Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 319



105 V 319

66. Urteil vom 20. Dezember 1979 i.S. P. gegen Bundesamt für
Militärversicherung und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 25 Abs. 3 und Art. 40bis MVG.

    - Rentenanspruch bei gleichzeitiger Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit und der körperlichen oder psychischen Integrität;
Bestätigung der Praxis (Erw. 1).

    - Versicherte, die eine Rente gemäss Art. 25 Abs. 3 MVG beziehen,
haben keinen Anspruch auf Genugtuung (Erw. 2).

    - Bemerkung de lege ferenda (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Hans P. verunfallte am 22. Februar 1971 als Pilot eines
Armee-Helikopters. Er zog sich u.a. eine Contusio cerebri, eine
Rippenserienfraktur sowie eine Humerusluxationsfraktur links zu
und war während mehrerer Wochen bewusstlos. Die mehr als ein Jahr
dauernde Spitalbehandlung mit anschliessender Badekur führte in
körperlicher Hinsicht zu einer weitgehenden Heilung. Dagegen blieb eine
posttraumatische Enzephalopathie mit Hirnleistungsschwäche und organischer
Persönlichkeitsveränderung im Sinne eines psychoorganischen Syndroms
leichten bis mittelschweren Grades bestehen (Gutachten Prof. S. vom
15. Februar 1973). Mit Aufenthalten in den Neurologischen Kliniken
G./BRD vom 20. September bis 13. Dezember 1973 und 23. September bis
18. November 1974 konnte eine Besserung auch mit Bezug auf die geistige
Leistungsfähigkeit erreicht werden. In der Folge zeigte sich jedoch,
dass der Versicherte nicht mehr in der Lage war, seinen Beruf als
Lehrer auszuüben. Von April 1975 bis Frühjahr 1977 war er im Sinne einer
Arbeitstherapie bei einer Schuldirektion tätig. Seither arbeitet er ohne
Lohn und ohne feste Arbeitszeit auf einem Bundesamt. Er ist verbeiständet
und lebt seit Oktober 1976 von Ehefrau und Kindern getrennt.

    Die Militärversicherung richtet Hans P. seit dem 23. Februar 1971
eine Rente auf Grund voller Bundeshaftung, eines Leistungsansatzes
von 90% und einer Invalidität von 100% aus. Ab dem 1. Oktober 1975
belief sich die Rente bei einem anrechenbaren Jahresverdienst von
Fr. 53'520.-- (gesetzliches Maximum) auf Fr. 4'014.-- und nach der am
1. Januar 1976 in Kraft getretenen Erhöhung des höchstanrechenbaren
Verdienstes (Fr. 56'196.--) auf Fr. 4'214.70 im Monat. Nebst dieser
Rente bezieht er eine Rente sowie eine Hilflosenentschädigung der
Invalidenversicherung. Nach den Abklärungen der Militärversicherung machten
die Versicherungsleistungen im Jahre 1977 einen Betrag von Fr. 83'972.40
aus bei einem entgehenden Bruttoverdienst von Fr. 86'742.--.

    Im März 1976 liess der Versicherte die Zusprechung einer Genugtuung
beantragen. Am 12. November 1976 eröffnete ihm die Militärversicherung,
die hiefür geltenden Voraussetzungen seien nicht erfüllt, weshalb das
Begehren abgewiesen werden müsse.

    B.- In der hiegegen erhobenen Beschwerde liess Hans P. im wesentlichen
geltend machen, mit der zugesprochenen Invalidenrente werde zufolge der
Begrenzung des anrechenbaren Verdienstes lediglich der Erwerbsausfall -
und auch dieser nicht vollständig - ausgeglichen. Nach Art. 25 Abs. 3 MVG
sei aber bei der Rentenfestsetzung nebst der erwerblichen gleichzeitig
auch der Integritätsbeeinträchtigung Rechnung zu tragen. Weil dies im
vorliegenden Fall wegen der Grenze des höchstanrechenbaren Verdienstes
nicht möglich sei, müsse die Beeinträchtigung der Integrität auf dem Wege
der Genugtuung entschädigt werden. Dem stehe Art. 40bis Abs. 2 MVG, wonach
die Integritätsrente die Genugtuung ausschliesse, nicht entgegen. Nach
der gesetzlichen Regelung könne damit allein das Verhältnis der reinen
Integritätsrente zur Genugtuung gemeint sein. Man habe verhindern
wollen, dass immaterieller Schaden, welcher Ursache er auch sei, doppelte
Abgeltung erfahre. Eine Auslegung, wonach die Genugtuungsleistung stets
ausgeschlossen sei, falls eine Invalidenrente ausbezahlt werde, lasse
sich mit dem Zweck des Art. 40bis Abs. 2 MVG nicht vereinbaren.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde mit
Entscheid vom 20. Dezember 1977 ab. Nach der Rechtsprechung des Eidg.
Versicherungsgerichts könne keine Genugtuung zugesprochen werden, falls
der Versicherte eine Invalidenrente beziehe, mit welcher gleichzeitig eine
Integritätsbeeinträchtigung abgegolten werde. Zwar führe die entsprechende
Leistungseinschränkung im vorliegenden Fall zu einem unbefriedigenden
Ergebnis. Ein anderer Entscheid würde indessen voraussetzen, dass
das Eidg. Versicherungsgericht seine Praxis oder der Gesetzgeber das
Gesetz ändere.

