Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 283



105 V 283

61. Urteil vom 28. November 1979 i.S. Leemann gegen Bezirkskrankenkasse
Pfäffikon ZH und Versicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 9 Abs. 1 und 2, Art. 10 Abs. 1 KUVG.

    - Geltendmachung der Freizügigkeit.

    - Beginn des Anspruchs auf Leistungen für die Folgen eines Unfalls,
der sich während der dreimonatigen Frist des Art. 10 Abs. 1 KUVG ereignete,
aber zu einem Zeitpunkt, da sich der Züger noch nicht bei der neuen Kasse
angemeldet hat.

Sachverhalt

    A.- Der bevormundete Albert Leemann war vom 1. August 1968 bis
31. Dezember 1973 für Krankenpflege, Unfallrisiko, Spitalpflege und
Badekuren bei der Öffentlichen Krankenkasse Basel-Stadt versichert. Am 16.
Januar 1974 stellte sein Vormund für ihn ein Aufnahmegesuch bei der
Bezirkskrankenkasse. Am gleichen Tag verunfallte Albert Leemann. Bei
der Meldung des Unfallereignisses am 17. Januar 1974 erklärte die
Bezirkskrankenkasse dem Vormund, sein Mündel sei nicht gegen Unfall
versichert.

    Mit Verfügung vom 26. Oktober 1977 lehnte die Bezirkskrankenkasse
Leistungen für die Folgen des Unfalls vom 16. Januar 1974 ab.

    B.- Eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wurde vom
Versicherungsgericht des Kantons Zürich am 1. März 1978 mit der Begründung
abgewiesen, der Vormund des Versicherten habe es am 16. Januar 1974
unterlassen, den Abschluss einer Unfallversicherung zu beantragen. Bei
Inanspruchnahme der Freizügigkeit hätte er die Bezirkskrankenkasse
in Kenntnis setzen müssen, dass Albert Leemann bei der Öffentlichen
Krankenkasse Basel-Stadt auch für Unfallrisiko versichert war.

    C.- Albert Leemann lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen
mit dem Antrag, der Entscheid des Versicherungsgerichtes sei
aufzuheben und die Bezirkskrankenkasse zu verpflichten, ab 16. Januar
1974 Versicherungsleistungen im Gesamtbetrage von Fr. 29'993.45 zu
erbringen. Er macht geltend, der Freizügigkeitsanspruch gelte während der
vollen dreimonatigen Frist des Art. 10 Abs. 1 KUVG, und zwar unbesehen,
ob in dieser Zeit ein Schadenereignis eingetreten sei oder nicht. Dazu
komme, dass die Bezirkskrankenkasse den Vormund insbesondere hätte
darauf hinweisen müssen, dass zur Krankenversicherung eine zusätzliche
Versicherung gegen Unfall abzuschliessen sei. Es widerspreche Treu und
Glauben, wenn die Kasse die Rechte des Versicherten, die ihm aus der
Freizügigkeit zustünden, nicht anerkennen, sondern nachträglich einen
"Versicherungs-Neuabschluss" konstruieren wolle.

    Bezirkskrankenkasse und Bundesamt für Sozialversicherung beantragen
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 7 Abs. 1 lit. a KUVG haben Versicherte, die ohne
eine Unterbrechung von mehr als drei Monaten während wenigstens sechs
Monaten bei einer oder mehreren Kassen versichert gewesen sind, Anspruch
auf Übertritt zu einer andern Kasse, wenn sie aus ihrer bisherigen Kasse
wegen Aufgabe des Wohnortes austreten müssen. Dass der Beschwerdeführer
diese Voraussetzung des Freizügigkeitsanspruchs erfüllte, ist unbestritten.

    Was insbesondere das Unfallrisiko anbetrifft, so steht einerseits fest,
dass der Beschwerdeführer bis 31. Dezember 1973 bei der Öffentlichen
Krankenkasse Basel-Stadt gegen Unfall versichert gewesen war, und
anderseits, dass sich das Tätigkeitsgebiet der Beschwerdegegnerin auch auf
das Unfallrisiko erstreckt (Art. 24 Ziff. 1 der Statuten). Somit hatte
der Beschwerdeführer gemäss Art. 9 Abs. 2 KUVG grundsätzlich Anspruch
darauf, sich bei der Beschwerdegegnerin sowohl gegen Krankheit wie auch
gegen Unfall versichern zu lassen.

    Während die Krankenversicherung der Öffentlichen Krankenkasse
Basel-Stadt das Unfallrisiko automatisch einschliesst, muss bei der
Beschwerdegegnerin eine Zusatzversicherung für Unfallschäden abgeschlossen
werden. Die Beschwerdegegnerin bestreitet, dass der Vormund dies für sein
Mündel, den Beschwerdeführer, am 16. Januar 1974 getan habe, sondern erst
anlässlich der Unfallmeldung am 17. Januar. Am Unfalltag (16. Januar)
sei der Beschwerdeführer daher nicht gegen Unfall versichert gewesen
und somit sei die Kasse gemäss Art. 12 Ziff. 2 ihrer Statuten für die
Unfallfolgen nicht leistungspflichtig.

