Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IB 231



106 Ib 231

35. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
9. Juli 1980 i.S. Hüsler, Nydegger und Ruf gegen Staat Bern und Eidg.
Schätzungskommission, Kreis 6 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 5 EntG; Enteignung von Nachbarrechten, Entzug von Licht und
Sonnenschein.

    Voraussetzungen zur Eröffnung eines bundesrechtlichen
Enteignungsverfahrens (E. 2).

    Neben den Abwehransprüchen gemäss Art. 684 ZGB können auch die
Abwehrrechte des Nachbarn, die diesem aufgrund der nach Art. 686 ZGB
den Kantonen vorbehaltenen privatrechtlichen Bestimmungen zustehen,
Enteignungsobjekt im Sinne von Art. 5 EntG bilden (Bestätigung der
Rechtsprechung; E. 3).

    Die sog. negativen Immissionen stellen nach ständiger Rechtsprechung
keine Einwirkungen im Sinne von Art. 684 ZGB dar. Frage offengelassen,
ob diese Rechtsprechung, der Kritik folgend, zu ändern sei (E. 3 b-aa).

    Art. 130 der bernischen Bauverordnung ist eine gemischt-rechtliche
Bestimmung; die sich aus ihr ergebenden Abwehr- und Entschädigungsansprüche
sind im Hinblick auf Art. 5 EntG den Nachbarrechten gleichzustellen, die
den Grundeigentümern gestützt auf Art. 686 ZGB im kantonalen Privatrecht
eingeräumt werden (E. 3 b-cc).

Sachverhalt

    A.- Die Nationalstrasse N 1 überquert im Norden der Stadt Bern auf
einem 40-50 m hohen Viadukt, der Felsenaubrücke, das Aaretal. Die Brücke
wurde am 4. September 1975 dem Verkehr übergeben.

    Unter bzw. unmittelbar nördlich der Felsenaubrücke liegen am Aareabhang
die je mit einem Einfamilienhaus überbauten Parzellen Nr. 1692, 1755 und
2132 von Ruth Hüsler (Engerain Nr. 12), Erwin Nydegger (Engerain Nr. 14)
und Johanna Ruf (Engerain Nr. 46). Die Eigentümer dieser Grundstücke
wandten sich am 30. Juli 1976 an die Schätzungskommission, Kreis 6, mit dem
Begehren, der Staat Bern sei zu verpflichten, ihnen den durch die Brücke
entstehenden Schaden zu ersetzen. Der Staat Bern widersetzte sich diesem
Antrag an sich nicht und anerkannte, dass das Autobahnamt seit September
1974 mit den Grundeigentümern verhandelt habe und es daher dem Grundsatz
von Treu und Glauben widerspräche, Verwirkung der Entschädigungsansprüche
geltend zu machen. Er erklärte sich auch mit der Beurteilung der Begehren
durch die Schätzungskommission ausdrücklich einverstanden und stellte
die Festsetzung der Entschädigung für die durch Schattenwurf entstandenen
Nachteile in deren Ermessen.

    Die Schätzungskommission sprach den drei Grundeigentümern am
3. November 1977 für den Minderwert ihrer Liegenschaften eine Entschädigung
von Fr. 15'000.-- (Ruth Hüsler) bzw. Fr. 17'000.-- (Erwin Nydegger und
Johanna Ruf) und für Inkonvenienzen (Störung des Fernsehempfanges) je
Fr. 2'000.-- zu. In ihrem Entscheid führt die Kommission im wesentlichen
aus, dass den Gesuchstellern für die Beeinträchtigung der Aussicht kein
Entschädigungsanspruch zustehe und der von der Autobahn ausgehende Lärm zu
bescheiden sei, als dass er eine Entwertung der Liegenschaften bewirken
könnte. Dagegen entstünde durch den Schattenwurf eine Beeinträchtigung,
die gesamthaft als schwer und übermässig zu bezeichnen sei. Zudem wirke
die Felsenaubrücke wie ein Betonkoloss, der völlig aus dem Rahmen der
bestehenden Überbauung falle, was für die Bewohner des Engerains zu
weiteren schwerwiegenden Nachteilen führe.

