Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IA 33



106 Ia 33

8. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
25. Juni 1980 i.S. X. gegen Vormundschaftsbehörde H. und Direktion der
Justiz des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 113 Abs. 3 BV.

    Verfassungskonforme Auslegung von Bundesgesetzen unter Berücksichtigung
der Bestimmungen der EMRK (E. 2 und 3).

    Art. 406 ZGB, persönliche Freiheit.

    Verhältnismässigkeit einer Anstaltseinweisung; Anforderungen an ein
psychiatrisches Gutachten unter diesem Gesichtspunkt (E. 4).

Sachverhalt

    A.- X. wurde im Jahre 1942 geboren und ist seit seinem 20.  Altersjahr
wegen Geistesschwäche im Sinne von Art. 369 ZGB entmündigt. Im Jahre
1958 wurde er erstmals "zur Beobachtung" in die Heil- und Pflegeanstalt
Münsingen eingewiesen, von wo er mit Beschluss des Waisenamtes H. vom 3.
November 1961 "zur Rückkehr zu seinen Eltern" entlassen wurde. In der
Folge wurde X. aber immer wieder von neuem in die verschiedensten Heime und
Anstalten eingewiesen und nach längerer oder kürzerer Zeit endgültig oder
"probeweise" entlassen. Von den Leitern der meisten Heime und Anstalten
wurde er als arbeitsfähig und arbeitswillig eingestuft, hielt es aber
trotzdem an keiner Arbeitsstelle während längerer Zeit aus. Zuletzt war
er in der Zeit zwischen September 1977 und Mai 1979 in Freiheit. Nachdem
er in dieser Zeit drei Stellen nach verhältnismässig kurzer Zeit wieder
verlassen hatte, soll er sich seit Mitte Mai 1979 nicht mehr um eine neue
Arbeit bemüht haben. X. bezieht eine Invalidenrente.

    Am 5. und 26. Juni 1979 beschloss die Vormundschaftsbehörde H.,
dem Vormund von X. im Sinne von Art. 421 Ziff. 13 ZGB die Zustimmung
zu erteilen, das Mündel in die aargauische Arbeitskolonie Murimoos
einzuweisen, und zwar "für die Dauer von mindestens einem Jahr". Eine
hiegegen von X. erhobene Beschwerde wies der Bezirksrat am 25. September
1979 ab. X. zog die Sache an die Direktion der Justiz des Kantons Zürich
weiter. Mit Verfügung vom 15. März 1980 verwarf diese das Rechtsmittel.

    X. führt beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung der persönlichen Freiheit und von Art. 5 Ziff. 1 lit. e EMRK. Er
ersucht um Aufhebung der Verfügung der Justizdirektion.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, und zwar im Sinne der
folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                         Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- In ihrem Entscheid ging die Justizdirektion von Art. 421 Ziff. 13
und Art. 406 ZGB aus, wonach die vormundschaftlichen Organe die Befugnis
haben, eine bevormundete Person in eine Anstalt einzuweisen. Diese
Bestimmungen kann das Bundesgericht nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit
überprüfen (Art. 113 Abs. 3 BV). Allerdings ist zu vermuten, dass sich
der Gesetzgeber von der Verfassung nicht entfernen wollte. Die erwähnten
Vorschriften des ZGB sind daher verfassungskonform auszulegen, es wäre
denn, Wortlaut oder Sinn und Zweck dieser Bestimmungen stünden dem entgegen
(BGE 95 I 332 E. 3, 92 I 433 mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- Das ungeschriebene Individualrecht der persönlichen Freiheit
schützt alle elementaren Erscheinungen menschlicher Persönlichkeit, die
nicht durch andere Freiheitsrechte der Bundesverfassung gewährleistet sind.
Dazu gehört namentlich auch die Bewegungsfreiheit (BGE 104 Ia 39 E. 5a, 486
E. 4a, 103 Ia 171 E. 2, 101 Ia 345 E. 7a mit Hinweisen). Einschränkungen
der persönlichen Freiheit sind nur zulässig, wenn sie auf einer
gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse stehen und
verhältnismässig sind (BGE 104 Ia 299 E. 2, 486 E. 4b mit Hinweisen).