Erwägung 2

    2.- a) Als der Vormund am 16. Januar 1974 sein Mündel anmeldete,
benutzte er das übliche Formular "Aufnahme-Gesuch". In diesem Formular
der Beschwerdegegnerin wird nicht darnach gefragt, ob auch gegen Unfall
versichert werden will. Zwar wird in Ziff. 4 des Formulars darnach gefragt,
ob der Aufnahmebewerber schon gegen Unfall versichert sei. Diese Frage
steht aber nicht unter der Rubrik "Gewünschte Versicherungsabteilungen";
ihre Beantwortung bezweckt nicht die Abgrenzung des Versicherungsschutzes,
sondern dient der Bestimmung der Leistungspflicht im Schadenfall.

    Mit Rücksicht insbesondere darauf, dass bei der Beschwerdegegnerin für
das Unfallrisiko eine Zusatzversicherung abgeschlossen werden muss, drängt
sich die Frage auf, ob das Aufnahme-Formular den Anforderungen genüge,
welche die Praxis an die Ausgestaltung und Vollständigkeit derartiger
Formulare stellt (vgl. bezüglich der Vorbehalte für bestehende oder
rückfallgefährdete Krankheiten: BGE 96 V 4 Erw. 3, RSKV 1978 Nr. 309,
S. 10; vgl. weiter BGE 101 II 339). Diese Frage kann indes aus
nachstehendem Grunde offenbleiben.

    b) Die Geltendmachung der Freizügigkeit erfolgt durch Vorweisung des
von der bisherigen Krankenkasse ausgestellten Mitgliedschaftsausweises
(Art. 6 Vo III). Auf diesem Formular hat der Züger die gewünschten
Versicherungsleistungen anzugeben, wobei in einer besonderen Rubrik
ausdrücklich darnach gefragt wird, ob "Unfalleinschluss" gewünscht werde
oder nicht.

    Als der Vormund des Beschwerdeführers am 16. Januar 1974 bei der
Beschwerdegegnerin vorsprach, legte er den Mitgliedschaftsausweis, den
die Öffentliche Krankenkasse Basel-Stadt bereits am 20. Dezember 1973
im Hinblick auf das Zügerrecht des Beschwerdeführers ausgestellt hatte,
nicht vor. Hätte er dies vorschriftsgemäss getan, dann wäre die Frage der
Unfallversicherung zwangsläufig zur Sprache gekommen und Unklarheiten oder
Missverständnisse hätten nicht entstehen können. Diese Unterlassung hat
der Vormund selber zu vertreten, weshalb der Beschwerdeführer sich nicht
auf eine ungenügende Ausgestaltung des üblichen Aufnahme-Formulars der
Beschwerdegegnerin berufen könnte.

    Aus dem gleichen Grunde kann sich der Beschwerdeführer auch
nicht darauf berufen, sein Vormund sei am 16. Januar 1974 seitens der
Beschwerdegegnerin nicht hinreichend aufgeklärt worden. Es kann deshalb
dahingestellt bleiben, inwieweit eine Aufklärungspflicht durch die Kasse
überhaupt anzunehmen wäre, dies insbesondere im Hinblick darauf, dass der
Vormund eine verhältnismässig einfache Willenserklärung abzugeben hatte.

Erwägung 3

    3.- Es ist somit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer am
16. Januar 1974, dem Unfalltag, nicht gegen Unfall versichert wurde.
Hinsichtlich des Unfallrisikos war er am 16. Januar nicht Mitglied
der Beschwerdegegnerin (vgl. Art. 12 Ziff. 2 der Statuten, wonach die
Mitgliedschaft von Zügern mit dem Tag der Übertrittsanmeldung beginnt). Da
die Leistungspflicht einer Krankenkasse an die Mitgliedschaft gebunden ist,
war die Beschwerdegegnerin jedenfalls am 16. Januar 1974 für Unfallschäden
nicht leistungspflichtig.

    Anderseits ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer ab 17. Januar
1974 in die Unfallversicherung der Beschwerdegegnerin aufgenommen wurde. Im
Hinblick darauf macht er geltend, zumindest ab diesem Tage bestehe die
Leistungspflicht der Kasse für die Unfallfolgen, und zwar ohne Rücksicht
darauf, dass der Unfall sich am Vortag ereignet habe.

