Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IB 307



106 Ib 307

45. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 3.
Oktober 1980 i.S. Wagner gegen Bundesanwaltschaft und Eidg. Justiz-
und Polizeidepartement (Einsprache gemäss Auslieferungsgesetz) Regeste

    Art. 10 AuslG; Verbot der Auslieferung wegen politischer Delikte.

    1. Absolut politische Delikte stellen nur jene strafbaren Handlungen
dar, die gegen die politische und soziale Organisation des Staates
gerichtet sind und bei denen der Angriff auf den Staat zum objektiven
Tatbestand gehört (E. 3b).

    2. Wann liegt ein relativ politisches Delikt vor? (E. 3c.)

    3. Die dem Einsprecher zur Last gelegten, in der Bundesrepublik
Deutschland im Rahmen terroristischer Aktivitäten begangenen Straftaten
stellen weder absolut noch relativ politische Delikte dar (E. 3b und c).

Sachverhalt

    A.- Mit Schreiben vom 13. Dezember 1979 ersuchte die Bundesrepublik
Deutschland um die Auslieferung von Rolf Clemens Wagner, der unter anderem
verdächtigt ist, an der Entführung und Tötung von Hanns Martin Schleyer
sowie an der Tötung von vier Begleitpersonen Schleyers mitgewirkt
zu haben. Ferner wird ihm zur Last gelegt, an der Entführung der
Lufthansa-Maschine "Landshut" und der anschliessenden Nötigung Dritter
beteiligt gewesen zu sein. Anlässlich der Anhörung gemäss Art. 21 des
Bundesgesetzes betreffend die Auslieferung gegenüber dem Ausland vom
22. Januar 1892 (AuslG) machte der Verfolgte unter anderem geltend,
die ihm zur Last gelegten Straftaten stellten politische Delikte dar.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss Art. 3 Ziff. 1 EAUe wird die Auslieferung nicht
bewilligt, wenn die strafbare Handlung, derentwegen sie begehrt wird,
vom ersuchten Staat als eine politische oder als eine mit einer solchen
zusammenhängende strafbare Handlung angesehen wird. Das Europäische
Auslieferungsübereinkommen definiert den Begriff des politischen Delikts
nicht selber, sondern verweist hiefür auf das Recht des ersuchten Staates
(BGE 101 Ia 609 E. 9b; 64 E. 5b, 95 I 469 E. 7). Eine Präzisierung
ist im Übereinkommen einzig in Art. 3 Ziff. 3 enthalten (Angriff auf
das Leben eines Staatsoberhauptes), welche Bestimmung für die Schweiz
entsprechend dem bei der Ratifizierung gemachten Vorbehalt jedoch nicht
gilt. Es ist daher aufgrund des schweizerischen Auslieferungsgesetzes und
der schweizerischen Praxis zu entscheiden, ob die strafbaren Handlungen,
die dem Verfolgten zur Last gelegt werden, politische Delikte seien.

    b) Nach Art. 10 AuslG sind von der Auslieferung sowohl die absolut
oder rein politischen Delikte als auch die relativ politischen Delikte
ausgenommen. Absolut politische Delikte stellen jene strafbaren
Handlungen dar, die gegen die politische und soziale Organisation des
Staates gerichtet sind und bei denen der Angriff auf den Staat und dessen
grundlegende Einrichtungen zum objektiven Tatbestand gehört. Andere
strafbare Handlungen, bei denen diese zweite Voraussetzung nicht erfüllt
ist, stellen keine absolut politischen Delikte dar, selbst wenn sie
ebenfalls mit der Absicht verübt worden sind, die politische und soziale
Organisation des Staates zu beeinträchtigen oder zu zerstören. Massgebend
für die Qualifizierung einer strafbaren Handlung als absolut politisches
Delikt ist demnach nicht der Beweggrund oder das Ziel, mit welchem der
Täter das Verbrechen oder Vergehen verübt hat, sondern die Umschreibung
des objektiven Tatbestandes im Recht des ersuchten Staates, mithin das
geschützte Rechtsgut (vgl. SCHULTZ, Schweizerisches Auslieferungsrecht, S.
416, N. 48). Übrigens sind die absolut politischen Delikte in Art. 3
AuslG nicht aufgeführt (vgl. BGE 78 I 50; 59 I 145; 56 I 460).

    Der Einsprecher macht geltend, die ihm zur Last gelegten Straftaten
seien gegen die politische und soziale Organisation der Bundesrepublik
Deutschland gerichtet gewesen. Der Zweck der Entführung des deutschen
Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer habe nämlich einerseits darin
bestanden, einen prominenten politischen Gegner zu treffen, der das von der
RAF bekämpfte politische und wirtschaftliche System repräsentiert habe;
anderseits sei die Aktion darauf gerichtet gewesen, den Staat selber zu
bekämpfen und die Behörden zur Nichtanwendung der Gesetze zu zwingen. Diese
Umstände vermögen die strafbaren Handlungen, derentwegen die Auslieferung
beantragt wird, nicht zu absolut politischen Delikten zu machen. Es
handelt sich um Verbrechen und Vergehen gegen das Leben, die Freiheit,
das Vermögen und die öffentliche Gewalt, welche nach ihrem objektiven
Tatbestand nicht unmittelbar auf den Schutz der politischen und sozialen
Ordnung des Staates gerichtet sind. Sie entsprechen daher den erwähnten
Erfordernissen nicht. Der Verfolgte geht namentlich zu Unrecht davon
aus, dass die im 15. Titel des Strafgesetzbuches aufgeführten Verbrechen
und Vergehen (strafbare Handlungen gegen die öffentliche Gewalt) zu den
absolut politischen Delikten zu zählen seien. Dass das nicht zutrifft,
ergibt sich schon daraus, dass Tatbestände dieses Titels in Art. 3 AuslG
als Auslieferungsdelikte aufgeführt sind (vgl. Art. 3 Ziff. 35 und 36
AuslG). Es kann sich daher nur fragen, ob die dem Einsprecher zur Last
gelegten Straftaten relativ politische Delikte seien.

