Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IB 47



106 Ib 47

9. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 7. März 1980 i.S. Rüedi gegen Regierung des Kantons Graubünden
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Einzäunung von Wald und Weide; Art. 699 ZGB und Art. 3 Abs. 1 FPolV.

    1. Art. 699 ZGB stellt eine sog. Doppelnorm dar, d.h. einen Rechtssatz,
der zugleich öffentlichrechtliche und privatrechtliche Vorschriften enthält
(Bestätigung der Rechtsprechung) (E. 4a).

    2. Das Gemeinwesen kann die Einzäunung von Wald und Weide untersagen;
in bezug auf die Weide lässt sich das Einzäunungsverbot direkt auf den
öffentlichrechtlichen Gehalt von Art. 699 ZGB stützen; die Einzäunung von
Wald kann aufgrund von Art. 3 Abs. 1 FPolV, der die Grundlage seinerseits
in Art. 699 ZGB findet, verboten werden. Begriff der Einzäunung (E. 4c,
5).

    3. Ausnahmen vom Verbot der Einzäunung von Wald und Weide (E. 4d).

Sachverhalt

    A.- Max Rüedi ist Eigentümer eines ca. 10 ha grossen, hauptsächlich
aus Wald und Weide bestehenden Grundstücks auf dem Gebiet der Gemeinden
Tamins und Trin. Er stellte bei der Regierung des Kantons Graubünden das
Gesuch, es sei ihm zu gestatten, dieses Grundstück einzuzäunen, denn
er beabsichtigte darauf im Rahmen eines Versuchsprogramms Rothirsche
zur Fleischgewinnung zu halten. Die Regierung wies das Gesuch mit
der Begründung ab, die geplante Einzäunung widerspreche Art. 3 der
Vollziehungsverordnung zum Bundesgesetz betreffend die eidgenössische
Oberaufsicht über die Forstpolizei (FPolV), wonach Einzäunungen von
Waldgrundstücken oder Teilen davon nur im Interesse der Erhaltung
des Waldes zulässig seien. Die vorgesehene Einzäunung verletze ferner
Art. 699 ZGB, denn das öffentliche Interesse am freien Zutritt zu einer
sehr schönen Landschaft mit Aussichtspunkten und einer reichen Flora müsse
als gross bewertet werden. In einer Interessenabwägung kam die Bündner
Regierung zum Schluss, die Nachteile einer Einzäunung fielen stärker ins
Gewicht, als der wenig Erfolg versprechende Versuch einer Verbesserung
des landwirtschaftlichen Einkommens durch Rothirschbewirtschaftung. Mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde verlangt Rüedi die Aufhebung des Entscheides
der Regierung des Kantons Graubünden und die Bewilligung zur Einzäunung
seines Grundstückes. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Nach Art. 699 ZGB sind das Betreten von Wald und Weide und die
Aneignung wildwachsender Beeren, Pilze und dergleichen in ortsüblichem
Umfange jedermann gestattet, soweit nicht im Interesse der Kulturen
seitens der zuständigen Behörde einzelne bestimmt umgrenzte Verbote
erlassen werden.

    a) In BGE 96 I 102 entschied das Bundesgericht, Art. 699 ZGB
stelle eine Doppelnorm dar, das heisst einen Rechtssatz, der zugleich
öffentlichrechtliche und privatrechtliche Vorschriften enthalte. Als
privatrechtliche Vorschrift regle Art. 699 ZGB die Beziehungen zwischen dem
Eigentümer und den Spaziergängern, bzw. Beeren- und Pilzsuchern. Aufgrund
der öffentlichrechtlichen Vorschrift in dieser Bestimmung seien die
Behörden ermächtigt, von Amtes wegen über den freien Zutritt zu Wald und
Weide zu wachen. Das Bundesgericht begründete diese Auslegung vor allem
mit der Feststellung, dass dem Wald als Erholungsraum wachsende Bedeutung
zukomme und dass der privatrechtliche Anspruch auf freien Zutritt zu
diesem nur erhalten werden könne, wenn Art. 699 ZGB den Behörden eine
solche Kompetenz einräume.