    Die drei Grundeigentümer haben gegen den Entscheid der
Schätzungskommission Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht
und volle Entschädigung verlangt. Das Bundesgericht erhöht die
Minderwertsentschädigungen auf einen Drittel des Verkehrswertes der
einzelnen Liegenschaften.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Da das Bundesgericht in bundesrechtlichen Enteignungsverfahren
das Recht von Amtes wegen anzuwenden und zudem seine Aufsichtspflichten
wahrzunehmen hat (Art. 63 EntG), ist im vorliegenden Fall zunächst
zu prüfen, ob die formellen Voraussetzungen zur Eröffnung
eines Enteignungsverfahrens überhaupt erfüllt waren, ob die
Entschädigungsansprüche der Enteigneten nicht bereits verwirkt waren
sowie ob und inwieweit die Schätzungskommission in der Sache selbst zum
Entscheid zuständig war (BGE 101 Ib 281 E. 1 und 3a, 99 Ib 485 E. 2a,
96 I 192 E. 3; vgl. auch BGE 105 Ib 12 E. 3a, 101 Ib 350).

Erwägung 2

    2.- a) In der Regel kann einzig das Unternehmen, das mit dem
Enteignungsrecht ausgestattet oder welchem dieses noch zu verleihen
ist, den Präsidenten der Schätzungskommission um Einleitung
eines Enteignungsverfahrens ersuchen. Die Privaten können ihre
Entschädigungsforderungen erst dann bei der Schätzungskommission anmelden,
wenn das formelle Verfahren bereits eröffnet worden ist, d.h. wenn eine
öffentliche Planauflage im Sinne von Art. 30 EntG stattgefunden hat oder
ihnen im abgekürzten Verfahren nach Art. 33 f. EntG eine persönliche
Anzeige zugestellt worden ist (BGE 102 Ib 58 E. 3a, 101 Ib 284 E.
3a mit Verweisungen). Dass der Private auf anderem Wege - durch ein
entsprechendes Begehren an den Werkeigentümer selbst oder an die zur
Erteilung des Enteignungsrechtes zuständige Behörde - allenfalls eine
Verfahrenseröffnung bewirken kann, ändert an dieser Regelung nichts und
berechtigt die Schätzungskommission jedenfalls nicht, dem Antrag eines
Privaten auf Einleitung eines Enteignungsverfahrens stattzugeben. Eine
Ausnahme gilt nur für die Fälle materieller Enteignung, in denen das
Gesetz den Privaten ausdrücklich ermächtigt, seine Ersatzansprüche direkt
der Schätzungskommission zu unterbreiten (BGE 102 Ib 59 E. 3b, 101 Ib
284 E. 3b, nicht publ. Entscheide vom 21. Februar 1979 i.S. Berger und
i.S. Koch; s.a. BGE 105 Ib 11 E. 2b).

    b) Aus den Akten ergibt sich nicht, ob seinerzeit die für den Bau der
Felsenaubrücke benötigten Rechte in einem formellen Enteignungsverfahren
mit öffentlicher Planauflage erworben worden sind. Dieser Punkt bedarf
jedoch keiner weiteren Abklärung, da er unter den hier gegebenen Umständen
weder für die Frage nach den Voraussetzungen zur Verfahrenseinleitung
noch für jene der Verwirkung der Entschädigungsansprüche ausschlaggebend
sein kann:

