Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 52



105 V 52

14. Urteil vom 9. August 1979 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen
Bitzi und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 43bis Abs. 1 AHVG, 42 Abs. 2 IVG und 36 Abs. 1 IVV.

    - Die Hilflosigkeit gilt als schwer, wenn nebst der in den relevanten
alltäglichen Lebensverrichtungen erforderlichen Dritthilfe zusätzlich
die dauernde Notwendigkeit der Pflege oder der persönlichen Überwachung
besteht (Erw. 3).

    - Die Mitwirkung Dritter bei den relevanten alltäglichen
Lebensverrichtungen kann in der Form direkter Hilfe oder in der Form
gezielter Überwachung erfolgen (Erw. 4a).

    - Der dauernden Notwendigkeit von Pflege oder persönlicher Überwachung
kommt nur untergeordnete Bedeutung zu (Erw. 4b).

    - Auslegung der Begriffe "Hilfe Dritter, dauernde Pflege, persönliche
Überwachung" gemäss Art. 36 Abs. 1 IVV (Erw. 4b). Bei dieser Auslegung
verstösst Art. 36 Abs. 1 IVV weder gegen Art. 42 Abs. 2 lVG noch gegen Art.
43bis Abs. 1 AHVG.

Sachverhalt

    A.- Die 1914 geborene Agatha Bitzi, Bezügerin einer Altersrente,
ersuchte am 1. April 1977 die Invalidenversicherungs-Kommission um
Zusprechung einer Hilflosenentschädigung. Mit Verfügung vom 21. Juni 1977
wies die Ausgleichskasse dieses Gesuch ab, weil die Versicherte nicht in
schwerem Grade hilflos sei.

    B.- Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht
des Kantons Luzern mit Entscheid vom 4. Oktober 1978 gut und
verpflichtete die Ausgleichskasse, der Versicherten ab 1. Februar
1977 eine Hilflosenentschädigung auszurichten. Es begründete seinen
Entscheid im wesentlichen damit, dass die Versicherte - gemäss Zeugnis des
Dr. med. K. vom 20. Juni 1978 - in allen alltäglichen Lebensverrichtungen
ganz oder teilweise der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung
bedürfe.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt das Bundesamt für Sozialversicherung
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche
Entscheid aufzuheben und die Akten seien zur weiteren Abklärung an
die Verwaltung zurückzuweisen. Zur Begründung macht das Bundesamt im
wesentlichen geltend, gemäss Art. 36 Abs. 1 IVV müsse "zusätzlich zur
erheblichen Hilfe Dritter in allen alltäglichen Lebensverrichtungen das
Bedürfnis der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung gegeben
sein". Da auf Grund der Akten nicht zuverlässig beurteilt werden könne, ob
die Versicherte diese Voraussetzungen der schweren Hilflosigkeit erfülle,
sei die Sache zur weiteren Abklärung an die Verwaltung zurückzuweisen.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern vertritt in seiner
Vernehmlassung die Ansicht, dass die Bestimmung in Art. 36 Abs. 1 IVV,
wonach bei der schweren Hilflosigkeit nebst der Hilfe Dritter in allen
alltäglichen Lebensverrichtungen "überdies" das Bedürfnis der dauernden
Pflege oder der persönlichen Überwachung vorausgesetzt werde, gegen Art. 42
Abs. 2 IVG verstosse. Dieses zusätzliche Erfordernis würde im übrigen dazu
führen, dass Art. 43bis Abs. 1 AHVG praktisch ausser Kraft gesetzt werde.

    Agatha Bitzi lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 43bis Abs. 1 AHVG haben in der Schweiz wohnhafte
Personen, denen eine Altersrente zusteht und die in schwerem Grade hilflos
sind, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Für den Begriff und die
Bemessung der Hilflosigkeit sind die Bestimmungen des Bundesgesetzes über
die Invalidenversicherung sinngemäss anwendbar (Art. 43bis Abs. 5 AHVG).

