Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 266



105 V 266

57. Urteil vom 20. Dezember 1979 i.S. Rajic gegen Ausgleichskasse des
Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Art. 41 IVG, 97 Abs. 2 AHVG und Art. 55 VwVG. Entzug der aufschiebenden
Wirkung der Beschwerde bei der revisionsweisen Herabsetzung oder Aufhebung
von Invalidenrenten. Interessenabwägung.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 26. April 1979 eröffnete die Ausgleichskasse
dem 1951 geborenen Jovica Rajic, die ihm seit Juni 1977 ausgerichtete
halbe einfache Invalidenrente mit Zusatzrenten für die Ehefrau und
die minderjährigen Kinder werde mit Wirkung auf den 30. April 1979
aufgehoben, da der Invaliditätsgrad nach den Feststellungen der
Invalidenversicherungs-Kommission lediglich noch 32% betrage; einer
allfälligen Beschwerde gegen diese Verfügung werde die aufschiebende
Wirkung entzogen.

    B.- Der Versicherte liess hiegegen Beschwerde einreichen mit dem
Antrag, in Aufhebung der angefochtenen Verfügung sei ihm weiterhin eine
halbe einfache Invalidenrente mit Zusatzrenten auszurichten; ferner sei
die aufschiebende Wirkung der Beschwerde wiederherzustellen.

    Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich prüfte zunächst das
Begehren um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde
und hiess das Gesuch insofern teilweise gut, als sie die Ausgleichskasse
verpflichtete, dem Beschwerdeführer für den Monat Mai 1979 die bisherigen
Renten auszurichten; im übrigen wies sie das Gesuch ab (Präsidialverfügung
vom 28. Mai 1979).

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der
Versicherte beantragen, in Abänderung des vorinstanzlichen Entscheides sei
das Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde
vollumfänglich gutzuheissen, indem die Ausgleichskasse zu verpflichten
sei, die Renten auch für die Zeit ab Juni 1979 auszurichten. In
der Begründung wird auf die prekären finanziellen Verhältnisse des
Beschwerdeführers hingewiesen und geltend gemacht, dass er bei einem Entzug
der aufschiebenden Wirkung an das Fürsorgeamt gelangen müsste, was einem
nicht wiedergutzumachenden Nachteil gleichkäme. Entgegen der Auffassung
der Vorinstanz sei eine allfällige spätere Rückerstattung der Renten für
den Beschwerdeführer nicht nachteiliger als der sofortige Vollzug der
Aufhebungsverfügung, um so weniger, als nach Art. 47 Abs. 1 AHVG bei
Vorliegen einer grossen Härte auf die Rückforderung verzichtet werden
könne. Die gesamten Umstände rechtfertigten den Entzug der aufschiebenden
Wirkung nicht, insbesondere da ein bis heute nicht widerlegtes ärztliches
Gutachten vorliege, demgemäss eine Arbeitsunfähigkeit von 50% bestehe.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Eidg. Versicherungsgericht beurteilt letztinstanzlich
Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von Art. 5
VwVG auf dem Gebiete der Sozialversicherung (Art. 128 in Verbindung
mit Art. 97 OG). Als Verfügungen gelten gemäss Art. 5 Abs. 2 VwVG
auch die Zwischenverfügungen im Sinne von Art. 45 VwVG, zu welchen
die Verfügungen über die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gehören
(Art. 45 Abs. 2 lit. g und Art. 55 VwVG). Solche Verfügungen sind nach
Art. 45 Abs. 1 VwVG nur dann selbständig anfechtbar, wenn sie einen nicht
wiedergutzumachenden Nachteil bewirken können. Für das letztinstanzliche
Beschwerdeverfahren ist ferner zu beachten, dass gemäss Art. 129 Abs. 2 in
Verbindung mit Art. 101 lit. a OG die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen
Zwischenverfügungen nur zulässig ist, wenn sie auch gegen die Endverfügung
offensteht; dies trifft im vorliegenden Fall zu (Art. 86 AHVG). Auch kann
die Voraussetzung des drohenden, nicht wiedergutzumachenden Nachteils
unter den geltend gemachten Umständen als erfüllt gelten. Auf die nach
Art. 106 Abs. 1 OG rechtzeitig erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ist daher einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Gemäss dem auf den 1. Januar 1979 in Kraft getretenen neuen
Art. 97 Abs. 2 AHVG (anwendbar auf die Invalidenversicherung gemäss Art.
81 IVG) kann die Ausgleichskasse in ihrer Verfügung einer allfälligen
Beschwerde die aufschiebende Wirkung entziehen, auch wenn die Verfügung
auf eine Geldleistung gerichtet ist; im übrigen gilt Art. 55 Abs. 2 bis
4 VwVG. Gemäss Abs. 3 dieser Bestimmung kann die Beschwerdeinstanz oder
ihr Vorsitzender die von der Vorinstanz entzogene aufschiebende Wirkung
wiederherstellen, wobei über ein entsprechendes Gesuch ohne Verzug zu
entscheiden ist.

