Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IA 4



106 Ia 4

2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlicben Abteilung vom
21. Mai 1980 i.S. Wicki gegen Wicki, Appellationshof (I. Zivilkammer)
des Kantons Bern und Plenum des Appellationshofes des Kantons Bern
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Vollstreckung eines Scheidungsurteils, rechtliches Gehör.

    Wann hat der Gesuchsteller im Vollstreckungsverfahren Anspruch darauf,
zu den Einwendungen der Gegenpartei Stellung zu nehmen?

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- ...

    a) Im Verfahren vor dem Amtsgerichtspräsidenten von Thun
hatte die Beschwerdegegnerin beantragt, das Vollstreckungsgesuch
des Beschwerdeführers sei abzuweisen, solange die zuständigen
Gerichtsinstanzen des Kantons Luzern nicht über ihr Begehren um
Abänderung des Scheidungsurteils entschieden hätten. Zur Begründung
legte sie verschiedene Urkunden vor und zitierte längere Passagen
aus dem vom Regierungsrat des Kantons Bern als nichtig erklärten
Entscheid des Regierungsstatthalters von Thun vom 8. März 1979. Der
Amtsgerichtspräsident von Thun wies das Vollstreckungsbegehren ab, ohne
dem Gesuchsteller Gelegenheit zu geben, sich zur Vernehmlassung der
Beschwerdegegnerin zu äussern. Das Plenum des Appellationshofes erwog,
dieses Vorgehen sei nicht zu beanstanden gewesen. Die Vollstreckung von
Urteilen richte sich nach den Bestimmungen über das summarische Verfahren,
in welchem kein doppelter Schriftenwechsel vorgesehen sei. In diesem
Zusammenhang wird zum Vergleich auf das Verfahren der provisorischen
Rechtsöffnung verwiesen. Ergänzend wird bemerkt, es treffe nicht zu,
dass die Abweisung des Vollstreckunggesuches auf Tatsachen gestützt worden
sei, die dem Beschwerdeführer nicht bekannt gewesen seien und zu denen
er nie habe Stellung nehmen können. Er sei vielmehr im Verfahren vor
dem Regierungsstatthalter, in dem es um dieselben Fragen gegangen sei,
einlässlich zu Worte gekommen.

    b) aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird zunächst grundsätzlich
von den kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben; erst wo sich dieser
Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4
BV folgenden bundesrechtlichen Minimalgarantien Platz (BGE 105 Ia 194
E. 2 mit Verweisung). Es trifft zu, dass nach der Zivilprozessordnung
des Kantons Bern im summarischen Verfahren nur ein Vortrag jeder Partei
vorgesehen ist (Art. 308 ZPO). Indessen fragt sich, ob diese Regelung
den Anforderungen an die Gewährung des rechtlichen Gehörs, wie sie die
bundesgerichtliche Rechtssprechung unmittelbar aus Art. 4 BV ableitet,
in allen Fällen gerecht wird.

    bb) Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist einerseits ein Mittel der
Sachaufklärung, anderseits ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht
des Verfahrensbeteiligten beim Erlass von Verfügungen, die seine
Rechtsstellung betreffen. Das Bedürfnis, angehört zu werden, ist dort
besonders intensiv und daher unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten
schutzwürdig, wo die Gefahr besteht, dass die Rechtsstellung einer Partei
durch einen staatlichen Hoheitsakt zu ihrem Nachteil verändert wird (BGE
105 Ia 197 E. 2 b/cc mit Verweisungen). Dies ist namentlich dann der Fall,
wenn die Aufhebung eines für eine Partei günstigen Entscheides in Frage
steht (BGE 97 I 342 f. E. 3; 96 I 187 mit Verweisungen).

    Der Gehörsanspruch gilt allerdings nicht unbegrenzt. Schranken können
namentlich in der besonderen Dringlichkeit einer bestimmten Verfügung
oder im Umstand liegen, dass der Betroffene bei vorgängiger Anhörung
den Zweck einer im öffentlichen Interesse liegenden Massnahme vereiteln
könnte. Ob ein Bürger einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch hat,
vor Erlass einer Verfügung angehört zu werden, ist somit im Einzelfall
durch Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen zu ermitteln
(BGE 105 Ia 197 E. 2 b/cc; vgl. TINNER, Das rechtliche Gehör, ZSR 83/1964
II, S. 377 ff.). Soweit aus BGE 88 I 201 f. allenfalls abgeleitet werden
könnte, im summarischen Verfahren bestehe allgemein kein Anspruch auf
rechtliches Gehör, bedarf dies der Richtigstellung.

    cc) Im vorliegenden Fall stützte sich der Beschwerdeführer auf ein
rechtskräftiges Scheidungsurteil. Die Abweisung des Vollstreckungsbegehrens
bedeutete im Ergebnis eine - wenn auch nur vorläufige - Änderung dieses
Urteils zuungunsten des Beschwerdeführers. Dieser hatte deshalb Anspruch
darauf, sich zu den von der Gegenpartei vorgebrachten Einwendungen
gegen die Vollstreckung auszusprechen. Die gegenteilige Auffassung
liefe darauf hinaus, dass derjenige, welcher die Vollstreckung
eines rechtskräftigen Urteils anbegehrt, bereits in seinem Gesuch
zu allen irgendwie möglichen Gegenargumenten im voraus Stellung
nehmen müsste. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht dem Sinn eines
Vollstreckungsverfahrens entspricht; der Beschwerdeführer durfte sich
durchaus mit einem Hinweis auf das rechtskräftige Urteil begnügen. Der
Vergleich mit dem Rechtsöffnungsverfahren ist nicht stichhaltig. Bei der
provisorischen Rechtsöffnung handelt es sich nicht um die Änderung eines
richterlichen Entscheides, und bei der definitiven Rechtsöffnung sind
Einwendungen materieller Natur im vorneherein ausgeschlossen. Der Hinweis,
dass sich der Beschwerdeführer schon vor dem Regierungsstatthalter zu den
ihm gegenüber erhobenen Vorwürfen habe äussern können, geht ebenfalls
fehl. Jenes Verfahren ist vom Regierungsrat des Kantons Bern mangels
sachlicher Zuständigkeit des Regierungsstatthalters als nichtig erklärt
worden. Im Vollstreckungsverfahren durfte deshalb nicht einfach darauf
verwiesen werden, und der Beschwerdeführer musste auch nicht damit rechnen,
dass dies geschehen könnte. Er hatte daher keinen Anlass, sich bereits im
Begehren mit den früher ausserhalb des allein zulässigen zivilprozessualen
Verfahrens vorgebrachten Einwendungen gegen das zu vollstreckende Urteil
zu befassen. Andere Gründe, welche im konkreten Fall dagegen gesprochen
hätten, den Beschwerdeführer zur Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin
anzuhören, werden nicht geltend gemacht. Die Rüge der Verweigerung des
rechtlichen Gehörs erweist sich somit als begründet.