    Ist bisher kein Verfahren mit öffentlicher Planauflage durchgeführt
worden, so hätte zwar der Kanton als Werkeigentümer selbst die
Schätzungskommission um Eröffnung eines Verfahrens zur Beurteilung
der angemeldeten Entschädigungsansprüche ersuchen müssen. Der Staat
Bern hat jedoch in seiner Vernehmlassung zur Forderungseingabe der
Grundeigentümer der Verfahrenseinleitung ausdrücklich zugestimmt und
sie damit sinngemäss selbst verlangt; der ursprüngliche Mangel darf
als geheilt gelten (in gleichem Sinne zit. Entscheide i.S. Berger E. 4c,
i.S. Koch E. 4c). Hat keine Planauflage nach Art. 30 EntG stattgefunden und
sind die Beschwerdeführer nicht in ein abgekürztes Enteignungsverfahren
gemäss Art. 33 f. EntG einbezogen worden - was offensichtlich nur der
Fall gewesen wäre, wenn von ihnen Land für den Bau der Brücke verlangt
worden wäre -, so fällt auch eine Verwirkung der Entschädigungsansprüche
ausser Betracht, da die in Art. 41 EntG vorgesehene Verwirkungsfrist für
die Betroffenen nur dann läuft, wenn diese im Rahmen eines vorangegangenen
Enteignungsverfahrens ausdrücklich auf die Verwirkungsfolgen hingewiesen
worden sind (vgl. Art. 30 Abs. 1 lit. c und Abs. 2, Art. 34 lit. f EntG;
BGE 105 Ib 10 f. E. 2b, 100 Ib 202, 92 I 178, 88 I 198).

    Ist demgegenüber eine öffentliche Planauflage durchgeführt worden,
so durften die Beschwerdeführer ihre Entschädigungsforderungen direkt bei
der Schätzungskommission einreichen und hätte die in Art. 41 Abs. 2 EntG
umschriebene Verwirkungsfrist grundsätzlich beachtet werden müssen. Der
Anwendung von Art. 41 EntG stünde aber in diesem Falle die Erklärung
des Staates Bern entgegen, wonach er durch sein eigenes Verhalten die
Grundeigentümer von einer rechtzeitigen Forderungsanmeldung abgehalten
habe. Die Verwirkungseinrede müsste daher als rechtsmissbräuchlich (BGE
83 II 98) und die Anwendung von Art. 41 EntG als Verstoss gegen Treu und
Glauben betrachtet werden.

    c) Waren demnach die Voraussetzungen zur Eröffnung des
Enteignungsverfahrens gegeben und durfte die Verwirkung der
Entschädigungsbegehren verneint werden, so stand der Durchführung des
Einigungs- und Schätzungsverfahrens unter diesen Gesichtspunkten nichts
entgegen. Zu prüfen bleibt, ob die Schätzungskommission zur Beurteilung
der einzelnen Entschädigungsansprüche zuständig war.

Erwägung 3

    3.- Die sachliche Zuständigkeit der eidgenössischen
Schätzungskommission ist dann gegeben, wenn durch ein mit dem
Enteignungsrecht ausgestattetes oder noch auszustattendes Unternehmen
Rechte entzogen oder beschränkt werden, die nach Bundesrecht
Enteignungsobjekte bilden. Gemäss Art. 5 EntG können neben anderen
dinglichen Rechten, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, auch die aus
dem Grundeigentum hervorgehenden Nachbarrechte Gegenstand der Enteignung
sein. Darunter sind nicht nur die sich aus Art. 684 ZGB ergebenden
Ansprüche des Grundeigentümers auf Unterlassung übermässiger Immissionen zu
verstehen, sondern auch die Abwehrrechte des Nachbarn, die ihm aufgrund
der nach Art. 686 ZGB den Kantonen vorbehaltenen privatrechtlichen
Bauvorschriften zustehen (BGE 102 Ib 352 mit Verweisungen, 101 Ib 61
f. E. 3bb; MEIER-HAYOZ, N. 147 zu Art. 685/6 ZGB).