    C.- Hans P. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben mit dem
Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei die
Militärversicherung zu verpflichten, ihm "eine gerichtlich zu bestimmende
Genugtuungssumme und Zins in gerichtlich zu bestimmender Höhe seit einem
gerichtlich zu bestimmenden Zeitpunkt zu bezahlen". Mit der Eingabe
wird die erstinstanzliche Beschwerdebegründung erneuert und ergänzend
geltend gemacht, der Hinweis der Vorinstanz auf die höchstrichterliche
Rechtsprechung gehe fehl, weil das Eidg. Versicherungsgericht noch
nie zur Frage Stellung genommen habe, ob die Genugtuung gemäss
Art. 40bis MVG durch die "in maiore minus-Praxis" zu Art. 25 Abs. 3
MVG ausgeschlossen werde. Dem Willen des Gesetzgebers, wonach auch der
Integritätsbeeinträchtigung Rechnung zu tragen sei, könne in Fällen wie
dem vorliegenden nur entsprochen werden, indem eine Genugtuung im Sinne
von Art. 40bis Abs. 1 MVG ausgerichtet werde.

    Die Militärversicherung beantragt Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. In einer im Instruktionsverfahren
angeordneten ergänzenden Stellungnahme äussert sie sich zu den
grundsätzlichen Fragen, die sich im vorliegenden Fall erheben.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 23 Abs. 1 MVG besteht Anspruch auf eine
Invalidenrente, wenn von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine
namhafte Besserung des Gesundheitszustandes des Versicherten mehr erwartet
werden kann und die versicherte Gesundheitsschädigung eine voraussichtlich
bleibende Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit oder eine erhebliche
Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität hinterlässt.

    Im ersten Fall richtet sich die Höhe der Leistung im Rahmen von
Art. 24 MVG nach dem Grad der Erwerbsunfähigkeit, welcher ermittelt
wird durch Vergleich des Einkommens, welches der Versicherte ohne den
Gesundheitsschaden zu erzielen vermöchte, mit dem Einkommen, welches
er trotz der versicherten Gesundheitsschädigung nach seinen beruflichen
Fähigkeiten bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage noch zu erwerben fähig
ist (EVGE 1967, S. 22). Die Rente für erhebliche Beeinträchtigung der
körperlichen oder psychischen Integrität wird in Würdigung aller Umstände
nach billigem Ermessen festgesetzt (Art. 25 Abs. 1 MVG). Für die Berechnung
der Integritätsrente ist in der Regel ein Leistungsansatz von 85% und der
Mittelwert zwischen dem gesetzlichen Verdienstminimum und dem gesetzlichen
Verdienstmaximum massgebend (EVGE 1968, S. 88, 1966, S. 148).

    Laut Art. 25 Abs. 3 MVG wird bei gleichzeitigem Vorliegen
einer Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und einer erheblichen
Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität nur eine
Rente zugesprochen, bei deren Berechnung jedoch beiden Beeinträchtigungen
Rechnung getragen wird.

    b) In EVGE 1966, S. 151 Erw. 2, hat das Eidg. Versicherungsgericht
ausgeführt, beim Zusammentreffen von Erwerbsunfähigkeit und erheblicher
Beeinträchtigung der Integrität habe der Integritätsschaden regelmässig
als im Invaliditätsansatz mitenthalten zu gelten, wenn die Verminderung
der Erwerbsfähigkeit schwerer wiege. Beeinträchtige der körperliche oder
psychische Nachteil die Erwerbsfähigkeit in geringerem Masse oder gar
nicht, sei er aber als Integritätsschaden erheblich, so sei eine Rente für
Integritätsschädigung auszurichten. Diese Rentenart sei nicht eingeführt
worden, um die ökonomische und integritätsmässige Beeinträchtigung
kumulativ zu entschädigen; vielmehr habe man damit verhüten wollen,
dass der Versicherte, der keine erwerbliche Einbusse, wohl aber einen
erheblichen Integritätsschaden erleide, leer ausgehe.

    Im grundsätzlichen Urteil vom 27. November 1970 i.S. Rey (BGE 96 V 110)
hat das Gericht diese Praxis dahingehend präzisiert, dass im Hinblick auf
die unterschiedlichen Regeln für die Bemessung und Berechnung der Renten
nicht nur eine Kumulation, sondern auch eine Kombination von Renten
wegen Integritätsschädigung und Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit
ausgeschlossen sei. Die gesetzliche Regelung, wonach nur eine Rente
auszurichten, jedoch beiden Beeinträchtigungen Rechnung zu tragen sei,
müsse in dem Sinne verstanden werden, dass der im Einzelfall überwiegende
Schaden voll zu entschädigen sei. Dabei sei in der Weise vorzugehen, dass
die Rente für beide Schadensarten nach den hiefür massgebenden Bemessungs-
und Berechnungsregeln getrennt festgesetzt und dem Versicherten die
jeweils höhere Rente zugesprochen werde.