    Gemäss Art. 42 Abs. 2 IVG gilt als hilflos, wer wegen Invalidität für
die alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der
persönlichen Überwachung bedarf. Zu diesen Verrichtungen gehören das An-
und Auskleiden, Aufstehen, Absitzen, Abliegen und Essen, die Körperpflege,
das Verrichten der Notdurft, die Fortbewegung sowie das normalmenschliche,
der Gemeinschaft angepasste Verhalten, wie es der Alltag mit sich bringt.

    Nach Art. 36 Abs. 1 IVV gilt die Hilflosigkeit als schwer, "wenn der
Versicherte vollständig hilflos ist. Dies ist der Fall, wenn er in allen
alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf
die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies der dauernden Pflege oder
der persönlichen Überwachung bedarf."

Erwägung 2

    2.- In BGE 104 V 130 hat sich das Eidg. Versicherungsgericht mit der
Auslegung des Art. 36 Abs. 1 IVV befasst. Es hat dabei festgestellt,
dass "vollständige" Hilflosigkeit rein begrifflich nicht identisch
ist mit "schwerer" Hilflosigkeit. Aber der Begriff "vollständig"
ist auch nicht in extremer Weise zu verstehen. "Vollständig" im Sinne
von Art. 36 Abs. 1 IVV bezieht sich lediglich auf die verschiedenen
relevanten Lebensverrichtungen, d.h. vollständig hilflos bedeutet, dass
der Versicherte in allen relevanten Lebensverrichtungen hilfsbedürftig
ist. In den einzelnen Lebensverrichtungen braucht dagegen der Versicherte
nach Art. 36 Abs. 1 IVV nicht "vollständig" hilfsbedürftig zu sein,
sondern bloss "in erheblicher Weise".

    Im Lichte dieser Auslegung ist es nicht zu beanstanden, wenn die
Vorinstanz, gestützt auf den Arztbericht des Dr. K., in allen relevanten
Lebensverrichtungen eine erhebliche Hilfsbedürftigkeit bejaht hat. Die
Argumentation in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde bezieht sich denn auch
nicht auf diesen Punkt.

Erwägung 3

    3.- Das Bundesamt für Sozialversicherung vertritt in seiner
Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Auffassung, dass nebst der erheblichen
Hilfe Dritter in den relevanten Lebensverrichtungen "zusätzlich" das
Bedürfnis der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung gegeben
sein müsse. Dieser Auffassung ist beizupflichten. Denn der Ausdruck
"überdies" im zweiten Satz des Art. 36 Abs. 1 IVV ist kumulativ zu
verstehen.

    Die Vorinstanz vertritt in ihrer Vernehmlassung allerdings die Ansicht,
diese Kumulation sei gesetzwidrig. Bei der Beurteilung dieser Frage ist
davon auszugehen, dass Art. 42 Abs. 2 IVG die schwere Hilflosigkeit nicht
selber definiert, sondern deren Regelung dem Bundesrat überlässt (Art. 42
Abs. 4 IVG). Wenn dieser in Art. 36 Abs. 1 IVV die schwere Hilflosigkeit
in dem Sinne umschreibt, dass nebst der erheblichen Hilfe Dritter in allen
relevanten Lebensverrichtungen zusätzlich ("überdies") das Bedürfnis der
dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung gegeben sein muss,
so hält sich dies im Rahmen der gesetzlichen Delegation. Denn Art. 42
Abs. 2 IVG schliesst die Kumulation der Hilfe Dritter und der persönlichen
Überwachung nicht aus. Vielmehr werden zwei mögliche Erscheinungsformen der
Hilflosigkeit aufgeführt. Es ist daher vertretbar, wenn bei der schweren
Hilflosigkeit die dauernde Notwendigkeit sowohl der Hilfe Dritter wie
der Pflege oder der persönlichen Überwachung vorausgesetzt wird.