    a) Gemäss Art. 9 Abs. 1 KUVG darf die übernehmende Kasse dem Züger
keine Aufnahmebedingungen hinsichtlich seines Gesundheitszustandes
entgegenhalten. Diese Bestimmung bereitet keine Anwendungsschwierigkeiten,
wenn der Züger so rechtzeitig von seinem Freizügigkeitsanspruch Gebrauch
macht, dass seine Mitgliedschaft bei der übernehmenden Kasse zeitlich
unmittelbar an das Ende der früheren Mitgliedschaft anschliesst. Die
gesetzliche Regel muss indes in gleicher Weise gelten, wenn sich der
Züger erst im Verlaufe der dreimonatigen Frist des Art. 10 Abs. 1 KUVG
anmeldet und damit ein versicherungsloses Intervall schafft. Während dieses
Intervalls ist er, da nicht Kassenmitglied, nicht bezugsberechtigt. Wenn
er aber innert der dreimonatigen Frist als Züger der neuen Kasse beitritt,
hat von diesem Zeitpunkt hinweg die Bestimmung des Art. 9 Abs. 1 KUVG volle
Geltung. Dabei kann es keine Rolle spielen, ob eine allfällig bestehende
Krankheit bereits zur Zeit der Mitgliedschaft bei der früheren Kasse
eingetreten war oder aber während des versicherungslosen Intervalls. Art. 9
Abs. 1 KUVG lässt keine Einschränkungen zu, solange die Frist des Art. 10
Abs. 1 des Gesetzes gewahrt wird.

    b) Es fragt sich, ob diese Grundregeln auch gelten für die
(zusätzliche) Unfallversicherung, für den Fall also insbesondere, da im
versicherungslosen Intervall ein Unfall eintritt.

    Gegen eine Gleichstellung von unfallbedingter mit krankheitsbedingter
Gesundheitsschädigung lässt sich einwenden, dass die Unfallversicherung
nicht zur gesetzlichen Mindestversicherung der Krankenkassen gehört,
woraus der Schluss gezogen werden könnte, dass sich Art. 9 Abs. 1 KUVG nur
auf Krankheiten bezöge. Das ist jedoch im Rahmen des Freizügigkeitsrechts
unzutreffend. Wenn der Züger bei der frühern Kasse gegen Unfall versichert
war und wenn die übernehmende Kasse diese Versicherungssparte ebenfalls
führt, ist sie gemäss Art. 9 Abs. 2 KUVG verpflichtet, den Züger auch
hierfür im bisherigen Rahmen weiter zu versichern; Art. 9 Abs. 2
betrifft eben gerade jene Versicherungen, die über das gesetzliche
Minimum hinausgehen (so z.B. auch ein Taggeld, das höher vereinbart
wurde als die gesetzlichen Fr. 2.--, oder eine Spitalzusatzversicherung
usw.). Es zeigt sich daraus, dass Abs. 1 des Art. 9 den gesamten bisherigen
Versicherungsumfang beschlägt.

    Wohl ist nicht zu übersehen, dass ein gewisses Missbrauchsrisiko
besteht, wenn der Züger mit dem Übertritt zuwarten kann, bis ein
Unfall eingetreten ist, und wenn alsdann die übernehmende Kasse von
diesem Zeitpunkt an leistungspflichtig ist. Dieses Risiko besteht
indes auch hinsichtlich von Krankheiten, die im versicherungslosen
Intervall eingetreten sind, und diesbezüglich ist es nach dem oben
Gesagten eindeutig, dass Art. 9 Abs. 1 KUVG keine Einschränkungen
zulässt. Es besteht kein Anlass, das Unfallrisiko diesbezüglich anders zu
behandeln. Im übrigen ist die Gefahr von Missbräuchen stark eingeschränkt,
nämlich auf die drei Monate des Art. 10 Abs. 1 KUVG. Zudem ist der Anreiz
zum Missbrauch doch eher gering: Der Züger könnte allenfalls etwas an
Prämien einsparen, hätte aber anderseits in Kauf zu nehmen, dass er für
die Zeitspanne vom Unfall bis zum Abschluss der Unfallversicherung keine
Leistungen beanspruchen könnte. Das Missbrauchsrisiko kann daher nicht
zu einer Abweichung von der Grundregel des Art. 9 Abs. 1 KUVG führen. -
Damit ist nicht entschieden, dass in einem konkreten Einzelfall nicht
doch Rechtsmissbrauch angenommen werden könnte; diese Frage kann hier
aber offenbleiben, weil im vorliegenden Fall nichts darauf hindeutet.

Erwägung 4

    4.- Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer bei
der Beschwerdegegnerin erst ab 17. Januar 1974 gegen Unfall versichert war
und dass die Beschwerdegegnerin für die am 16. Januar 1974 entstandenen
Unfallkosten nicht aufzukommen hat, dagegen aber hierfür ab 17. Januar 1974
leistungspflichtig ist. Die ab diesem Datum geschuldeten Leistungen hat die
Beschwerdegegnerin noch zu ermitteln und dem Vormund des Beschwerdeführers
in einer anfechtbaren Verfügung zu eröffnen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen,
dass der Entscheid des Versicherungsgerichtes des Kantons Zürich vom
1. März 1978 und die Verfügung der Bezirkskrankenkasse Pfäffikon vom
26. Oktober 1977 aufgehoben werden und die Sache an die Beschwerdegegnerin
zurückgewiesen wird, damit sie gemäss den Erwägungen verfahre.