Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 106 IA 1



106 Ia 1

1. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18.
Januar 1980 i.S. Waeber gegen Kantonsschule Reussbühl und Erziehungsrat
des Kantons Luzern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; kantonales Beschwerdeverfahren.

    Eine kantonale Rechtsmittelbehörde, die nach der gesetzlichen Ordnung
freie Überprüfungsbefugnis hat, kann ihre Kognition ohne Verstoss gegen
Art. 4 BV auf das Vorliegen von Willkür beschränken, wenn sie über die
Bewertung von Examensleistungen zu entscheiden hat. Anders verhält es
sich, wenn die Auslegung und Anwendung von Rechtssätzen streitig ist oder
Verfahrensmängel gerügt worden sind.

Sachverhalt

    A.- Irene Waeber besuchte im Schuljahr 1978/79 die sechste Klasse des
Literaturgymnasiums der Kantonsschule Reussbühl. Die Klassenkonferenz
beschloss am Ende des Schuljahres, sie wegen ungenügender Leistungen
nicht in die Maturitätsklasse zu versetzen. Die beim Erziehungsrat des
Kantons Luzern erhobene Beschwerde blieb ohne Erfolg. Irene Waeber rügt
mit staatsrechtlicher Beschwerde, der Erziehungsrat habe seine Kognition
in unzulässiger Weise beschränkt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- (Ausführungen darüber, dass das luzernische Erziehungsgesetz
gegen den Entscheid über die Nichtversetzung die Verwaltungsbeschwerde
vorsieht. Mit diesem Rechtsmittel kann nach der Regelung des
Verwaltungsrechtspflegegesetzes die unrichtige oder unvollständige
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts, unrichtige Rechtsanwendung
und unrichtige Handhabung des Ermessens gerügt werden.)

    c) In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Rechtsmittelbehörde,
die nach der gesetzlichen Ordnung mit freier Prüfung zu entscheiden hat,
ihre Kognition ohne Verstoss gegen Art. 4 BV einschränken kann, soweit die
Natur der Streitsache einer unbeschränkten Nachprüfung der angefochtenen
Verfügung entgegensteht (BGE 99 Ia 590 E. 1). Das ist namentlich der
Fall, wenn die Rechtsmittelbehörde die dem angefochtenen Entscheid
zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse nicht in gleicher Weise wie
die untere Instanz zu beurteilen vermag und es ihr deshalb verwehrt ist,
ihr Ermessen an die Stelle desjenigen der unteren Instanz zu setzen. Wie
das Bundesgericht bereits in BGE 99 Ia 590 E. 1 entschieden hat, kann die
Rechtsmittelbehörde ihre Kognition ohne Verstoss gegen Art. 4 BV namentlich
dann beschränken, wenn sie über die Bewertung von Examensleistungen
zu befinden hat. Derartige Bewertungen sind kaum überprüfbar, weil der
Rechtsmittelbehörde zumeist nicht alle massgebenden Faktoren der Bewertung
bekannt sind. So ist es ihr in der Regel nicht möglich, sich über den
im Unterricht vermittelten Stoff, die Gesamtheit der Leistungen des
Beschwerdeführers in der Prüfung und die Leistungen der übrigen Kandidaten
ein zuverlässiges Bild zu machen. Die Prüfungen haben darüber hinaus
häufig Spezialgebiete zum Gegenstand, in denen die Rechtsmittelbehörde
über keine eigenen Fachkenntnisse verfügt. Besondere Schwierigkeiten
ergeben sich für die Nachprüfung überdies dann, wenn Notengebungen zu
beurteilen sind, die sich nicht ausschliesslich auf schriftliche, sondern
auch auf mündliche Prüfungen beziehen oder wenn bei der Bewertung zu
berücksichtigen ist, wie sich ein Schüler während einer längeren Zeitspanne
am Unterricht beteiligt hat. Der massgebende Sachverhalt kann in diesen
Fällen durch Beweiserhebungen der Rechtsmittelbehörde nicht vollständig
rekonstruiert werden. Eine freie Überprüfung der Notengebung ist daher
schon aus diesem tatsächlichen Grunde ausgeschlossen. Wie das Bundesgericht
unlängst dargetan hat, birgt die Abänderung einer Examensbewertung zudem
die Gefahr neuer Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten gegenüber anderen
Kandidaten in sich. Diese Gefahr besteht namentlich dann, wenn die Prüfung
aufgrund des Rechtsmittelentscheids wiederholt werden muss, denn Examen
lassen sich nicht unter völlig gleichen Bedingungen nochmals durchführen
(BGE 105 Ia 190 E. 2a). In der Schweiz herrscht daher ganz allgemein
die Auffassung vor, dass die Bewertung von schulischen Leistungen
von der Rechtsmittelbehörde nicht frei, sondern nur mit beschränkter
Kognition zu überprüfen sei (vgl. IMBODEN/RHINOW, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, 5. A., Nr. 66 B IIa, d, B Va, Nr. 67 B IIIc und
dort angeführte Entscheide). Gleich verhält es sich in der Bundesrepublik
Deutschland (vgl. ERICHSEN/ MARTENS, Allgemeines Verwaltungsrecht,
3. A., S. 350 ff.; VON MÜNCH, Besonderes Verwaltungsrecht, 2. A., S. 592).

