Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 23



105 V 23

7. Urteil vom 15. Februar 1979 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Lüpold und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Anhang zur HVI vom 29. November 1976.

    - Die Liste ist insoweit abschliessend, als sie die in Frage kommenden
Hilfsmittelkategorien aufzählt. Dagegen ist bei jeder Hilfsmittelkategorie
zu prüfen, ob die Aufzählung der einzelnen Hilfsmittel ebenfalls
abschliessend oder bloss exemplifikatorisch ist (Erw. 1).

    - Die Bestimmung der Ziff. 3.02* Abs. 2 des Anhangs, wonach in
ihren wesentlichen Teilen serienmässig hergestellte Lendenmieder nur
ausnahmsweise von der Invalidenversicherung abgegeben werden, hält sich
im Rahmen der Delegationsnormen (Art. 21 Abs. 1 IVG und Art. 14 IVV)
und ist daher gesetzmässig (Erw. 2-4).

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Luzern vom 7. Juni
1971 wurde dem 1937 geborenen Anton Lüpold die periodische Abgabe
von lumbosakralen Camp-Stützgürteln ab Februar 1971 bis auf weiteres
gewährt. In der Folge bezog der Versicherte alljährlich ein oder zwei
Stützgürtel, letztmals anfangs 1977. Mit Verfügung vom 8. Juli 1977 hob die
Ausgleichskasse die Verfügung vom 7. Juni 1971 auf und lehnte die weitere
Abgabe von Stützgürteln ab, da diese - weil im wesentlichen serienmässig
hergestellt - gemäss der ab 1. Januar 1977 geltenden Regelung nicht als
orthopädische Stützkorsetts gelten könnten.

    B.- Beschwerdeweise beantragte Anton Lüpold dem Verwaltungsgericht
Luzern, die Invalidenversicherung habe die Camp-Gürtel weiterhin zu
übernehmen. Das kantonale Gericht erachtete die Rz 3.02 Abs. 2 der
Hilfsmittelliste (Anhang zu der seit 1. Januar 1977 geltenden HVI), wonach
die in ihren wesentlichen Teilen serienmässig hergestellten Lendenmieder
nur in bestimmten Ausnahmefällen abgegeben werden, als gesetzwidrig und mit
der Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts in Widerspruch stehend. Das
Gesetz stelle nicht auf die Art und Weise der Herstellung eines
Hilfsmittels ab, sondern darauf, ob dieses geeignet und notwendig sei,
dem behinderten Versicherten die Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit in
seinem Aufgabenbereich zu ermöglichen oder wenigstens zu erleichtern. Dies
lasse sich bei einem serienmässig hergestellten Hilfsmittel nicht zum
vorneherein und generell verneinen. Erfülle ein solches Hilfsmittel
spezifisch orthopädische Funktionen im invalidenversicherungsrechtlichen
Sinne, dann komme ihm Hilfsmittelcharakter gemäss Art. 21 IVG zu,
wie das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil Mehr vom 6. Oktober 1976
entschieden habe. Die dort beurteilte Rechtsfrage sei trotz Änderung der
Verordnungsbestimmungen dieselbe geblieben. Unter diesen Gesichtspunkten
erachtete das kantonale Gericht die Voraussetzungen für die weitere Abgabe
der Stützgürtel an den Versicherten als gegeben und hiess seine Beschwerde
gut (Urteil vom 29. März 1978).

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung erhebt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt Aufhebung des kantonalen
Urteils, indem es zur Begründung geltend macht, sowohl nach altem wie nach
dem seit 1. Januar 1977 geltenden Recht sei die Aufzählung der Hilfsmittel
vom Eidg. Versicherungsgericht als abschliessend bezeichnet worden.