    An dieser (im Urteil vom 5. September 1978 i.S. Nussbaum bestätigten)
Rechtsprechung ist gemäss einem Beschluss des Gesamtgerichts vom
24. September 1979 festzuhalten.

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer ist zufolge des im Militärdienst erlittenen
Unfalls vollständig invalid und in der (psychischen) Integrität erheblich
beeinträchtigt. Dabei ist unbestritten, dass die Voraussetzungen
zur Zusprechung einer Integritätsrente an sich erfüllt sind. Da die
erwerblichen Auswirkungen des Gesundheitsschadens eindeutig schwerer
wiegen, ist die Rente jedoch nach Massgabe der Beeinträchtigung in der
Erwerbsfähigkeit auszurichten. Der Beschwerdeführer schliesst hieraus,
dass der Integritätsnachteil in Form einer Genugtuung gemäss Art. 40bis MVG
zu entschädigen sei. Nach dieser Bestimmung kann die Militärversicherung
bei Körperverletzung oder im Todesfall unter Würdigung der besonderen
Umstände dem Versicherten bzw. dessen Angehörigen eine angemessene
Geldsumme als Genugtuung zusprechen. Gemäss Absatz 2 der Bestimmung
schliesst die Rente für Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen
Integrität die Genugtuung aus.

    b) In rechtlicher Hinsicht stellt sich die Frage nach dem Verhältnis
des Art. 25 Abs. 3 zu Art. 40bis MVG. Streitig ist, ob Art. 40bis
Abs. 2 MVG auch dann Anwendung zu finden hat, wenn nicht eine reine
Integritätsrente, sondern eine Rente zur Ausrichtung gelangt, die im
Sinne von Art. 25 Abs. 3 MVG und der zugehörigen Praxis sowohl der
Beeinträchtigung der Integrität wie derjenigen der Erwerbsfähigkeit
Rechnung trägt.

    In EVGE 1966, S. 151, hat das Gericht die Frage nach den Auswirkungen
des (auf den 1. Januar 1964 in Kraft getretenen) Art. 40bis MVG auf die
Praxis zu Art. 25 Abs. 3 MVG offen gelassen. Im Urteil vom 28. Februar
1967 i.S. Barlogis stellte es sinngemäss fest, dass kein Anspruch
auf Genugtuung bestehe, falls der Versicherte eine Rente beziehe,
die nach Art. 25 Abs. 3 MVG eine Wertkomponente enthalte, welche den
Integritätsschaden abgelte. Nach der mit Urteil vom 27. November 1970 i.S.
Rey (BGE 96 V 110) begründeten neuen Praxis wird zwar ausschliesslich
derjenige Nachteil entschädigt, der, für sich allein betrachtet, die
höhere Leistung ergibt. Dies ändert grundsätzlich jedoch nichts daran,
dass der geringere Nachteil in der zur Ausrichtung gelangenden höheren
Rente enthalten ist und mit dieser abgegolten wird. Ungeachtet dessen,
dass die Beeinträchtigung in der Integrität nicht in Form eines Zuschlages
zur Erwerbsausfallrente entschädigt wird, steht dem Versicherten, welcher
eine Rente nach Art. 25 Abs. 3 MVG bezieht, daher keine Genugtuung zu.

    Dass der Beschwerdeführer auf Grund der Beeinträchtigung in der
Erwerbsfähigkeit Anspruch auf die gemäss Art. 24 MVG höchstmögliche Rente
(Invalidität von 100%, Leistungsansatz 90%, anrechenbarer Jahresverdienst
im gesetzlichen Höchstbetrag) hat, vermag zu keinem andern Ergebnis
zu führen. Der Integritätsnachteil hat auch unter solchen Umständen
durch die (höhere) Rente wegen Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit als
entschädigt zu gelten, weshalb sich die Zusprechung einer Genugtuung mit
Art. 40bis Abs. 2 MVG nicht vereinbaren lässt. Der vom Beschwerdeführer
beantragten subsidiären Entschädigung des Integritätsnachteils in Form
einer Genugtuung stünde zudem der unterschiedliche Charakter der beiden
Leistungsarten entgegen (vgl. BGE 96 V 113 sowie BBl 1963 I 865).

Erwägung 3

    3.- Das Gericht verkennt nicht, dass die geltende Regelung zu
unbefriedigenden Ergebnissen führt. Diese resultieren jedoch aus der
gesetzlichen Ordnung, welche sich durch ein Nebeneinander nicht eindeutig
abgegrenzter Leistungen sowie deren undifferenzierte Unterordnung unter
die Höchstgrenze kennzeichnet. Die bestehenden Mängel können daher nicht
mit einer blossen Praxisänderung, sondern nur auf dem Wege der Gesetzgebung
behoben werden.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.