Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IA 136



106 Ia 136

26. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 26. März 1980 i.S. G. gegen Regierungsrat des Kantons
Appenzell-A.Rh. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    I. Abstrakte Normenkontrolle: massgebliche Gesichtspunkte bei der
Prüfung der Verfassungsmässigkeit eines kantonalen Erlasses (Präzisierung
der Rechtsprechung).

    1. Grundsätzlich ist der kantonale Erlass nur aufzuheben, wenn er sich
einer verfassungskonformen Auslegung entzieht. Werden Grundrechte tangiert,
hat der Richter indessen auch die Wahrscheinlichkeit verfassungstreuer
Anwendung mit einzubeziehen, insbesondere zu berücksichtigen, unter
welchen Umständen die fragliche Norm zur Anwendung gelangen wird und wie
der Rechtsschutz gegen mögliche Grund rechtsverletzungen ausgestaltet ist
(E. 3a).

    2. Ein Gefängnisreglement für Untersuchungshaft muss durch eine
ausreichende Regelungsdichte und eine klare Fassung selber eine erhöhte
Gewähr für die Vermeidung verfassungswidriger Anordnungen bieten (E. 3b).

    II. Persönliche Freiheit.

    Für einen Untersuchungshäftling, der länger als einen Monat inhaftiert
ist, ergibt sich aus dem Grundrecht der Persönlichen Freiheit ein
erweiterter Anspruch auf Besuche der nächsten Familienangehörigen (E. 7a).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Bei der Prüfung der Verfassungsmässigkeit eines Erlasses im
Rahmen der abstrakten Normenkontrolle ist massgebend, ob der betreffenden
Norm nach anerkannten Auslegungsregeln ein Sinn zugemessen werden kann,
der sie mit den angerufenen Verfassungsgarantien vereinbar erscheinen
lässt. Das Bundesgericht hebt grundsätzlich die angefochtene kantonale
Vorschrift nur auf, wenn sie sich jeder verfassungskonformen
Auslegung entzieht, nicht jedoch, wenn sie einer solchen in
vertretbarer Weise zugänglich ist (BGE 104 Ia 99 E. 9, 249 lit. c,
je mit Hinweisen). Ermöglicht ein generell-abstrakter Erlass für die
Verhältnisse, die der Gesetzgeber als üblich voraussetzen konnte, eine
verfassungsmässige Regelung der einzelnen Fälle, spricht die Vermutung für
die Verfassungstreue des Gesetzgebers. Die ungewisse Möglichkeit, dass der
Erlass sich in besonders gelagerten Einzelfällen als verfassungswidrig
auswirken könnte, vermag ein Eingreifen des Verfassungsrichters im
Stadium der abstrakten Normenkontrolle im allgemeinen noch nicht zu
rechtfertigen, vor allem dann nicht, wenn im fraglichen Sachbereich
die Möglichkeit der späteren konkreten Normenkontrolle den Betroffenen
einen hinreichenden Schutz bietet (BGE 102 Ia 109). Der Gesetzgeber
ist aber seinerseits von Verfassungs wegen verpflichtet, bei der
Suche nach einer sachgerechten Lösung der zu regelnden Verhältnisse in
grundrechtsrelevanten Bereichen mit zu berücksichtigen, unter welchen
Umständen die betreffende Norm zur Anwendung gelangen wird und wie der
Rechtsschutz gegen mögliche Grundrechtsverletzungen ausgestaltet ist;
in diesem Zusammenhang ist auch die Natur und Bedeutung der allenfalls
betroffenen Rechte des Gesetzesadressaten und die Schwere der möglichen
Verletzung zu beachten. Im Rahmen der Verfassungsprüfung eines Erlasses im
abstrakten Normenkontrollverfahren hat der Richter daher die Möglichkeit
einer verfassungskonformen Auslegung nicht nur abstrakt zu untersuchen,
sondern auch die Wahrscheinlichkeit verfassungstreuer Anwendung mit
einzubeziehen (vgl. a. BGE 34 I 528; 102 Ia 287; 99 Ia 512/13; 81 I 125,
132; NIKLAUS MÜLLER, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Grundsatz
der verfassungskonformen Auslegung, Diss. Bern 1980, Abhandlungen
zum schweiz. Recht, S. 27 f., 135; CAMPICHE, Die verfassungskonforme
Auslegung, Diss. Zürich 1978, S. 100 ff., insbes. 103/4). Es lässt sich
nicht rechtfertigen, eine Norm bestehen zu lassen, wenn anzunehmen ist,
dass sie in der vorliegenden Fassung zu Verfassungsverletzungen führen
wird.

