Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 93



105 V 93

22. Urteil vom 2. Mai 1979 i.S. M. gegen Eidgenössische Militärversicherung
und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Regeste

    Art. 108 Abs. 2 und 132 OG. Wird in einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gegen einen Nichteintretensentscheid der Vorinstanz ein materieller
Beschwerdeantrag gestellt, so umfasst dieser auch das Begehren, die
Vorinstanz habe auf die Sache einzutreten (Erw. 1).

    Art. 11 Abs. 5 und Art. 12 Abs. 1-4 MVG. Begriff des Vorschlages
bzw. der Verfügung der Militärversicherung im Gegensatz zum sog. "Préavis",
namentlich bei Vornahme einer Rentenkürzung im Sinne von Art. 45 IVG
(Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Hans M. bezieht von der Militärversicherung eine auf einem
Invaliditätsgrad von einem Drittel basierende Invalidenrente, die sich seit
der Revisionsverfügung vom 23. April 1975 auf Fr. 625.95 im Monat beläuft.
Mit Verfügung vom 28. April 1978 lehnte es die Militärversicherung
ab, den Invaliditätsgrad revisionsweise zu erhöhen. Mit Schreiben vom
29. April 1978 teilte sie ihrem Versicherten mit, im Hinblick auf die ihm
zustehende Rente der Invalidenversicherung (IV-Rente) werde die Rente der
Militärversicherung (MV-Rente) gemäss Art. 45 IVG um Fr. 607.50 gekürzt,
so dass ab 1. April 1978 noch Fr. 18.45 im Monat ausbezahlt würden.

    B.- Hans M. beschwerte sich beim Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und beantragte, die MV-Rente sei ihm ungekürzt im Betrage von
Fr. 625.95 monatlich auszuzahlen. Er wies darauf hin, dass er auf 1. April
1978 sein Coiffeurgeschäft aus gesundheitlichen Gründen habe aufgeben
müssen, und machte geltend, er sei nun zu 100% arbeitsunfähig. Rechne
man die IV-Rente und die (ungekürzte) MV-Rente zusammen, so ergebe sich
ein Total von Fr. 25'836.-- pro Jahr, welches unter der "Kürzungsgrenze"
der Militärversicherung liege.

    Das kantonale Versicherungsgericht trat jedoch in seinem Entscheid
vom 17. Juli 1978 auf die Beschwerde nicht ein. Es ging davon aus, dass
sich diese nicht gegen die Verfügung vom 28. April 1978, sondern gegen
das Schreiben vom 29. April 1978 betreffend die Rentenkürzung richte. Bei
letzterem handle es sich aber bloss um eine vorläufige Mitteilung im Sinne
von Art. 11 Abs. 5 MVG und nicht um eine beschwerdefähige Verfügung im
Sinne von Art. 12 Abs. 3 MVG.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beanstandet Hans
M., dass "die Invalidenversicherung praktisch den ganzen Teil der Rente
übernehmen soll", während er des grössten Teils der MV-Rente verlustig
gehe. Er macht wiederum geltend, dass IV-Rente und MV-Rente zusammen den
für die Kürzung massgebenden Betrag nicht erreichen würden.

    Die Militärversicherung beantragt Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen den
vorinstanzlichen Nichteintretensentscheid. Obwohl sie sich nur mit der
materiellen Seite des Streitfalles befasst, ist darin der Antrag auf
Eintreten praxisgemäss als miteingeschlossen zu betrachten. Es ist also zu
prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde nicht eingetreten
ist, wogegen das Eidg. Versicherungsgericht auf die materiellen Anträge
nicht eintreten kann.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz geht richtigerweise davon aus, dass sich die
Beschwerde nicht gegen die Revisionsverfügung vom 28. April 1978, sondern
gegen die Mitteilung vom 29. April 1978 betreffend Rentenkürzung richtet...

Erwägung 3

    3.- Eine Rentenkürzung im Sinne von Art. 45 IVG greift in die Rechte
des Versicherten ein und hat deshalb Verfügungscharakter (Art. 5 Abs. 1
VwVG). Dementsprechend pflegt die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
ihren Versicherten die Kürzung einer Rente nach Art. 45 IVG stets in
Form einer beschwerdefähigen Verfügung zu eröffnen. Es fragt sich, ob
dies im Hinblick auf die besonderen gesetzlichen Verfahrensregeln für
die Militärversicherung in gleicher Weise gelte.

