Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IA 58



106 Ia 58

13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
26. März 1980 i.S. Peduzzi und Mitbeteiligte gegen Gemeinde Vaz/Obervaz
und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 4 BV; Baubewilligungsverfahren.

    Polizeiliche Generalklausel als Grundlage öffentlichrechtlichen
Immissionsschutzes (Abwehr befürchteter übermässiger Lärmimmissionen eines
Bauprojekts). Legitimation der Nachbarn, eine Verletzung der polizeilichen
Generalklausel mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügen (E. 1). Kognition
des Bundesgerichts (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Gegen ein Baugesuch der Gemeinde Vaz/Obervaz für das
regionale Sportzentrum Dieschen erhoben 108 Stockwerkeigentümer der
Soleval-Überbauung Einsprache, weil sie von der im Projekt mitenthaltenen
Kunsteisbahn unzumutbare Lärmimmissionen befürchteten. Der Gemeindevorstand
wies die Einsprache ab, versah die Baubewilligung indessen mit
Auflagen, die eine Beschränkung der Immissionen auf das "Kurortsübliche"
bezweckten. Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wies den von
den Einsprechern dagegen erhobenen Rekurs mit Entscheid vom 28. November
1978 ab. Hiegegen richtet sich die vorliegende, auf Art. 4 BV gestützte
staatsrechtliche Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind die
Beschwerdeführer als Stockwerkeigentümer von Wohnungen in den Häusern
Miez, Valatscha und Tavanera der Überbauung Soleval, welche an die von
der Gemeinde beschlossenen Sportanlagen mit Kunsteisbahn angrenzen,
befugt, die Baubewilligung mit staatsrechtlicher Beschwerde anzufechten,
soweit sie die Verletzung von Bauvorschriften geltend machen, die ausser
den Interessen der Allgemeinheit auch oder in erster Linie dem Schutze
der Nachbarn dienen. Voraussetzung bildet ferner, dass sie sich im
Schutzbereich der entsprechenden Vorschriften befinden und durch die
behaupteten widerrechtlichen Auswirkungen der Baute betroffen werden. Nicht
entscheidend ist, ob sie im kantonalen Verfahren zum Baurekurs zugelassen
worden sind (BGE 102 Ia 93 E. 1; 99 Ia 254 E. 4, mit Verweisungen).

    Im vorliegenden Falle stellte das Verwaltungsgericht fest, dass die
Bauordnung der Gemeinde Vaz/Obervaz keine Immissionsschutzbestimmungen
enthalte, auf die sich die Beschwerdeführer berufen könnten. Auch
gebe Art. 12 des kantonalen Raumplanungsgesetzes vom 20. Mai 1973 den
Nachbarn keinen direkten Abwehranspruch. Diese Bestimmung halte die
Gemeinden lediglich dazu an, die erforderlichen Vorschriften über den
Schutz der Nachbarschaft vor übermässigen Einwirkungen von Bauten und
Anlagen zu erlassen. Im Baubewilligungsverfahren könne sich der Nachbar
nicht auf diese reine Kompetenznorm für die Gemeinden berufen. Der von den
Beschwerdeführern erhobene Einwand, der Betrieb der geplanten Sportanlage
werde mit unzumutbaren Immissionen für die Nachbarschaft verbunden sein,
lasse sich daher weder auf eine ausdrückliche und unmittelbar anwendbare
Vorschrift des kantonalen noch des kommunalen Rechts abstützen. Doch
anerkannte das Verwaltungsgericht, dass beim Fehlen ausdrücklicher
Immissionsschutzvorschriften Massnahmen zur Abwehr übermässiger
Einwirkungen auf die Nachbarschaft gestützt auf die polizeiliche
Generalklausel angeordnet werden könnten.

    Die Beschwerdeführer machen nicht geltend, das Verwaltungsgericht
habe zu Unrecht das Fehlen einer ausdrücklichen Immissionsschutzvorschrift
verneint. Sie anerkennen vielmehr die Erwägungen des Verwaltungsgerichts,
wonach sie sich auf die polizeiliche Generalklausel berufen könnten. Es
stellt sich daher zunächst die Frage, ob die Beschwerdeführer legitimiert
sind, die Verletzung der polizeilichen Generalklausel mit staatsrechtlicher
Beschwerde zu rügen.

    In Lehre und Praxis ist anerkannt, dass öffentlichrechtlicher
Immissionsschutz auch aufgrund der polizeilichen Generalklausel
betrieben werden kann. Diese tritt beim Fehlen ausdrücklich anwendbarer
Normen an die Stelle öffentlichrechtlicher Blankettbestimmungen über
den Immissionsschutz, wie sie im kantonalen Recht oft anzutreffen
sind, indem dieses etwa eine dem Art. 684 ZGB entsprechende
Regel als polizeirechtliche Norm ausgestaltet (RICHARD BÄUMLIN,
Privatrechtlicher und öffentlichrechtlicher Immissionsschutz, in:
Rechtliche Probleme des Bauens, Bern 1968, S. 107 ff., S. 122 ff.; PETER
LIVER, in: Schweiz. Privatrecht, V/1, Sachenrecht, Basel 1977, S. 239;
IMBODEN/RHINOW, Nr. 136, S. 1004; ERICH ZIMMERLIN, Baugesetz des Kantons
Aargau, Kommentar, § 160, S. 460 ff.). Das Bundesgericht anerkennt,
dass sich der Nachbar im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren auf
derartige Immissionsschutzbestimmungen berufen kann (BGE 99 Ia 254 E. 4
und 148 E. 1; 91 I 416 ff. E. 3 c-e). Sie verschaffen dem Nachbarn eine
Sphäre rechtlich geschützter Interessen, die in den Kreis der durch die
Eigentumsgarantie erfassten Rechtsgüter fallen. Auch wenn der Anwohner,
der sich auf sie beruft, zugleich das Interesse der Gesamtheit wahrnimmt,
ändert dies nicht daran, dass er eigene rechtlich geschützte Belange
vertritt (BGE 91 I 418 E. 3d).

    Übernimmt nun wegen Fehlens einer anwendbaren öffentlichrechtlichen
Immissionsschutzbestimmung die polizeiliche Generalklausel die Abwehr
einer unmittelbar drohenden übermässigen Einwirkung, so verhält es
sich gleich: Der Nachbar, der sich auf sie beruft, nimmt nicht nur das
Interesse der Gesamtheit wahr, an der er Anteil hat, sondern er macht auch
eigene rechtlich geschützte Interessen geltend. Sein Anspruch auf Abwehr
übermässiger, die polizeiliche Generalklausel verletzender Immissionen
fällt in gleicher Weise in den Kreis der durch die Eigentumsgarantie
erfassten Rechtsgüter, wie dies für Ansprüche zutrifft, die aus einer
öffentlichrechtlichen Blankettbestimmung über den Immissionsschutz
hergeleitet werden. Eine innere Rechtfertigung für eine unterschiedliche
Behandlung fehlt.

    Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist daher grundsätzlich
einzutreten. Erfüllt ist auch die Voraussetzung, dass sich die
Beschwerdeführer im Schutzbereich der Massnahmen befinden, die aufgrund
der polizeilichen Generalklausel allenfalls anzuwenden sind. Der
Augenschein hat bestätigt, dass die Beschwerdeführer durch die behaupteten
widerrechtlichen Auswirkungen der Sportanlagen betroffen werden können,
wenngleich das Ausmass der Betroffenheit je nach der Lage der einzelnen
Wohnungen unterschiedlich ist.

Erwägung 2

    2.- Die Auslegung und Anwendung kantonalen Gesetzesrechtes prüft das
Bundesgericht im allgemeinen nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE
101 Ia 449 E. 4b). Die Anwendung kantonalen Verfassungsrechts überprüft
es hingegen grundsätzlich frei (BGE 99 Ia 297 E. 2). Die polizeiliche
Generalklausel zählt zu den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen
(BGE 103 Ia 312 E. 3a; 92 I 31 E. 5), ist aber subsidiärer Natur (BGE
100 Ia 146). Zudem tritt sie im vorliegenden Falle an die Stelle einer
gesetzlichen Blankettbestimmung des kantonalen öffentlichen Rechts über
den Immissionsschutz. Eine freie Überprüfung ihrer Anwendung durch
die kantonalen Instanzen wäre unter diesen Umständen um so weniger
gerechtfertigt, als die im vorliegenden Fall in Frage stehenden
Immissionsschutzmassnahmen jedenfalls ohne Willkür auch unmittelbar
auf Art. 12 des kantonalen Raumplanungsgesetzes hätten gestützt werden
können. Es entspricht dem Zweck dieser Vorschrift, wenn die Gemeinden bis
zum Erlass der erforderlichen generellen Vorschriften über den Schutz
der Nachbarschaft vor übermässigen Einwirkungen, die von Bauten und
Anlagen ausgehen, im Einzelfall die nötigen Anordnungen verfügen. Die
Kognition des Bundesgerichts ist daher wie bei der Überprüfung der
Anwendung öffentlichrechtlicher Immissionsschutzvorschriften des kantonalen
Rechts auf Willkür zu beschränken. Die Beschwerdeführer werfen denn auch
dem Verwaltungsgericht sowohl bei der Feststellung und Würdigung des
Sachverhaltes als auch bei der Anwendung der polizeilichen Generalklausel
Willkür vor.

    Das Bundesgericht hat somit nur zu prüfen, ob sich die
Sachverhaltsfeststellung und -würdigung sowie die Rechtsanwendung des
Verwaltungsgerichts mit sachlichen Gründen vertreten lässt. Willkür
liegt nicht schon dann vor, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar
oder sogar besser erschiene. Das Bundesgericht greift wegen Verletzung
von Art. 4 BV vielmehr erst dann ein, wenn der angefochtene Entscheid
offensichtlich unhaltbar ist (BGE 99 Ia 346 E. 1 mit Verweisungen).