    b) Im vorliegenden Zusammenhang ist nach den gemachten Ausführungen
von Bedeutung, dass ein Gefängnisreglement, wie der Regierungsrat in
der Vernehmlassung selber angibt, die Rechtsstellung des Häftlings
namentlich gegenüber den Gefängnisbehörden klarzustellen hat. Für die
entsprechenden Amtsstellen soll damit eine Regelung geschaffen werden,
die ihnen vor allem in praktischen Fragen des täglichen Gefängnislebens
eine angemessene Lösung aufzeigt und sie zu einem modernen Grundsätzen
genügenden Haftvollzug anweist. Das Reglement wendet sich in erster
Linie an Beamte der Kantonspolizei (§ 2 Regl), d.h. an juristisch nicht
besonders ausgebildetes Personal. Diese Beamten sind darauf angewiesen,
dass sie sich für die üblichen Fälle rasch und zuverlässig am Wortlaut
der einzelnen Bestimmungen Orientieren können, ohne interpretatorische
Überlegungen anstellen zu müssen.

    Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Untersuchungsgefangene in einem
wichtigen Grundrecht beschränkt wird, wobei allerdings das Ausmass dieser
Beschränkung anhand der einzelnen Bestimmungen besonders zu prüfen ist,
und dass er sich infolge des Freiheitsentzuges in einer Ausnahmesituation
befindet, in welcher weitere Beschränkungen in erhöhtem Masse empfunden
werden. Diese Lage wird durch die Tatsache verstärkt, dass angesichts der
oftmals kurzen Haftdauer das Rechtsmittelverfahren in manchen Fällen nicht
geeignet sein wird, die Verfassungswidrigkeit der einzelnen Anordnungen
rechtzeitig zu beheben, und dass in andern Fällen der Rechtsschutz
erst verhältnismässig spät wirksam werden kann. Ein Gefängnisreglement
für Untersuchungshaft muss aus diesen Gründen durch eine ausreichende
Regelungsdichte und eine klare Fassung selber eine erhöhte Gewähr für die
Vermeidung verfassungswidriger Anordnungen bieten. Dieser Forderung ist
im vorliegenden Fall umso mehr zu genügen, als das Reglement nicht im
formellen Gesetzgebungsverfahren korrigiert werden muss, sondern durch
einfachen Erlass der Regierung abgeändert werden kann; es rechtfertigt
sich diesfalls kaum, in Zweifelsfällen die kantonale Regierung lediglich
bei ihren Zusicherungen über die Verfassungskonforme Auslegung bestimmter
Vorschriften zu behaften und die künftige verfassungsgemässe Anwendung
durch geeignete Mittel der Verwaltungsaufsicht, z.B. durch entsprechende
Weisungen an die untern Amtsstellen, sicherstellen zu lassen.

    In diesem Sinne ist zu prüfen, ob die einzelnen Bestimmungen des
angefochtenen Erlasses vor der Verfassung standhalten.

Erwägung 7

    7.- Wegen Verletzung der persönlichen Freiheit und mangels
Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht verlangt der Beschwerdeführer
die Aufhebung von § 19 Abs. 2 und 5 des Reglementes. Er beruft sich in
diesem Zusammenhang ausserdem auf Art. 8 EMRK.

    § 19 Regl lautet:

    "1 Besuche bedürfen einer Bewilligung. Bewilligt werden können nur

    Besuche, die weder die Anstaltsordnung noch den Untersuchungszweck
   gefährden. Entsprechende Gesuche sind der zuständigen Amtsstelle
   frühzeitig vorzulegen.

    2 In der Regel gelten die folgenden Einschränkungen:

    - Besuche sind frühestens nach Ablauf einer Woche möglich.

    - Sie dauern höchstens zwanzig Minuten.

    - Wöchentlich wird nur ein Besuch bewilligt.

    - Die Besuche sind den Angehörigen vorbehalten.

    3 Die Besucher haben sich über ihre Person auszuweisen. Im Einzelfall
   kann die Besuchsbewilligung davon abhängig gemacht werden, dass der

    Besucher sich einer Durchsuchung der Kleider und Effekten unterzieht.