    Dass im vorliegenden Falle die persönliche Freiheit berührt ist,
liegt auf der Hand, wird doch durch die in Frage stehende Massnahme das
elementare Recht des Beschwerdeführers auf Bewegungsfreiheit wesentlich
eingeschränkt. Aus Art. 406 in Verbindung mit Art. 369 Abs. 1 ZGB ergibt
sich, dass ein Bevormundeter in eine Anstalt verbracht werden kann, wenn
er infolge Geisteskrankheit oder Geistesschwäche seine Angelegenheiten
nicht zu besorgen vermag. Mit der Beschwerde wird diese gesetzliche
Grundlage der angefochtenen Massnahme nicht beanstandet, sondern nur die
Verhältnismässigkeit ihrer Anwendung im konkreten Fall. Zusätzlich rügt
der Beschwerdeführer auch eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 1 lit. e EMRK,
wonach die Freiheit unter anderem wegen Geisteskrankheit entzogen werden
darf. Diese Rüge hat gegenüber derjenigen der Verletzung der persönlichen
Freiheit keine selbständige Bedeutung. Trotzdem ist Art. 5 Ziff. 1
lit. e EMRK heranzuziehen, sind doch die von der Konvention geschützten
Rechte in Verbindung mit den Individualrechten des geschriebenen oder
ungeschriebenen Verfassungsrechtes zu bestimmen. Richtschnur für die
Auslegung der erwähnten Bestimmungen des ZGB ist somit das ungeschriebene
Verfassungsrecht der persönlichen Freiheit, das durch die angerufene
Garantie von Art. 5 Ziff. 1 lit. e EMRK konkretisiert wird (BGE 105 Ia
29 E. 2b, 102 Ia 381 mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- a) Nach Art. 406 ZGB darf die Anstaltseinweisung nur
"nötigenfalls" erfolgen. Das stimmt überein mit dem verfassungsmässigen
Gebot, bei Eingriffen in die persönliche Freiheit dem Grundsatz der
Verhältnismässigkeit Rechnung zu tragen. Der Eingriff darf daher nicht
weiter gehen, als es das zu erreichende Ziel erfordert (BGE 102 Ia 522
E. 4, 100 Ia 459 E. IIIa, 99 Ia 753 E. 2c, 96 I 242 E. 5). Ob das Gebot
der Verhältnismässigkeit im Rahmen eines Freiheitsentzuges gewahrt wird,
prüft das Bundesgericht frei (BGE 103 Ia 296 E. 4b, 101 Ia 53 E. 7,
98 Ia 100 E. 2).

    Es liegt auf der Hand, dass eine auf Art. 406 ZGB gestützte
Einweisung nur als letzte Massnahme in Betracht kommen kann. Das
Interesse der Öffentlichkeit an der Einweisung des Betroffenen muss
dessen eigenes Interesse an der Wahrung seiner persönlichen Freiheit
klar übersteigen. Das ist nicht schon dann der Fall, wenn feststeht,
dass der Bevormundete geistesschwach oder geisteskrank ist, vermögen
doch zahlreiche Geisteskranke und Geistesschwache bei fachgerechter
Betreuung ein Leben ausserhalb von Anstalten zu führen. Voraussetzung für
eine Einweisung ist vielmehr, dass entweder begründete Aussichten dafür
bestehen, das durch die Geisteskrankheit oder Geistesschwäche bedingte,
aus dem Rahmen des Üblichen fallende soziale Verhalten des Betroffenen
könne in einer Anstalt innerhalb absehbarer Zeit im Sinne einer Besserung
beeinflusst werden, oder dass der Bevormundete für sich oder Dritte eine
Gefahr bildet, indem er hochwertige Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit
gefährdet (vgl. EGGER, N. 26 und 27 zu Art. 406 ZGB).