    a) Der Entschädigungsanspruch der Beschwerdeführer stützt sich, soweit
die Nachteile der Lärmeinwirkungen und weiterer positiver Immissionen
abgegolten werden sollen, auf Art. 684 ZGB. Die Schätzungskommission war
daher kompetent, in dieser Hinsicht über die Entschädigungsbegehren zu
entscheiden, und zwar nicht nur über die Höhe der Entschädigung, sondern
auch darüber, ob überhaupt eine Verletzung von Nachbarrechten vorlag,
da in solchen Fällen Art. 69 Abs. 1 EntG keine Anwendung findet (BGE 102
Ib 351 mit Verweisungen).

    b) Heikler ist dagegen die Frage, ob die Schätzungskommission zur
Behandlung der Begehren der Grundeigentümer auch zuständig war, soweit
diese eine Entschädigung für den Entzug von Licht und Sonnenschein und
für die Beeinträchtigung der Aussicht verlangten.

    aa) Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung erzeugt die
blosse Existenz einer Baute oder baulichen Anlage keine Einwirkungen
im Sinne von Art. 684 ZGB; solche können sich nur aus dem Bau und aus
der Art der Benutzung oder des Betriebes der Anlage ergeben (BGE 102
Ib 351, 100 Ib 195 E. 7b, 97 I 357 E. 1c, 91 II 341 E. 3; 88 II 264,
334 f.,40 II 344 ff.). Wird durch eine Baute dem Nachbargrundstück Licht
und Sonnenschein entzogen oder die Aussicht beeinträchtigt, so kann sich
der Betroffene nicht auf Art. 684 ZGB berufen. Die sogenannten negativen
Immissionen unterstehen nach der zitierten Rechtsprechung ausschliesslich
dem in Art. 686 ZGB vorbehaltenen Privatrecht sowie dem öffentlichen
Baurecht der Kantone. In der Lehre findet diese Auffassung vorwiegend
Zustimmung (HAAB, N. 12 zu Art. 684 ZGB, LIVER, in: Schweizerisches
Privatrecht, Bd. V/1 S. 227 ff., KOLB, Die Haftung des Grundeigentümers,
ZSR 71 II/1952 S. 143 f., STARK, N. 22 zu Art. 928 ZGB, ZIMMERLIN,
Baugesetz des Kantons Aargau, § 160/1 N. 4 S. 463), vereinzelt wird sie
auch - vor allem im älteren Schrifttum - kritisiert (vgl. BACHMANN, Die
nachbarliche Überschreitung des Grundeigentums, Diss. Bern 1937, S. 89
ff. und die in N. 4 S. 91 zit. Literatur; SCHLEGEL, Die Immissionen des
Art. 684 ZGB, Diss. Zürich 1949 S. 55 ff.). MEIER-HAYOZ hält ihr entgegen,
es ergebe sich sowohl aus dem Text wie auch aus dem Sinn und Zweck von
Art. 684 ZGB, dass der Nachbar gegen alle Arten von Immissionen geschützt
werden soll. Positive und negative Immissionen seien oft kaum trennbar
miteinander verbunden und daher den gleichen Normen zu unterstellen.
Nur so werde gesamtschweizerisch ein minimaler Schutz des Menschen auch
vor negativen Immissionen gewährleistet. Allerdings würde auch nach Ansicht
von MEIER-HAYOZ die uneingeschränkte Subsumtion der durch die Existenz von
Bauten hervorgerufenen Immissionen unter Art. 684 ZGB zu unbefriedigenden
Resultaten führen. Er stellt wie die bereits genannten Autoren BACHMANN
und SCHLEGEL fest, dass es für den Grundeigentümer, der sein Gebäude im
Vertrauen auf das kantonale Baurecht erstellt hat, unzumutbar wäre und zu
Rechtsunsicherheit führen würde, wenn die Beseitigung der Baute verlangt
werden könnte; bei negativen Immissionen wäre daher aufgrund von Art. 684
ZGB nur eine Präventivklage oder, falls die Baute schon erstellt ist,
ein Ausgleichsanspruch in Geld zu gewähren (N. 61 zu Art. 684 ZGB).

