der Entmündigung anhob. Die Vormundschaftsbehörde zog
die Klage jedoch wieder zurück, um B., der sich damals einer abstinenten
Lebensführung befleissigte und einer regelmässigen Arbeit nachging,
Gelegenheit zur Bewährung zu geben.

    B. musste in der Folge aber erneut vom Alkoholfürsorger betreut werden,
der ihn von Zeit zu Zeit zu mehr oder weniger regelmässigen Einnahmen von
Antabustabletten veranlassen konnte. Zwischen 1963 und 1977 befand sich B.
verschiedentlich in der Psychiatrischen Klinik Breitenau in Schaffhausen,
wo er in erster Linie wegen seines Alkoholmissbrauchs behandelt werden
musste. Er wurde immer wieder rückfällig und verlor gelegentlich auch
seine Arbeit, teils wegen alkoholbedingter Absenzen, teils aber auch
wegen der Rezession. Ende Juli 1979 trat er, da er gerade arbeitslos war,
in die Heilstätte für Alkoholkranke in Ellikon an der Thur ein, um sich
einer Entziehungskur zu unterziehen. Bereits am 14. August 1979 brach er
indessen die Kur ab, kehrte in sein Elternhaus zurück und verfiel erneut
dem Alkoholabusus.

    B.- Am 10. Oktober 1979 teilte der Vormundschaftsreferent der
Gemeinde Feuerthalen B. anlässlich einer Besprechung mit, dass ein
Entmündigungsverfahren eingeleitet werden müsse, nachdem er die ihm 1970
gewährte Chance, seine Lebensweise zu ändern und dem Alkohol zu entsagen,
nicht genutzt habe; es gehe jetzt nur noch darum, ob er gemäss Art. 372
ZGB selbst eine Entmündigung beantragen wolle, was für ihn von Vorteil
sei. B. erbat sich Bedenkzeit und ersuchte den Vormundschaftsreferenten,
mit seinen Eltern Kontakt aufzunehmen. Noch am gleichen Tag sprach
der Vormundschaftsreferent im Elternhaus vor, wobei B. ein Begehren um
Entmündigung gemäss Art. 372 ZGB unterschrieb und den Namen eines ihm
genehmen Vormundes vorschlug. Am 8. Dezember 1979 widerrief er telefonisch
das Begehren. Inzwischen hatte die Vormundschaftsbehörde Feuerthalen beim
Bezirksrat Andelfingen einen Antrag auf Entmündigung auf eigenes Begehren
gestellt, dem der Bezirksrat am 27. November 1979 entsprochen hatte.

    Mit Verfügung vom 3. April 1980 wies die Direktion der Justiz des
Kantons Zürich eine Beschwerde gegen den Entmündigungsbeschluss ab.

    C.- Gegen diese Verfügung hat B. beim Bundesgericht Berufung
eingereicht, mit der er beantragt, er sei nicht zu entmündigen.

    Die Vormundschaftsbehörde Feuerthalen, der Bezirksrat Andelfingen
und die Justizdirektion des Kantons Zürich beantragen die Abweisung
der Berufung.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung gut und weist die Sache zur
Vervollständigung des Tatbestandes und zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 372 ZGB kann einer mündigen Person auf ihr Begehren
ein Vormund gegeben werden, wenn sie dartut, dass sie infolge von
Altersschwäche oder anderen Gebrechen oder von Unerfahrenheit ihre
Angelegenheiten nicht gehörig zu besorgen vermag. Erstes Erfordernis für
eine Entmündigung gestützt auf diese Bestimmung ist somit ein Begehren des
zu Entmündigenden. Der Berufungskläger macht diesbezüglich geltend, sein
Entmündigungsbegehren habe nicht auf eigener, freier Entschliessung beruht.
Vielmehr sei er von der Vormundschaftsbehörde unter intensiven Druck
gesetzt und durch Erwecken eines Irrtums zur Unterzeichnung der Erklärung
vom 10. Oktober 1979 bewegt worden, indem ihm erklärt worden sei, er werde
den Vormund leichter wieder los, wenn er selber einen solchen begehre. Nach
Wegfall des Druckes habe er das Entmündigungsbegehren am 8. Dezember 1979,
noch vor der Zustellung des Entmündigungsbeschlusses, denn auch widerrufen.