    Anton Lüpold schliesst sich dem vorinstanzlichen Urteil an.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zu der bis Ende 1976 in Art. 14 IVV enthaltenen Liste
der Hilfsmittel hat das Eidg. Versicherungsgericht in konstanter
Rechtsprechung festgestellt, dass sie insofern abschliessend ist,
als sie die in Frage kommenden Hilfsmittelkategorien aufzählt,
wogegen die Anführung der einzelnen Hilfsmittel innerhalb der
genannten Kategorien bloss exemplifikatorisch ist (BGE 98 V 46
Erw. 2b). Das Eidg. Versicherungsgericht hat diese Praxis in bezug
auf den abschliessenden Charakter der Hilfsmittelkategorien unter
dem seit 1. Januar 1977 geltenden Recht (neue Fassung des Art. 14
IVV und HVI vom 29. November 1976 mit Anhang) beibehalten. Dagegen
ist bei jeder Hilfsmittelkategorie zu prüfen, ob die Aufzählung der
einzelnen Hilfsmittel (innerhalb der Kategorie) ebenfalls abschliessend
oder bloss exemplifikatorisch ist (BGE 104 V 88). So hat das
Eidg. Versicherungsgericht im zitierten BGE 104 V 88 entschieden, dass
die in Ziff. 14.04 des HVI-Anhangs enthaltene Aufzählung von baulichen
Massnahmen abschliessend ist.

    Die Feststellung, dass die Hilfsmittelliste im umschriebenen Sinne
abschliessenden Charakter hat, entbindet jedoch den Richter - wie die
Vorinstanz zutreffend darlegt - nicht davon, einzelne Bestimmungen,
die umstritten sind, auf ihre Gesetzmässigkeit zu prüfen.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG haben invalide oder von einer Invalidität
bedrohte Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese
notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen,
zu verbessern, zu erhalten oder ihre Verwertung zu fördern. Zu diesen
Massnahmen gehört unter anderem die Abgabe von Hilfsmitteln (Art. 8 Abs. 1
lit. d IVG). Nach Art. 21 Abs. 1 IVG hat der Versicherte "im Rahmen
einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel,
deren er für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit
in seinem Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder zum
Zwecke der funktionellen Angewöhnung bedarf". Diese Hilfsmittelliste
war nach dem bis Ende 1976 geltenden Recht in Art. 14 IVV enthalten,
wobei die hier umstrittenen orthopädischen Korsetts in Abs. 1 lit. b
aufgeführt waren. Hierzu bestimmte das Bundesamt für Sozialversicherung
in seinem Kreisschreiben über die Abgabe von Hilfsmitteln vom 1. Januar
1969 (Rz 99 in der Fassung gemäss Nachtrag 2 vom 1. April 1975), dass
serienmässig hergestellte Stützgürtel ohne individuelle Anpassung keine
orthopädischen Korsetts darstellten. Im nicht veröffentlichten Urteil
Mehr vom 6. Oktober 1976 hat jedoch das Eidg. Versicherungsgericht das
Kriterium der Herstellungsart verworfen (im gleichen Sinne schon die
nicht veröffentlichten Urteile Bossert vom 12. April 1976 und Schwander
vom 21. Oktober 1970); als entscheidend erachtete das Gericht vielmehr,
ob das Korsett im konkreten Falle spezifisch orthopädische Funktionen im
invalidenversicherungsrechtlichen Sinne erfülle.