    Im vorliegenden Fall kann jedoch von einer näheren Prüfung dieser Frage
abgesehen werden, da ein Entschädigungsanspruch der Beschwerdeführer -
jedenfalls für den Entzug von Licht und Sonnenschein - auch dann zu bejahen
ist, wenn in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung und der
herrschenden Lehre davon ausgegangen wird, dass negative Immissionen von
der Regelung von Art. 684 ZGB nicht erfasst werden und ausschliesslich
dem kantonalen Recht unterstehen.

    bb) Wie bereits erwähnt, können auch die Abwehrrechte, die das in
Art. 686 ZGB vorbehaltene kantonale Privatrecht dem Nachbarn verleiht,
Enteignungsobjekte im Sinne von Art. 5 EntG darstellen. Werden derartige
Rechte durch ein öffentliches Werk (Art. 1 Abs. 1 EntG) verletzt oder
unterdrückt, so ist über die Entschädigung in einem bundesrechtlichen
Enteignungsverfahren zu befinden. Im Entscheid Bläsi hat das Bundesgericht
die weitere Frage aufgeworfen, ob ein formelles Enteignungsverfahren
auch dann durchzuführen sei, wenn für die Errichtung eines Werkes von
öffentlichrechtlichen Bestimmungen abgewichen werden muss, welche von
Kantonen und Gemeinden aufgrund des - unechten - Vorbehaltes von Art. 702
ZGB (BGE 71 I 438 E. 4; 96 I 137 E. 6) erlassen worden sind. Ohne sich
festzulegen, hat das Bundesgericht immerhin die Möglichkeit in Betracht
gezogen, solche öffentlichrechtlichen Bestimmungen, soweit sie nicht
nur dem öffentlichen Interesse, sondern auch den Privatinteressen der
Nachbarn dienen, den gestützt auf Art. 686 ZGB erlassenen Bauvorschriften
des kantonalen Zivilrechtes gleichzustellen (BGE 102 Ib 352). Diese
Möglichkeit ist hier, wie im folgenden dargestellt, zu bejahen.

    cc) Im bernischen Baurecht findet sich eine besondere Bestimmung über
die Zumutbarkeit von Licht- und Sonnenentzug durch Bauten, die aufgrund von
Sonderbauvorschriften erstellt werden. Art. 130 der Bauverordnung vom 26.
November 1970 (Vollziehungsverordnung zum Baugesetz vom 7. Juni 1970/BauV)
sieht für den Schattenwurf folgende Regelung vor:

    "Höhere Häuser, Hochhäuser und Sonderbauformen dürfen bestehende oder
   nach den geltenden Vorschriften mögliche Wohnbauten nicht durch

    Schattenwurf übermässig beeinträchtigen.

    Die zulässige Beschattungsdauer beträgt:

    a) bei Tag- und Nachtgleiche (21. März) zwischen 7.30 und 17.30 Uhr 2

    Stunden;

    b) bei mittlerem Wintertag (8. Februar) zwischen 8.30 und 16.30

    Uhr 2 Stunden.

    Ist die Besonnung einer Liegenschaft infolge topographischer

    Gegebenheiten oder durch bestehende Bauten bereits erheblich
eingeschränkt,
   so sind die Beschattungstoleranzen angemessen zu reduzieren.

    Diese Regeln gelten auch für die Besonnung innerhalb einer

    Gesamtüberbauung."