    a) Art. 12 Abs. 1-4 MVG sieht für die "Verfügung der
Militärversicherung" - so das Marginale zu diesem Artikel - ein
besonderes Verfahren vor, indem vor Verfügungserlass dem Versicherten
der sog. "Vorschlag" zu unterbreiten ist, der die Rechtskraft einer
endgültigen Verfügung erlangt, wenn er vom Versicherten ausdrücklich
angenommen wird. Demgegenüber bildet die in Art. 11 Abs. 5 MVG vorgesehene,
dem Vorschlag vorausgehende Mitteilung (der sog. "Préavis") einen Teil
des "Erhebungsverfahrens" (Marginale zu Art. 11). Diese Mitteilung
eröffnet dem Versicherten die Möglichkeit, die Akten einzusehen und
Ergänzungen der Abklärung zu beantragen, zieht aber keine Rechtsfolgen
im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VwVG nach sich und hat dementsprechend nicht
Verfügungscharakter. Im Gegensatz zu Vorschlag und Verfügung muss die
Mitteilung denn auch nicht mit eingeschriebenem Brief eröffnet werden
(vgl. Art. 12 Abs. 4 MVG). Die gesetzliche Ordnung verbietet nicht und es
erscheint sogar zweckmässig, dass auch einer Rentenkürzung im Sinne von
Art. 45 IVG ein Préavis vorangeht. Dass dieser im Gesetz im Zusammenhang
mit der Abklärung von Leistungsbegehren geregelt ist, steht dem nicht
entgegen, da auch für die Rentenkürzung Abklärungen erforderlich sein
können und auch hier dem Versicherten die Möglichkeit offenstehen soll,
die Akten einzusehen und Ergänzungsanträge zu stellen. Wenn aber die
Militärversicherung über eine Kürzung gemäss Art. 45 IVG vorerst einen
Préavis nach Art. 11 Abs. 5 MVG zustellt, so liegt darin keine Verfügung
und der Beschwerdeweg steht daher nicht offen.

    b) Im vorliegenden Fall geht die Vorinstanz in Übereinstimmung mit der
Militärversicherung davon aus, dass es sich beim Schreiben vom 29. April
1978 um eine solche, bloss vorläufige und nicht beschwerdefähige Mitteilung
im Sinne von Art. 11 Abs. 5 MVG handle.

    Indes entspricht der vorgedruckte Text jener Mitteilung nicht dem
Art. 11 Abs. 5 MVG und steht in auffallendem Gegensatz zum Formulartext,
den die Militärversicherung für solche Mitteilungen sonst zu verwenden
pflegt. Anstatt dem Versicherten Gelegenheit zu geben, Stellung zu
nehmen, die Akten einzusehen oder Ergänzungsanträge zu stellen, wird
eine einmonatige Einsprachefrist für "allfällige Einwendungen gegen
die Kürzung" angesetzt. Zur Bedeutung dieser Einsprachemöglichkeit
äussert sich die Militärversicherung in ihrer Vernehmlassung an das
Eidg. Versicherungsgericht dahin, dass über Streitpunkte betreffend
Rentenkürzung zwar das "übliche Verwaltungsverfahren" durchzuführen,
hierzu aber erforderlich sei, dass gegen die Kürzungsmitteilung gemäss
aufgeführter Rechtsmittelbelehrung Einsprache erhoben werde, worauf
die Militärversicherung den Vorschlag und anschliessend allerdings die
Verfügung erlasse. Daraus ist zu schliessen, dass es offenbar mit der
Mitteilung sein Bewenden haben soll, falls nicht Einsprache erhoben
wird. Dies aber ist mit der gesetzlichen Regelung unvereinbar. Danach
ist in jedem Fall - habe nun der Versicherte auf den Préavis reagiert
oder nicht - der Vorschlag gemäss Art. 12 MVG zu eröffnen, und es ist
folglich unzulässig, die Eröffnung des Vorschlags bzw. den allfälligen
Erlass der Verfügung von einer Einsprache des Versicherten, die zudem
noch fristgebunden ist, abhängig zu machen.

    Aus all diesen Gründen erscheint das Schreiben vom 29. April 1978 nicht
als vorläufige Mitteilung im Sinne von Art. 11 Abs. 5 MVG. Es kann aber
auch nicht als Vorschlag im Sinne von Art. 12 MVG betrachtet werden. Ein
solcher hätte von der Direktion ausgehen müssen, und ein Stillschweigen
des Versicherten dürfte nach der gesetzlichen Ordnung nicht als Zustimmung
dazu gewertet werden.

Erwägung 4

    4.- Zusammenfassend ergibt sich somit, dass über die streitige
Rentenkürzung keine beschwerdefähige Verfügung vorliegt, weshalb die
Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde nicht eingetreten ist. Weil
sich aber gleichzeitig erwiesen hat, dass die Militärversicherung nicht
gesetzeskonform vorgegangen ist, ist die Sache an diese zurückzuweisen,
damit sie im Sinne der Vorschriften von Art. 11 Abs. 5 und 12 MVG
verfahre...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf
einzutreten ist. Die Sache wird an die Militärversicherung zurückgewiesen,
damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre.