Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 II 131



106 II 131

24. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 10. Juni 1980 i.S.
Konkursmasse der B. AG und Mitbeteiligte gegen A. (Berufung) Regeste

    Art. 39 OR.

    Der Billigkeitsentscheid des Art. 39 Abs. 2 OR ist nicht ein Entscheid
nach Belieben des Richters. Er hat in Berücksichtigung aller wesentlichen
Umstände zu ergehen (E. 5c).

Sachverhalt

    A.- A. war während 18 Jahren in einer Sattlerei angestellt.
Auf den 1. Januar 1970 kaufte er von X. das Geschäftsinventar und am
8. Juli 1970 schloss er mit der Erbengemeinschaft Z. einen Mietvertrag
über das Werkstattgebäude. Die Vertragsdauer wurde mit 15 Jahren,
der jährliche Mietzins mit Fr. 3'600.-- vereinbart. Für die sieben
Mitglieder der Erbengemeinschaft unterzeichneten die Miterben X. und
Y. den Vertrag. Die Erbengemeinschaft verkaufte das Mietobjekt im April
1972 frei von Mietverträgen an die B. AG. Sie hatte A. zuvor mit dem
Hinweis gekündigt, es fehle an einem rechtsgültigen Mietvertrag.

    Am 13. Mai 1975 schloss die B. AG mit A. eine Vereinbarung. Darin
versprach der Mieter die Räumung des Mietobjektes bis zum 5. Juni 1975. Die
B. AG bezahlte ihm Fr. 50'000.-- und übernahm die allfällige Schuld der
Erbengemeinschaft Z. oder von X. und Y. wegen der Nichtüberbindung des
Mietvertrags bzw. aus dessen Abschluss. Zur Sicherung hatte die B. AG
ein Sperrkonto über Fr. 80'000.-- zu errichten. Im übrigen sollten die
Ansprüche des Mieters auf Klage der B. AG prozessual abgeklärt werden,
wobei die bezahlten Fr. 50'000.-- und die garantierten Fr. 80'000.--
entsprechend dem Prozessausgang zurückbezahlt oder beansprucht werden
sollten. Die Stiftung C., der die Liegenschaft im März 1975 verkauft worden
war, trat dieser Vereinbarung nachträglich bei und leistete anstelle der
insolvent gewordenen B. AG die Garantie.

    B.- Im Oktober 1975 erhoben die Konkursmasse der B. AG und die
Stiftung C. gegen A. Klage. Das Handelsgericht des Kantons Zürich
wies das Begehren auf Rückzahlung der Fr. 50'000.-- an die Klägerin 1
am 19. Dezember 1978 ab. Hingegen wurde ein zweites Rechtsbegehren
in dem Sinn teilweise gutgeheissen, dass die Klägerin 2 aus ihrer
Garantieerklärung vom Beklagten für Fr. 20'000.-- in Anspruch genommen
werden kann, während dieser die restliche Garantie über Fr. 60'000.--
zurückzugeben hat.

    Das Bundesgericht heisst die von den Klägerinnen erklärte Berufung
teilweise gut, hebt das Urteil des Handelsgerichts auf und weist die Sache
zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- Damit steht die Schadenersatzpflicht von X. und Y. bzw.
der Klägerinnen fest. Nach Art. 39 Abs. 1 OR hat der Beklagte Anspruch
auf Ersatz des negativen Vertragsinteresses (BGE 90 II 413 E. 5a). Die
Vorinstanz anerkennt unter diesem Titel drei Positionen von insgesamt
Fr. 11'581.--; dieser Betrag ist unbestritten.

    Streitig sind dagegen die Fr. 58'419.--, die das Handelsgericht in
Anwendung von Art. 39 Abs. 2 OR als Ersatz weiteren Schadens zugesprochen
hat. Nach dieser Bestimmung kann der Richter bei Verschulden des
Vertreters, sofern es der Billigkeit entspricht, auch das positive
Vertragsinteresse zusprechen. Damit kann der Beklagte im günstigsten
Fall so gestellt werden, wie wenn der Vertrag mit ihm erfüllt worden wäre
(BUCHER, OR, S. 589; VON TUHR/PETER, OR, S. 403).
   a) (Ausführungen über das Verschulden der beiden vollmachtlosen
   Vertreter.)

    b) Erst wenn der Nachweis eines Schadens erbracht ist, stellt sich
überhaupt die Frage, inwieweit er nach Billigkeit zu ersetzen sei. Der
Beklagte behauptet einen Schaden von insgesamt Fr. 205'001.--. Nach
dem angefochtenen Urteil ist diese Berechnung von den Klägerinnen nicht
genügend substanziert bestritten worden, weshalb darüber auf Grund der
Akten zu entscheiden sei. Es kann offenbleiben, ob dies zutrifft und vor
Bundesrecht standhält, denn jedenfalls hat das Handelsgericht in keiner
Weise über das streitige Schadensquantitativ befunden. Es begnügt sich mit
den Hinweisen, dass der Umzug der Sattlerei 1970 mit kleinerem Aufwand
verbunden und die Umbauten billiger gewesen wären als fünf Jahre später
und dass der Schadensberechnung ein zu hoher Mietzins für das Ersatzobjekt
zugrunde liege. "Bei Berücksichtigung aller dieser Umstände" rechtfertige
es sich, "den Umfang des zu ersetzenden Schadens" auf Fr. 70'000.-- statt
der geforderten Fr. 205'001.-- festzusetzen. Damit ist weder erklärt,
wie die Vorinstanz auf diesen Betrag kommt, noch dargelegt, ob damit
der Schaden des Beklagten voll oder teilweise gedeckt werde. Erst recht
entspricht dieser Entscheid nicht allein schon deshalb der Billigkeit, weil
statt der begehrten Fr. 205'001.-- nur Fr. 70'000.-- zugesprochen wurden.

    c) Der Billigkeitsentscheid des Art. 39 Abs. 2 OR ist nicht ein
Entscheid nach Belieben des Richters. Er hat vielmehr in Berücksichtigung
aller wesentlichen Umstände zu ergehen (BGE 70 I 219; MEIER-HAYOZ, N. 46
und 48 zu Art. 4 ZGB; DESCHENAUX, in Schweizerisches Privatrecht II, S. 131
f. und 139 f.). An die Begründung derartiger Ermessensentscheide sind sogar
höhere Anforderungen zu stellen als bei gewöhnlichen Entscheidungen (BGE
104 Ia 213). Ob das Ergebnis Recht und Billigkeit entspricht, ist eine
Frage der rechtlichen Beurteilung von Tatsachen und unterliegt daher im
Berufungsverfahren der freien Prüfung durch das Bundesgericht (MEIER-HAYOZ,
N. 76 zu Art. 4 ZGB; DESCHENAUX, aaO, S. 142; BIRCHMEIER, Handbuch des
OG, S. 118). Eine solche Prüfung ist jedoch auf Grund der tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz ausgeschlossen. Das angefochtene Urteil ist
deshalb aufzuheben und die Sache zur Vervollständigung des Sachverhalts
an das Handelsgericht zurückzuweisen (Art. 64 Abs. 1 OG). Dieses wird
nicht nur die erforderlichen Feststellungen zur Schadenshöhe treffen,
sondern auch darlegen müssen, wieweit und aus welchen Gründen dessen
Ersatz der Billigkeit entspricht. Dabei wird auch zu berücksichtigen
sein, dass der Beklagte während etwa fünf Jahren von den ausgesprochen
vorteilhaften Bedingungen des ungültigen Mietvertrages profitiert hat.