    Da diese Interpretation von Art. 699 ZGB von der Lehre zum Teil
kritisiert worden ist (vgl. PETER LIVER, Schweizerisches Privatrecht,
Bd. V/1, S. 279; HANS HUBER, Die staats- und verwaltungsrechtliche
Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1970, ZbJV 107/1971, S. 373),
liess das Bundesgericht kürzlich die Frage offen, ob Art. 699 ZGB neben
der privatrechtlichen auch eine öffentlichrechtliche Bedeutung zukomme
(BGE 105 Ib 278 E. 2b). Diese Frage brauchte nicht entschieden zu werden,
weil das Bundesgericht im zitierten Fall davon ausging, ein Verbot der
Einzäunung von Wald könne auf Art. 3 FPolV gestützt werden.

    LIVER (aaO) hat die Rechtsprechung von BGE 96 I 97 mit dem Hinweis
kritisiert, dass dem ZGB die Konstruktion der Doppelnorm fremd sei. Dies
trifft bei Art. 699 ZGB für dessen Entstehungszeit zu. Das Bundesgericht
hat darum in BGE 96 I 101 darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber mit
Art. 699 ZGB in erster Linie das Verhältnis zwischen gleichgeordneten
Rechtssubjekten, das dem Privatrecht angehört, regeln wollte. Im
Rahmen einer geltungszeitlichen Auslegung kam es aber zum Schluss,
dass dieser Bestimmung heute auch eine öffentlichrechtliche Vorschrift
entnommen werden müsse, die den Eigentümer von Wald und Weide in eine
unmittelbare Beziehung zum Gemeinwesen setze. Diese Rechtsprechung ist
überzeugend, denn der freie Zutritt zu Wald und Weide ist wesentlich, um
der Bevölkerung angesichts der zunehmenden Verstädterung den notwendigen
Erholungsraum zu erhalten. Das Recht des freien Zutritts, das Art.
699 ZGB "jedermann" einräumt kann aber nur wirksam geschützt werden,
wenn aus dieser Bestimmung eine öffentlichrechtliche Vorschrift entnommen
werden kann, die das Gemeinwesen ermächtigt, über die Gewährung des freien
Zutritts von Amtes wegen zu wachen. Ein zivilrechtliches Verfahren kann
dem freien Zutritt hingegen kaum den notwendigen Schutz verleihen, denn
es ist unwahrscheinlich, dass die einzelnen Spaziergänger gegen Eigentümer
klagen, die ihren Wald oder ihre Weide einzäunen.

    LIVER (aaO) bezweifelt im übrigen, ob der Eingriff in das
Privateigentum, der sich durch die öffentlichrechtliche Bedeutung von
Art. 699 ZGB ergibt, vor dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit standhalte.
Mit diesem Einwand wird geltend gemacht, die Interpretation von Art. 699
ZGB, welche eine öffentlichrechtliche Vorschrift aus dieser Bestimmung
ableite, sei möglicherweise nicht verfassungskonform, d.h. stehe unter
Umständen im Widerspruch zum Verhältnismässigkeitsprinzip, das sich aus
Art. 22ter BV ergibt. Diese Zweifel sind jedoch unbegründet, denn die
öffentlichrechtliche Vorschrift, die Art. 699 ZGB entnommen wird, verleiht
nur den Anspruch auf freien Zutritt zu Wald und Weide einen Schutz, ohne
den dieser Anspruch illusorisch würde. Die Eigentumsbeschränkung, die
sich aber aus dem "jedermann" zustehenden freien Zutritt ergibt, ist für
das Bundesgericht bindend und kann nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit
hin geprüft werden. (Art. 113 Abs. 3, 114bis Abs. 3 BV.) Im übrigen gilt
das Recht auf freien Zutritt und das sich daraus ergebende Verbot der
Einzäunung von Wald und Weide nach Art. 699 ZGB nicht ohne Ausnahme.