    b) Die Justizdirektion stützte sich auf ein von der kantonalen
Heil- und Pflegeanstalt Münsingen am 4. Oktober 1961 erstattetes
Gutachten. Dieses wurde seinerzeit vom Waisenamt H. eingeholt,
und zwar vorab zur Abklärung der Frage, ob der Beschwerdeführer
"seine Angelegenheiten nach Erreichung der Volljährigkeit nicht selbst
zu besorgen vermag". Ferner sollte geprüft werden, ob er "zu seinem
Schutze dauernd des Beistandes und der Fürsorge bedarf" und ob er die
Sicherheit anderer gefährde. Die Sachverständigen kamen zum Schluss, der
Beschwerdeführer sei in leichtem bis mittlerem Grade schwachsinnig, d.h. es
liege eine "schwere Debilität an der Grenze zur Imbezillität" vor. Seine
Wesensart sei infantil. Den Anforderungen des Lebens stehe er hilflos
gegenüber. Er bedürfe daher zu seinem Schutze dauernd des Beistandes und
der Fürsorge. Eine Gefahr für Dritte bedeute er nicht. Gestützt auf dieses
Gutachten wurde der Beschwerdeführer in der Folge entmündigt.

    Dieses Gutachten genügt nicht, um die vom Bundesgericht frei zu
prüfende Verhältnismässigkeit der in Frage stehenden Massnahme beurteilen
zu können. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers trifft es zwar
nicht zu, dass das Gutachten sehr summarisch gehalten ist. Vielmehr wirkt
es sorgfältig und gab den zuständigen Behörden in den Jahren 1961 und 1962
eine ausreichende Grundlage, um über die Entmündigung des Beschwerdeführers
zu befinden. Das ist jedoch nicht der Fall hinsichtlich der heute
von den vormundschaftlichen Behörden ins Auge gefassten Massnahme. Zu
beachten ist nämlich, dass jeder Mensch, auch der Schwachsinnige, im
Laufe der Zeit Erfahrungen sammelt und sich weiterentwickelt. Da es um
das fundamentale Recht des Menschen auf persönliche Freiheit geht, durfte
die Justizdirektion daher den 38jährigen Beschwerdeführer nicht auf Grund
eines vor 19 Jahren eingeholten Gutachtens beurteilen. Im übrigen war die
Fragestellung an die Sachverständigen im Jahre 1961 darauf ausgerichtet, ob
der Beschwerdeführer entmündigt werden sollte. Heute geht es demgegenüber
um eine ganz andere Frage, nämlich um die, ob der Beschwerdeführer
sein Leben für kürzere oder längere Zeit in einer Anstalt verbringen
soll. Zu ermitteln ist in diesem Zusammenhang namentlich, welcher Sinn
einer derartigen Einweisung zukommt, und es ist zu prüfen, ob sich durch
die Einweisung die Aussicht darauf, dass der Beschwerdeführer künftig
selber für seine Lebensbedürfnisse in Freiheit sorgen kann, verbessern
lasse. Gegebenenfalls ist aber auch abzuklären, ob der Beschwerdeführer
für sich oder Dritte eine derartige Gefahr bedeutet, dass sich seine
Einweisung aufdrängt. Sollte der zu bestellende Sachverständige zum
Schlusse kommen, eine solche Massnahme rechtfertige sich nicht, dann hätte
er Vorschläge zu machen, welche andere Formen der Betreuung im Falle des
Beschwerdeführers statt dessen angeordnet werden sollten. Kann aber auf
Grund des Gutachtens aus dem Jahre 1961 die Frage nicht beurteilt werden,
ob die getroffene Massnahme im Rahmen des Grundrechts der persönlichen
Freiheit als verhältnismässig zu gelten hat, dann steht auch dahin, ob
die Justizdirektion Art. 406 ZGB verfassungskonform angewendet hat. Der
angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben. Die Justizdirektion oder die
von ihr beauftragte Behörde wird vor einem neuen Entscheid betreffend die
Einweisung des Beschwerdeführers ein psychiatrisches Gutachten einzuholen
haben. Wegen seiner Geistesschwäche wird es sich der Beschwerdeführer
allerdings unter Umständen gefallen lassen müssen, dass er sich im Rahmen
dieser Begutachtung zur Beobachtung in einer Anstalt aufzuhalten haben
wird. In diesem Sinne ist die Beschwerde gutzuheissen.