    Der Widerruf des Entmündigungsbegehrens ist indessen unbeachtlich,
da die Entmündigung bereits vorher, nämlich am 27. November 1979,
ausgesprochen worden war (BGE 102 II 190 ff., 99 II 15 ff.). Dass der
Entmündigungsbeschluss dem Berufungskläger im Zeitpunkt des Widerrufs
noch nicht zugegangen war, ändert daran nichts. Von einem Willensmangel
im eigentlichen Sinne kann sodann zweifellos nicht gesprochen werden. Nach
den Feststellungen der Vorinstanz hat die Vormundschaftsbehörde die Frage
der Vormundschaft mit dem Berufungskläger eingehend erörtert. Dass sie
dabei darauf hinwies, eine auf eigenes Begehren angeordnete Vormundschaft
könne leichter wieder aufgehoben werden als eine Zwangsvormundschaft,
ist nicht zu beanstanden. Wie ein Vergleich zwischen Art. 437 und 438
ZGB zeigt, ist dies tatsächlich der Fall, wenngleich der Unterschied bei
einem Trunksüchtigen im Ergebnis nicht allzu gross sein dürfte (vgl. BGE
78 II 10, 38 II 432). Das Entmündigungsbegehren hat der Berufungskläger
sodann nicht anlässlich der Verhandlung vor der Vormundschaftsbehörde
unterzeichnet, sondern zuhause im Beisein der Eltern. Das spricht gegen
eine unzulässige Druckausübung seitens der Vormundschaftsbehörde. Hätte
das Begehren damals wirklich nicht seinem Willen entsprochen, so hätte
es der Berufungskläger zudem nicht erst zwei Monate später widerrufen.

    Dagegen befand sich der Berufungskläger insofern in einer Zwangslage,
als er von der Vormundschaftsbehörde vor die Alternative gestellt wurde,
entweder zwangsweise nach Art. 369/370 oder auf eigenes Begehren nach
Art. 372 ZGB entmündigt zu werden, ihm also effektiv nur die Form
des Eingriffs offengelassen wurde. Es stellt sich daher die Frage, ob
ein Entmündigungsbegehren unter solchen Umständen noch als auf freiem
Willensentschluss beruhend angesehen werden kann. Das Bundesgericht hat
diese Frage in BGE 78 II 9 bejaht. Es hielt dabei fest, der Umstand,
dass der Schutzbedürftige nicht von sich aus, sondern auf Vorschlag
der Behörde um seine Bevormundung nachsuche, mache sein Begehren
nicht ungültig; die Drohung, ihn im Falle der Weigerung zu versorgen,
wäre höchstens dann ein unzulässiger, die Gültigkeit der Erklärung
in Frage stellender Zwang, wenn objektiv jeder Grund gefehlt hätte,
ihn zu entmündigen oder andere Massnahmen gegen ihn zu ergreifen. Daran
ist - wenn auch mit gewissen Einschränkungen - festzuhalten. Würde man
anders entscheiden, wäre in vielen Fällen eine Entmündigung auf eigenes
Begehren ausgeschlossen, wenn zugleich auch die Voraussetzungen für eine
Entmündigung nach Art. 369 oder 370 ZGB erfüllt sind. Das läge nicht im
Interesse des zu Bevormundenden. Einmal ist, wie das Bundesgericht in BGE
54 II 241 ausgeführt hat, das Verfahren bei der Entmündigung auf eigenes
Begehren wesentlich einfacher und für den Schutzbedürftigen weniger
belastend. Zum andern kommt diesem Entmündigungsgrund eine besondere
fürsorgerische Bedeutung zu, da die Einsicht in die Notwendigkeit
einer vormundschaftlichen Massnahme zu einer positiven Einstellung
gegenüber dem Vormund führt und damit günstige Voraussetzungen für eine
Heilung bzw. Besserung schafft. Schliesslich wird der Schutzbedürftige
bei der Entmündigung auf eigenes Begehren nicht zum vornherein als
geisteskrank, trunksüchtig, verschwenderisch usw. abgestempelt; seine
Persönlichkeitssphäre wird dadurch geschont und sein wirtschaftliches
Fortkommen erleichtert. Der Entmündigung auf eigenes Begehren kommt daher
als der milderen Massnahme gegenüber den andern Entmündigungsgründen der
Vorrang zu (EGGER, N. 15 zu Art. 372 ZGB; ISENSCHMID, Entmündigung und
Beistandschaft auf eigenes Begehren, Diss. Freiburg 1975, S. 65 ff.;
BAER, Die Entmündigung auf eigenes Begehren, ZVW 10/1955 S. 125; HESS,
Rechtliche Voraussetzungen und fürsorgerische Bedeutung der Entmündigung
auf eigenes Begehren, ZVW 4/1949, S. 61 ff.).

    Diese positive Wirkung der Entmündigung auf eigenes Begehren entfällt
allerdings, wenn das Entmündigungsbegehren nicht auf der Einsicht des
Schutzbedürftigen beruht, dass er seine Angelegenheiten nur mit der
Hilfe eines Vormundes zu besorgen vermag, sondern auf das Drängen
der Vormundschaftsbehörde zurückzuführen ist, die das kostspielige
und zeitaufwendige Verfahren der Zwangsentmündigung vermeiden möchte,
oder wenn es nur deswegen gestellt wurde, weil der Schutzbedürftige
eingesehen hat, dass ein Widerstand gegen die Zwangsentmündigung ohnehin
zwecklos ist, insbesondere wenn dies kurz vor dem Abschluss eines bereits
eingeleiteten Entmündigungsverfahrens geschieht (ISENSCHMID, aaO S. 59 ff.,
64/65). Wo die Grenze zwischen einem unzulässigen Beeinflussungsversuch
seitens der Vormundschaftsbehörde und einem grundsätzlich im Interesse des
Schutzbedürftigen liegenden Appell an dessen Einsicht in die Notwendigkeit
vormundschaftlicher Massnahmen verläuft, ist freilich nicht leicht zu
sagen. Im vorliegenden Fall bestehen indessen keine Anhaltspunkte dafür,
dass die Vormundschaftsbehörde nicht im Interesse des Berufungsklägers
gehandelt habe, sondern sich die Arbeit habe leicht machen wollen, als sie
ihn auf die Möglichkeit aufmerksam machte, einem in Aussicht stehenden
Zwangsentmündigungsverfahren durch ein eigenes Entmündigungsbegehren
zuvorzukommen, oder dass das Entmündigungsbegehren trotz der Zwangslage,
in der sich der Berufungskläger befand, nicht auf echter Einsicht beruht
habe. Dass die Vormundschaftsbehörde den Berufungskläger vorlud, um mit
ihm die Frage der Anordnung vormundschaftlicher Massnahmen zu erörtern,
war angesichts der andauernden Trunksucht und deren Auswirkungen
sicher gerechtfertigt. Das Entmündigungsbegehren ist daher als gültig
zu betrachten.

Erwägung 3

    3.- In objektiver Hinsicht verlangt Art. 372 ZGB für eine Entmündigung
sodann Altersschwäche, andere Gebrechen oder Unerfahrenheit. Die Vorinstanz
stellt diesbezüglich fest, der Berufungskläger leide seit Jahrzehnten
unter Alkoholismus; von 1963 bis 1977 habe er sechsmal für eine Dauer
von bis zu sechs Wochen wegen Alkoholmissbrauchs in der Psychiatrischen
Klinik Breitenau interniert werden müssen; Perioden der Mässigung und
der Arbeitsintensität hätten stets abgewechselt mit solchen, in denen
er wegen seiner Trunksucht Arbeit und Halt verloren habe; Antabuskuren
hätten, wenn überhaupt, nur zu zeitlich beschränkten Erfolgen geführt.

    In diesem Alkoholmissbrauch kann ohne Verletzung von Bundesrecht ein
"anderes Gebrechen" im Sinne von Art 372 ZGB erblickt werden (BGE 54 II
240/241; vgl. auch BGE 78 II 8; EGGER, N. 10 zu Art. 372 ZGB; ISENSCHMID,
aaO S. 50). Ob daneben auch eine Tablettenabhängigkeit bestehe und ob
sich die Persönlichkeit des Berufungsklägers infolge seiner Lebensweise
sukzessive abbaue, kann unter diesen Umständen dahingestellt bleiben.

Erwägung 4

    4.- Endlich darf eine Entmündigung auf eigenes Begehren nur
ausgesprochen werden, wenn der zu Entmündigende seine Angelegenheiten
nicht gehörig zu besorgen vermag. Wie bei der zwangsweisen Entmündigung
nach Art. 370 ZGB genügt auch bei der Entmündigung auf eigenes Begehren die
Trunksucht für sich allein nicht, wenn sie nicht ein soziales Versagen des
Schutzbedürftigen zur Folge hat. Über diese zusätzliche Voraussetzung der
Entmündigung lässt sich dem angefochtenen Entscheid nichts entnehmen. Der
Berufungskläger hat jedoch schon im kantonalen Verfahren behauptet, er
habe seine Verpflichtungen stets erfüllt, sei nie betrieben worden und
habe nie Fürsorgeleistungen bezogen; seine Stellen habe er stets selbst
gesucht und gefunden; in die Heilstätte für Alkoholkranke in Ellikon sei
er aus eigenem Antrieb eingetreten; den Aufenthalt in dieser Anstalt habe
er aus eigenen Ersparnissen bezahlt; er sei daher sehr wohl in der Lage,
seine Angelegenheiten selber zu besorgen. Wie es sich damit verhält, hat
die Vorinstanz nicht abgeklärt. Die Sache ist daher zur Prüfung dieser
Frage an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sollten sich die Behauptungen des
Berufungsklägers als richtig erweisen, so darf dieser nicht entmündigt
werden. Ein anderer Entscheid liesse sich höchstens dann in Erwägung
ziehen, wenn es zuträfe, dass der Berufungskläger nur deswegen nicht in
Schulden geraten ist, weil er als 41jähriger Mann immer noch gratis bei
seinen Eltern wohnt, die ihm in finanzieller und persönlicher Hinsicht
alle notwendige Fürsorge gewähren, worauf einige Aktennotizen des
Alkoholfürsorgers hinzudeuten scheinen. Auch diesem Umstand wird die
Vorinstanz nachzugehen haben.