Erwägung 4

    4.- Diese Auslegung des Art. 36 Abs. 1 IVV darf indes nicht dazu
führen, dass eine Entschädigung für Hilflosigkeit schweren Grades nur
noch in seltenen Ausnahmefällen gewährt werden könnte. Dies entspräche
nicht dem Sinn des Art. 42 IVG, der die Entschädigung nach dem Grad der
Hilflosigkeit abgestuft wissen will, ohne den höchsten Entschädigungssatz
als Ausnahmefall zu normieren. Es ist dabei auch an die hilflosen
Altersrentner zu denken, denen überhaupt nur bei schwerer Hilflosigkeit
eine Entschädigung zusteht und die daher in den meisten Fällen gänzlich
leer ausgehen würden, was nicht dem Sinn des Art. 43bis Abs. 1 AHVG
entsprechen kann. Es ist daher bei der Anwendung von Art. 36 Abs. 1 IVV
folgendes zu beachten:

    a) Die Grundvoraussetzung der Hilflosigkeit schweren Grades besteht
darin, dass der Versicherte in allen relevanten Lebensverrichtungen
in erheblicher Weise (nicht vollständig) auf Dritthilfe angewiesen ist
(dazu BGE 104 V 130). Der Begriff dieser Dritthilfe ist in dem Sinne
zu präzisieren, dass die Hilfe auch bloss in Form einer Überwachung des
Versicherten bei Vornahme der relevanten Lebensverrichtungen bestehen
kann, indem zum Beispiel die Drittperson den Versicherten auffordert,
eine Lebensverrichtung vorzunehmen, die er wegen seines psychischen
Zustandes ohne besondere Aufforderung nicht vornehmen würde (indirekte
Dritthilfe, Rz 294 der Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit,
Druckvorlage vom 1. Juni 1978).

    b) Die Voraussetzung der Dritthilfe im soeben umschriebenen Sinne
ist bereits derart umfassend, dass den weiteren Voraussetzungen der
dauernden Pflege oder der dauernden persönlichen Überwachung nur noch
untergeordnete Bedeutung zukommen kann. Schon eine minimale Erfüllung
dieser Voraussetzungen muss daher genügen.

    "Dauernd" hat nicht die Bedeutung von "rund um die Uhr", sondern ist
als Gegensatz zu "vorübergehend" (wie z.B. infolge einer interkurrenten
Krankheit) zu verstehen, in gleichem Sinne also wie der in Art. 4 Abs. 1
IVG vorausgesetzte "voraussichtlich bleibende" oder "längere Zeit dauernde"
Zustand.

    Pflege und Überwachung beziehen sich nicht auf die alltäglichen
Lebensverrichtungen. Es handelt sich vielmehr um eine Art medizinischer
oder pflegerischer Hilfeleistung, welche infolge des physischen oder
psychischen Zustandes des Versicherten notwendig ist. Dabei genügt,
wie oben erwähnt, eine minimale Hilfeleistung.

    Unter Pflege ist zum Beispiel die Notwendigkeit zu verstehen, täglich
Medikamente zu verabreichen oder eine Bandage anzulegen. Dabei ist im
Hinblick auf Rz 298.4 der Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit
(Druckvorlage vom 1. Juni 1978) zu präzisieren, dass es nicht entscheidend
ist, dass der Versicherte in einem Pflegeheim oder Spital untergebracht
ist. Im Falle einer auswärtigen Unterbringung ist deren Zweck massgebend,
ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der betreffenden Anstalt. So
kann ein Versicherter auch in einem Altersheim die Voraussetzung der
Pflegebedürftigkeit erfüllen.

    Die Notwendigkeit der persönlichen Überwachung ist zum Beispiel dann
gegeben, wenn ein Versicherter wegen geistiger Absenzen nicht während
des ganzen Tages allein gelassen werden kann.

Erwägung 5

    5.- Im vorliegenden Fall lässt sich nicht zuverlässig beurteilen,
ob die Beschwerdegegnerin nebst der Dritthilfe in den relevanten
Lebensverrichtungen zusätzlich dauernd der Pflege oder der persönlichen
Überwachung bedarf. Die Sache ist daher zur Prüfung dieser Frage an die
Verwaltung zurückzuweisen, die gestützt darauf über den Anspruch der
Beschwerdegegnerin auf eine Hilflosenentschädigung neu zu verfügen hat.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass
der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 4. Oktober
1978 sowie die Verfügung der Ausgleichskasse vom 21. Juni 1977 aufgehoben
werden und die Sache an die Ausgleichskasse zurückgewiesen wird, damit
diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, neu verfüge.