    Nach der Rechtsprechung zu Art. 55 Abs. 1 VwVG bedeutet der
Grundsatz der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde nicht, dass
nur ganz aussergewöhnliche Umstände ihren Entzug zu rechtfertigen
vermöchten. Vielmehr ist es Sache der nach Art. 55 VwVG zuständigen Behörde
zu prüfen, ob die Gründe, die für die sofortige Vollstreckbarkeit der
Verfügung sprechen, gewichtiger sind als jene, die für die gegenteilige
Lösung angeführt werden können. Dabei steht der Behörde ein gewisser
Beurteilungsspielraum zu. Im allgemeinen wird sie ihren Entscheid auf
den Sachverhalt stützen, der sich aus den vorhandenen Akten ergibt, ohne
zeitraubende weitere Erhebungen anzustellen. Bei der Abwägung der Gründe
für und gegen die sofortige Vollstreckbarkeit können auch die Aussichten
auf den Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache ins Gewicht fallen; sie
müssen allerdings eindeutig sein. Im übrigen darf die verfügende Behörde
die aufschiebende Wirkung nur entziehen, wenn sie hiefür überzeugende
Gründe geltend machen kann (BGE 98 V 222 Erw. 4, 99 Ib 220 Erw. 5).

    Diese Grundsätze sind auch im Rahmen von Art. 97 Abs. 2 AHVG
anwendbar. Weil die Ausgleichskasse nach dem seit 1. Januar 1979
gültigen Wortlaut der Bestimmung befugt ist, die aufschiebende
Wirkung der Beschwerde selbst dann zu entziehen, wenn die Verfügung
auf eine Geldleistung (Beitragszahlung) gerichtet ist, muss ihr beim
Entscheid über den Entzug der aufschiebenden Wirkung bei Verfügungen, die
Versicherungsleistungen zum Gegenstand haben, ein weiter Ermessensspielraum
eingeräumt werden. In diesen hat der Richter nur einzugreifen, wenn die
Gründe, die gegen den Entzug der aufschiebenden Wirkung geltend gemacht
werden, eindeutig schwerer wiegen als diejenigen für einen sofortigen
Vollzug der Verfügung.

Erwägung 3

    3.- Wie die Vorinstanz zutreffend darlegt, hat die Abweisung
der Beschwerde bei Nichtentzug der aufschiebenden Wirkung zur Folge,
dass der Versicherte die bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens
materiell zu Unrecht bezogenen Renten zurückzuerstatten hat (Art. 49 IVG
in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 AHVG). Dabei kann entgegen der Auffassung
des Beschwerdeführers Art. 47 Abs. 1 Satz 2 AHVG, wonach bei gutem Glauben
und gleichzeitigem Vorliegen einer grossen Härte von einer Rückforderung
abgesehen werden kann, nicht Anwendung finden, weil der Versicherte unter
solchen Umständen von vorneherein mit einer Rückforderung rechnen muss
und sich deshalb nicht auf seinen guten Glauben berufen kann.

    Dass die Verwaltung ein erhebliches Interesse hat,
Rückerstattungsforderungen nach Möglichkeit zu vermeiden, ist
offensichtlich. Es genügt, auf die damit verbundenen administrativen
Erschwernisse und die Gefahr der Nichteinbringlichkeit solcher
Forderungen hinzuweisen. Demgegenüber vermag der Beschwerdeführer ein
eigenes Interesse nur im Zusammenhang mit der fehlenden Verzinslichkeit
einer allfälligen Nachzahlung sowie der Notwendigkeit, während der Dauer
des Beschwerdeverfahrens die Fürsorge in Anspruch nehmen zu müssen,
geltend zu machen. Dieses Interesse wiegt nicht eindeutig schwerer als
dasjenige der Verwaltung an einem sofortigen Vollzug der Verfügung. Es
kann ihm jedenfalls so lange nicht ausschlaggebende Bedeutung beigemessen
werden, als nicht mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass der
Beschwerdeführer im Hauptverfahren obsiegen wird. Nach den zutreffenden
Ausführungen der Vorinstanz kann dies, gestutzt auf Art. 88bis Abs. 2
lit. a IVV, mit Bezug auf den Rentenanspruch für den Monat Mai 1979
angenommen werden. Darüber hinaus ist der Ausgang des Verfahrens jedoch
völlig offen. Dem mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen
Begehren um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde
auch hinsichtlich des Rentenanspruchs ab Juni 1979 kann daher nicht
entsprochen werden.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.