    c) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts stellt ein
gemeinrechtliches Verbrechen oder Vergehen dann ein relativ politisches
Delikt dar, wenn die Handlung nach den Umständen, namentlich nach
den Beweggründen und Zielen des Täters, einen vorwiegend politischen
Charakter hat. Ein vorwiegend politischer Charakter ist anzunehmen, wenn
die strafbare Handlung im Rahmen eines Kampfes um die Macht im Staate
erfolgte oder wenn sie verübt wurde, um jemanden dem Zwang eines jede
Opposition ausschliessenden Staates zu entziehen. Zwischen solchen Taten
und den angestrebten Zielen muss eine enge, direkte und klare Beziehung
bestehen. Darüber hinaus ist erforderlich, dass die Verletzung fremder
Rechtsgüter in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten politischen
Ziel steht und dass die im Spiele stehenden Interessen wichtig genug sind,
um die Tat mindestens einigermassen verständlich erscheinen zu lassen
(BGE 106 Ia 301 E. 4; 101 Ia 605 E. 7; 425 E. 6b; 64 E. 5b; 95 I 469
f.; 92 I 118 f. mit Hinweisen). Hat der Auszuliefernde vorsätzlich einen
Menschen getötet, so ist ein angemessenes Verhältnis zwischen der Tat und
dem verfolgten Ziel nur dann gegeben, wenn die Handlung das einzige Mittel
ist, um die im Spiele stehenden, elementaren Interessen zu wahren und das
gesetzte politische Ziel zu erreichen (BGE 90 I 300; 87 I 137). So kann
die Tötung eines Menschen, die im Rahmen eines Bürgerkrieges oder eines
offenen bewaffneten Konflikts erfolgt ist, auslieferungsrechtlich als
angemessenes Mittel erscheinen (vgl. BGE 50 I 299; 49 I 200), während
sie als unverhältnismässiges Mittel zu gelten hat, wenn sie ausserhalb
eines solchen Konflikts erfolgt ist und das Opfer in der staatlichen
Organisation nur eine untergeordnete Stellung besessen hat (vgl. BGE 54 I
207). Für die auslieferungsrechtliche Anerkennung als politisches Delikt
ist in der Regel zudem erforderlich, dass der Täter erwarten konnte, dass
sich seine Handlung nicht in der Tötung erschöpfe, sondern darüber hinaus
eine Veränderung der politischen und sozialen Organisation des Staates
zur Folge habe. In diesem Sinne kann die Tötung eines Menschen als relativ
politisches Delikt gelten, wenn das Opfer praktisch das politische System
des Staates verkörpert und die Annahme gerechtfertigt ist, sein Tod werde
eine Veränderung der politischen und sozialen Organisation des Staates
nach sich ziehen (BGE 90 I 301; vgl. auch FELCHLIN, Das politische Delikt,
Diss. Zürich 1979, S. 318 ff., 337, 343).

    Im vorliegenden Fall lässt sich nicht in Abrede stellen, dass
die strafbaren Handlungen, die dem Verfolgten zur Last gelegt werden,
einen politischen Beweggrund haben. Wie der Einsprecher dargelegt hat,
bezwecken die Mitglieder der RAF, die politische und soziale Struktur
der Bundesrepublik Deutschland zu erschüttern und zu zerstören. Es kann
jedoch nicht gesagt werden, dass die begangenen strafbaren Handlungen
in einem angemessenen Verhältnis zum gesetzten politischen Ziel ständen
und dass die im Spiele stehenden Interessen wichtig genug seien, um die
Taten als mindestens einigermassen verständlich erscheinen zu lassen. Die
strafbaren Handlungen und namentlich die begangenen Tötungsdelikte wurden
weder im Rahmen eines Bürgerkrieges oder eines offenen bewaffneten Kampfes
begangen, noch dienten sie dazu, jemanden dem Zwang eines jede Opposition
ausschliessenden Staates zu entziehen. Es lässt sich schon aus diesem
Grunde nicht sagen, dass die Taten einen vorwiegend politischen Charakter
hätten und damit als relativ politische Delikte von der Auslieferung
ausgeschlossen seien (vgl. auch nicht veröffentlichtes Urteil vom 12. April
1978 i.S. Gratt und Kepplinger, wo die Entführung eines Industriellen
und die Erpressung eines Lösegelds, das der Finanzierung terroristischer
Aktivitäten diente, nicht als relativ politisches Delikt anerkannt wurde).