    Wenn die Beschränkung der Kognition nicht auf einer gesetzlichen
Vorschrift beruht, so ist sie ohne Verstoss gegen Art. 4 BV jedoch
nur hinsichtlich der eigentlichen Bewertung der erbrachten Leistungen
zulässig. Soweit die Auslegung und Anwendung von Rechtsvorschriften
streitig ist oder soweit Verfahrensmängel gerügt werden, hat die
Rechtsmittelbehörde die erhobenen Einwendungen mit freier Kognition
zu prüfen (vgl. auch PLOTKE, Probleme des Schulrechts, Prüfungen
und Promotionen, Diss. Bern 1974, S. 354 ff.; ders. Schweizerisches
Schulrecht, S. 495 ff.; MÜLLER, Schule und Schulbenützer, eine Untersuchung
der gegenseitigen Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung des
aargauischen Rechts, Diss. Zürich 1978, S. 216 ff.). Auf Verfahrensfragen
haben alle Einwendungen Bezug, die den äusseren Ablauf des Examens oder der
Bewertung betreffen. Eine Verfahrensfrage betrifft auch die Einwendung,
es sei bei der Notengebung in rechtsungleicher Weise von den Grundsätzen
abgewichen worden, die der Examinator in allen andern Fällen befolgt
habe. Prüft die Rechtsmittelbehörde derartige Einwendungen lediglich mit
beschränkter Kognition, obwohl ihr nach der gesetzlichen Ordnung eine freie
Prüfung obliegt, so begeht sie eine formelle Rechtsverweigerung. Das hat
die Aufhebung ihres Entscheids zur Folge, ohne dass zu untersuchen ist,
ob er bei richtigem Vorgehen anders ausgefallen wäre.

    Beigefügt sei schliesslich, dass sich auch das Bundesgericht besondere
Zurückhaltung auferlegt, wenn es auf staatsrechtliche Beschwerde hin die
Bewertung von Examensleistungen zu beurteilen hat. Das Bundesgericht prüft
bei solchen Beschwerden in erster Linie, ob das gesetzlich vorgeschriebene
oder unmittelbar durch Art. 4 BV gewährleistete Prüfungsverfahren
durchgeführt wurde und ob die kantonalen Rechtsmittelbehörden ihrer
Kontrollpflicht in hinreichender Weise nachgekommen sind. Bezüglich
der Bewertung von Examensleistungen prüft es lediglich, ob sich die
entscheidenden Instanzen von sachfremden Erwägungen haben leiten lassen,
so dass der Prüfungsentscheid unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten
als nicht mehr vertretbar erscheint (BGE 105 Ia 190 E. 2a).