    4 Die Besuche werden überwacht. Die Unterhaltung darf sich nicht
auf ein
   hängiges Strafverfahren beziehen.

    5 Die Besuche von Verteidiger, Gefangenenseelsorger und Gefängnisarzt
   unterliegen keinen Beschränkungen. Vorbehalten bleibt Abs. 3."

    a) Der Beschwerdeführer bezeichnet diese Regelung in verschiedener
Hinsicht als übermässig restriktiv. Er rügt zunächst, die Besuchsdauer
sei zu kurz und das Besuchsverbot in der ersten Woche treffe die Familie
des oder der Inhaftierten übermässig. Es verletze deshalb auch Art. 8 EMRK.

    Art. 8 EMRK garantiert in Abs. 1 den Anspruch auf Achtung des Privat-
und Familienlebens. Eingriffe in dieses Recht sind jedoch gerechtfertigt,
soweit sie gesetzlich vorgesehen sind und in einer demokratischen
Gesellschaft zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Verhinderung von
strafbaren Handlungen notwendig erscheinen. Eine allgemeine Regelung
kann somit dem Familienleben Beschränkungen unterwerfen, die zur
Durchführung rechtmässiger Strafverfolgungsmassnahmen erforderlich sind
(vgl. unveröffentlichtes Urteil Z. c. Staatsanwaltschaft und Anklagekammer
des Kts St. Gallen vom 31. August 1978, S. 10). Art. 8 EMRK bietet daher
dem Untersuchungsgefangenen keinen weitergehenden Schutz als die Garantie
der persönlichen Freiheit der Bundesverfassung gegen die Beschränkung
von Besuchen.

    Das Bundesgericht hat in früheren Entscheiden eine Regelung, welche von
der zweiten Haftwoche an Besuche während einer Viertelstunde wöchentlich
ermöglicht, als mit der Garantie der persönlichen Freiheit vereinbar,
wenn auch sehr restriktiv und an den Grenzen des Zulässigen erachtet;
dabei war allerdings ausdrücklich eine zusätzliche Besuchsmöglichkeit bei
dringenden Angelegenheiten vorgesehen (BGE 99 Ia 286; 102 Ia 300). § 19
Abs. 2 Regl, welcher nach einer Wartefrist von einer Woche Besuche während
20 Minuten gewährleistet, erscheint daher namentlich mit Rücksicht darauf,
dass diese Besuchsordnung ausdrücklich nur "in der Regel" gelten soll,
wenn auch nicht als sehr grosszügig, so doch als verfassungsmässig: durch
den Hinweis darauf, dass die so beschränkte Besuchsmöglichkeit lediglich
als Regel zu Verstehen ist, ist eine verfassungskonforme Anwendung und eine
flexible Handhabung in Ausnahm en nicht nur möglich, sondern erscheint bei
kurzer Haftdauer auch ausreichend gewährleistet. Anders ist die Sachlage
allerdings bei einer längerdauernden Untersuchungshaft zu beurteilen. Eine
Besuchsdauer von in der Regel insgesamt nur 20 Minuten pro Woche zieht bei
monatelangem Freiheitsentzug das Verhältnis des Inhaftierten zu seiner
engeren Familie, d.h. zu de n Kindern und zum Ehepartner, übermässig
in Mitleidenschaft. Eine erhebliche Störung der familiären Bezugswelt
bedeutet aber im allgemeinen auch den Entzug oder jedenfalls eine
Beeinträchtigung einer wichtigen Grundlage der Persönlichkeitsentfaltung
für den Betroffenen. Berücksichtigt man, dass nur wenige Gefangene
während Monaten in Untersuchungshaft bleiben, lässt sich ein solch
schwerer Eingriff in die Freiheit nicht nur des Gefangenen, sondern auch
seiner Angehörigen nicht mehr mit dem Hinweis auf die Bedürfnisse der
Anstaltsordnung rechtfertigen. Es erscheint deshalb geboten, dass dem
Untersuchungsgefangenen ausdrücklich das Recht gewährleistet wird, in der
Regel nach Ablauf eines Monates pro Woche insgesamt während mindestens
einer Stunde Besuche von nahen Familienangehörigen, namentlich von
seiner Frau und von seinen Kindern, zu empfangen. Dieser Anspruch ergibt
sich direkt aus der verfassungsrechtlichen Garantie der persönlichen
Freiheit. Soweit § 19 Regl ihm nicht Genüge tut, ist die Vorschrift
aufzuheben.