    Wird ein Grundstück ungewöhnlich stark durch Schattenwurf
beeinträchtigt, so kann der betroffene Grundeigentümer im sogenannten
Lastenausgleichsverfahren nach Art. 51 f. des Berner Baugesetzes (BauG)
eine Entschädigung fordern. Die Entschädigung dient als Ausgleich dafür,
dass der eine der Grundeigentümer aus der Bewilligung zur zonenfremden
Nutzung seines Grundstückes einen Sondervorteil ziehen kann, während
der andere durch eben diese Bauweise benachteiligt wird (vgl. ZAUGG,
Kommentar zum Baugesetz, N. 1 zu Art. 51, LUDWIG, Der Lastenausgleich
nach Art. 51 f. Baugesetz, BVR/JAB 1977 S. 314 ff., GYGI, Expropriation,
materielle Enteignung und Lastenausgleich, in: Rechtliche Probleme des
Bauens, S. 104; Urteil des Berner Verwaltungsgerichts vom 23. August
1976 i.S. Schweiz. Eidgenossenschaft gegen Deuber und Schild, publ. in
BVR/JAB 1977 S. 74 ff.). Wie das Entschädigungsverfahren ausgestaltet
ist, ist hier nicht von Bedeutung. Massgebend ist, dass im bernischen
Recht ausdrücklich festgelegt wird, bis zu welcher Höchstdauer der
Grundeigentümer eine Beschattung durch Nachbarbauten zu dulden hat.

    Nun ist zwar diese Bestimmung, die den Grundeigentümer vor übermässigem
Schattenwurf schützt, nicht ins Einführungsgesetz zum ZGB, sondern ins
kantonale Baugesetz aufgenommen worden. Es scheint daher zunächst, sie sei
aufgrund des Vorbehaltes von Art. 702 und nicht von Art. 686 ZGB erlassen
worden. In welchem Erlass eine Rechtsnorm aufgeführt wird, kann indessen
nicht entscheidend sein für ihre - privat- oder öffentlichrechtliche -
Natur (BGE 56 II 22; MEIER-HAYOZ, N. 30 zu Art. 680 ZGB, HAAB, N. 6
zu Art. 680 ZGB); diese ergibt sich vielmehr aus dem positiven Recht,
insbesondere aus der betreffenden Rechtsnorm selbst. Aus der Bestimmung
von Art. 130 BauV geht klar hervor, dass sie nicht nur dem Interesse der
Öffentlichkeit an der Wohnhygiene dient, sondern vorwiegend zum Schutze der
besonderen Interessen der Nachbarn erlassen worden ist. Dies ergibt sich
denn auch daraus, dass die Feststellung, eine Baute verursache übermässigen
Schattenwurf, nicht etwa deren Abbruch oder ein Verbot zur Folge hat,
das beeinträchtigte Gebäude weiterhin zu bewohnen; sie löst einzig eine
Entschädigungspflicht aus. Der kantonale Gesetzgeber hat somit die gleiche
Regelung getroffen, wie sie im Zivilgesetzbuch in analoger Anwendung der
Bestimmungen über den Überbau (Art. 674 ZGB) für Bauten vorgesehen ist,
die den Vorschriften des privaten nachbarlichen Baurechts des Bundes
oder der Kantone zuwiderlaufen (Art. 685 in Verbindung mit Art. 686 ZGB):
dem Bauenden kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, gegen angemessene
Entschädigung eine Duldungsdienstbarkeit zu Gunsten seines Grundstückes und
zu Lasten der Nachbarparzelle eingeräumt werden (vgl. BGE 101 II 364 E. 3b,
82 II 399, 41 II 219 f.; MEIER-HAYOZ, N. 123 zu Art. 685/686 ZGB). Art. 130
BauV stellt demnach nicht eine rein öffentlichrechtliche, sondern eine
sogenannte gemischt-rechtliche oder Doppelnorm dar (vgl. BGE 91 I 415, 90
I 208; s. etwa ZWAHLEN, Du droit des voisins à l'observation des règles
de police des constructions, in: Mélanges François Guisan, S. 325 ff.,
insbesondere S. 336 ff., MEIER-HAYOZ, N. 34 ff. zu Art. 680 ZGB; kritisch:
KUTTLER, Zur Problematik der gemischt-rechtlichen Normen in Baurecht, ZBl
67/1966 S. 265 ff., BÄUMLIN, Privatrechtlicher und Öffentlichrechtlicher
Immissionenschutz, in: Rechtliche Probleme des Bauens, S. 128).