    b) Im vorliegenden Fall besteht das Land, das der Beschwerdeführer
einzäunen möchte, hauptsächlich aus Wald und Weide. In bezug auf den Wald
schützt sowohl Art. 699 ZGB als auch Art. 3 FPolV den freien Zutritt. Die
letztere Bestimmung bildet eine lex specialis. Sie ist somit grundsätzlich
auf die bewaldeten Teile des Grundstückes, dessen Einzäunung vorliegend zu
beurteilen ist, anwendbar, soweit sie sich auf eine genügende gesetzliche
Grundlage stützen lässt. Die Einzäunung der Weide ist hingegen unter
dem Gesichtspunkt von Art. 699 ZGB zu beurteilen, der sich auf "Wald und
Weide" bezieht.

    c) Im Folgenden ist zu untersuchen, unter welchen Umständen eine
Einzäunung das Recht auf freien Zutritt gemäss Art. 699 ZGB verletzt. In
BGE 96 I 103 f. hat das Bundesgericht ausgeführt, die kantonalen
Behörden könnten ohne Willkür davon ausgehen, dass ein mannshoher Zaun
mit Art. 699 ZGB in Widerspruch stehe. Dies treffe auch dann zu, wenn
im Zaun unverschlossene Tore bestünden und mit Tafeln auf deren freie
Benutzung hingewiesen werde. Nach der Lehre verbietet Art. 699 ZGB nur
eigentliche Einfriedungen; leichte Einhegungen; die in Übereinstimmung mit
dem Ortsgebrauch errichtet worden und bestimmt seien, das Entlaufen des
Viehs zu verhindern, würden nicht von diesem Verbot betroffen, da sie den
freien Zutritt der Spaziergänger nicht verhinderten (TUOR/SCHNYDER, ZGB,
9. Auflage (Nachdruck 1979), S. 613; HAAB, Kommentar N. 5 zu Art. 699
ZGB; LEEMANN, Kommentar N. 10 zu Art. 699 ZGB). Dieser Auffassung ist
zuzustimmen.

    Im vorliegenden Fall ist eine hohe und feste Einzäunung vorgesehen,
welche nicht mit Einhegungen verglichen werden kann, welche das
herkömmlicherweise in landwirtschaftlichen Betrieben gehaltene Vieh am
Entlaufen hindert und den Spaziergängern dennoch gestattet, Wald und
Weide zu durchqueren. Die vom Beschwerdeführer vorgesehene Einzäunung ist
daher nicht mit dem freien Zutritt gemäss Art. 699 ZGB vereinbar. Dies
wäre insbesondere auch dann nicht der Fall, wenn der Zutritt zum
Hirschgehege nur gegen Errichtung eines Eintrittspreises gestatten würde
(vgl. Aktennotiz des Jagd- und Fischereiinspektorats Graubünden über eine
Besprechung mit dem Beschwerdeführer vom 7. Dezember 1978).

    d) Da die geplante Einzäunung nach Art. 699 ZGB grundsätzlich
unzulässig ist, muss geprüft werden, ob die Vorinstanz eine
Ausnahmebewilligung für diese Einzäunung hätte erteilen dürfen. Nach
Art. 699 ZGB kann die zuständige kantonale Behörde das Recht auf freien
Zutritt im Interesse der Kulturen mit einzelnen bestimmt umgrenzten
Verboten einschränken. Nach der Doktrin können im öffentlichen Interesse
aber auch andere Einschränkungen des freien Zutritts angeordnet
werden. Anerkannt sind z.B. Verbote zur Abwehr einer überbordenden
Ausübung des Zutrittsrechtes (LEEMANN, Kommentar N. 12 zu Art. 699 ZGB;
HAAB, Kommentar N. 10 zu Art. 699 ZGB; MEIER-HAYOZ, Kommentar N. 39 ff. zu
Art. 699 ZGB).

    Es ist auch denkbar, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse die
Einschränkung des freien Zutritts, welche die Errichtung eines Wildparks
mit sich bringt, rechtfertigt. Ein solches überwiegendes öffentliches
Interesse könnte möglicherweise angenommen werden, wenn ein Wildpark -
wie im vorliegenden Fall - als Attraktion für den Fremdenverkehr betrachtet
wird und wenn mit den im Park gehaltenen Tieren ein Versuch zur Erweiterung
der Lebensmittelproduktion und zur Verbesserung der Existenzgrundlage
von verschiedenen Landwirten beabsichtigt wird.

    Da weder im Bundesrecht noch im kantonalen Recht spezielle
Vorschriften bezüglich der Errichtung solcher Wildparks bestehen,
stand der Vorinstanz im vorliegenden Fall ein grosses Ermessen zu,
als sie zu entscheiden hatte, ob die Errichtung des beantragten
Wildparks eine Ausnahme von der Regel des freien Zutritts gemäss
Art. 699 ZGB rechtfertigt. Bei dieser Interessenabwägung ist die
Vorinstanz weder in rechtlicher noch tatsächlicher Hinsicht von falschen
Voraussetzungen ausgegangen. Zwar sind die von der Vorinstanz geäusserten
seuchenpolizeilichen Bedenken nach den Darlegungen des Bundesamtes für
Veterinärwesen kaum berechtigt. Diese Bedenken waren für den angefochtenen
Entscheid jedoch nicht ausschlaggebend. Für die Vorinstanz war vor allem
die Ungewissheit der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit der geplanten
Rothirschzucht massgebend. Diese Beurteilung der Wirtschaftlichkeit des
fraglichen Betriebs deckt sich im übrigen mit derjenigen des Bundesamtes
für Landwirtschaft. Unter diesen Umständen durfte die Vorinstanz, selbst
wenn ein anderer Ausgang denkbar gewesen wäre, zum Schluss kommen,
dass ein Versuch mit unsicherem wirtschaftlichem Erfolg kein genügendes
öffentliches Interesse darstelle, um den freien Zutritt im Sinne von
Art. 699 ZGB zu einem als landschaftlich besonders schön bezeichneten
Gebiet zu beschränken oder auszuschliessen. Mit diesem Entscheid hat die
Vorinstanz ihr Ermessen weder überschritten noch missbraucht.

Erwägung 5

    5.- Die Einzäunung des Waldes, welcher in den Wildpark einbezogen
würde, ist, wie oben ausgeführt, nach Art. 3 Abs. 1 FPolV zu
beurteilen. Diese Bestimmung lautet:

    "Die Einzäunung von Waldgrundstücken oder Teilen davon ist nur im

    Interesse des Waldes zulässig (Art. 31 des Gesetzes). Die Vorschriften
des

    Schweizerischen Zivilgesetzbuches über das Betreten von Wald und Weide
   (Art. 699) sind vorbehalten."

    Die Bestimmung findet ihre gesetzliche Grundlage im
öffentlichrechtlichen Gehalt von Art. 699 ZGB. Das Bundesgericht hat in BGE
105 Ib 278 E. 2b ausgeführt, Art. 3 Abs. 1 FPolV könne auch auf Art. 31
FPolG betreffend die Erhaltung des Waldareals gestützt werden. Ausnahmen
vom Einzäunungsverbot in Art. 3 Abs. 1 FPolV sind nach dem Wortlaut dieser
Bestimmung nur "im Interesse des Waldes" zulässig. Diese Ausnahmeregel
ist jedoch aus Gründen der Verhältnismässigkeit analog zu den bei Art. 699
ZGB gewährten Ausnahmen vom freien Zutritt zu Weiden auszulegen. In bezug
auf das vom Beschwerdeführer geplante Wildgehege bedeutet dies, dass
die Vorinstanz ohne Überschreitung oder Missbrauch ihres Ermessens aus
den Gründen die bereits gegen die Einzäunung der Weide gesprochen haben,
auch die Bewilligung für die Einzäunung des Waldes verweigern durfte.