    Insofern die in Art. 130 BauV enthaltene Vorschrift über den
Schattenwurf auch privatrechtlichen Charakter aufweist, darf sie bei der
Anwendung von Art. 5 EntG jenen kantonalen Vorschriften gleichgestellt
werden, die ausschliesslich aufgrund des Vorbehaltes von Art. 686
ZGB erlassen worden sind. Diese Gleichstellung rechtfertigt sich aus
verschiedenen Gründen: Einerseits wird damit der bestehenden Tendenz
Rechnung getragen, das öffentliche Recht auf alle Bereiche des Bauens,
insbesondere auf das ganze Gebiet des Immissionsschutzes auszudehnen und
ihm auch die Aufgaben zu übertragen, die ursprünglich vom Zivilrecht
wahrgenommen worden sind. Andererseits trifft es, wie MEIER-HAYOZ
hervorhebt (N. 6 zu Art. 684 ZGB) und sich im vorliegenden Falle bestätigt
hat, tatsächlich zu, dass positive und negative Immissionen oft eng
miteinander verbunden sind und nur eine Gesamtbetrachtung ein Urteil über
die Auswirkungen auf den Betroffenen zulässt. Und schliesslich liesse es
sich aus prozessökonomischen Gründen kaum vertreten, den Grundeigentümer
im formellen Enteignungsverfahren nur für die positiven Einwirkungen
zu entschädigen und ihn für die negativen Immissionen auf ein Verfahren
wegen materieller Enteignung zu verweisen. Übrigens hat auch der Bundesrat
schon im Jahre 1944 entschieden, dass öffentlichrechtliche Bestimmungen
kantonaler Baugesetze gleichzeitig privatrechtliche Bauvorschriften im
Sinne von Art. 686 ZGB bilden können und die durch diese Vorschriften
geschaffenen Abwehrrechte auf dem Wege einer formellen Enteignung, durch
zwangsweise Auferlegung einer Dienstbarkeit, aufgehoben oder unterdrückt
werden können (VEB 17 Nr. 143).

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die aus Art. 130 BauV
ergebenden Abwehr- und Entschädigungsansprüche den Nachbarrechten, die den
Grundeigentümern in den kraft des Vorbehaltes von Art. 686 ZGB erlassenen
privatrechtlichen Vorschriften eingeräumt werden, gleichzustellen sind;
sie können Enteignungsobjekte im Sinne von Art. 5 EntG bilden. Die
Schätzungskommission hat sich daher zu Recht für zuständig erachtet,
über die Entschädigungsbegehren der Beschwerdeführer für den Entzug von
Licht und Sonnenschein zu befinden.

    Der Klarheit halber ist beizufügen, dass sich der Anspruch auf
Durchführung eines formellen Enteignungsverfahrens nur aufgrund der hier
herangezogenen, besonderen Bestimmungen des kantonal-bernischen Rechts
ergibt und nicht schon in jedem Fall entsteht, in welchem beim Bau eines
Werkes von einer Vorschrift des kantonalen Baugesetzes abgewichen werden
muss. Nicht zu prüfen ist die Frage, wie hier zu entscheiden wäre, wenn
die Bestimmung von Art. 130 BauV nicht existierte.

    dd) Im Gegensatz zu den Bestimmungen über den Entzug von Licht
und Sonne enthält das private Baurecht des Kantons Bern offenbar keine
speziellen Vorschriften über den Schutz der Aussicht; jedenfalls wird in
der Beschwerde keine derartige Bestimmung erwähnt. Die Schätzungskommission
hätte daher auf das Gesuch um Entschädigung für die Beeinträchtigung der
Aussicht, welches sie als unbegründet bezeichnet hat, überhaupt nicht
eintreten sollen.

    Für die Frage der Minderwerts-Bemessung fällt dieser Punkt jedoch
ohnehin kaum ins Gewicht.

Erwägung 4

    4.- (Bemessung der Entschädigung.)