    Nach dem revidierten Art. 14 IVV (in der Fassung vom 29. November 1976)
bildet die Liste der im Rahmen von Art. 21 IVG abzugebenden Hilfsmittel
nunmehr Gegenstand einer Verordnung des Departements des Innern. Gestützt
darauf hat das Departement am 29. November 1976 die Verordnung über die
Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI) erlassen,
wobei die Hilfsmittelliste im Anhang der HVI enthalten ist. Gemäss
Ziff. 3.02* Abs. 2 der Hilfsmittelliste können in ihren wesentlichen
Teilen serienmässig hergestellte Lendenmieder, worunter die Camp-Gürtel
fallen, nur abgegeben werden, wenn sie als notwendige Ergänzung von
Oberschenkelprothesen oder Oberschenkelapparaten erforderlich sind. Die
Vorinstanz betrachtet diese Bestimmung als gesetzwidrig, weil das Gesetz
(Art. 8 und 21 IVG) nicht auf die Herstellungsart abstelle, sondern
darauf, ob das betreffende Hilfsmittel geeignet und notwendig sei, dem
behinderten Versicherten die Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit in seinem
Aufgabenbereich zu ermöglichen oder wenigstens zu erleichtern. Somit ist im
folgenden die Gesetzmässigkeit der Ziff. 3.02* Abs. 2 der Hilfsmittelliste
zu prüfen.

Erwägung 3

    3.- a) Die Hilfsmittelverordnung mit der dazu gehörenden
Hilfsmittelliste ist eine Rechtsverordnung, die auf einer Delegation des
Gesetzgebers bzw. Subdelegation des Bundesrates beruht.

    Ob die in Art. 21 Abs. 1 IVG enthaltene Delegation an den Bundesrat
zulässig ist, kann das Eidg. Versicherungsgericht nicht überprüfen,
da es an die Bundesgesetze und damit auch an die in ihnen enthaltenen
Delegationsnormen gebunden ist (Art. 114bis Abs. 3 BV; BGE 101 Ib 73/74).

    Dagegen ist die Subdelegation des Bundesrates an das Departement des
Innern (Art. 14 IVV) überprüfbar. Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts
ist die Subdelegation der Rechtsetzungsbefugnisse an ein Departement
zulässig, wenn sie sich auf Vorschriften vorwiegend technischer Natur
bezieht und kein Rechtsgrundsatz in Frage steht (BGE 101 Ib 74). Im
vorliegenden Fall sind diese Voraussetzungen erfüllt, wie schon die
Vorinstanz festhält.

    b) Streitig ist indessen die Frage, ob die auf Grund der Delegation
bzw. Subdelegation erlassene Ziff. 3.02* Abs. 2 der Hilfsmittelliste
gesetzmässig ist bzw. sich in den Schranken der Delegationsnorm
hält. Sofern dies der Fall ist, hat sich das Eidg. Versicherungsgericht
nicht darüber auszusprechen, ob die in Ziff. 3.02* Abs. 2 der
Hilfsmittelliste getroffene Regelung die zur Erreichung des gesetzlichen
Zweckes am besten geeignete Lösung sei, da das Gericht nicht sein Ermessen
an die Stelle desjenigen des Bundesrates bzw. des Departementes treten
lassen kann (vgl. BGE 94 I 396, 97 II 272).

    Auszugehen ist von Art. 21 Abs. 1 IVG, der den Bundesrat ermächtigt,
die Hilfsmittelliste aufzustellen. Wie erwähnt, hat der Bundesrat in
Art. 14 IVV diese Rechtsetzungsbefugnis an das Departement weitergegeben
und dieses ermächtigt, an seiner Stelle die Hilfsmittelliste zu
erlassen. Mit der Subdelegation wurde somit dem Departement die gleiche
Befugnis eingeräumt, wie sie der Gesetzgeber dem Bundesrat übertragen
hat. Demnach bildet Art. 21 Abs. 1 IVG auch für das Departement den
massgebenden Rahmen, an den es sich zu halten hat.

    Der Bundesrat bzw. das Departement wird jedoch nicht verpflichtet,
sämtliche Hilfsmittel, derer ein Invalider zur Eingliederung bedarf, in
die Hilfsmittelliste aufzunehmen, wie die Vorinstanz annimmt. Vielmehr
hat der Versicherte nur "im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden
Liste" Anspruch auf Hilfsmittel. Aus diesem Wortlaut ergibt sich, dass
der Bundesrat bzw. an seiner Stelle das Departement eine Auswahl treffen
und die Zahl der Hilfsmittel beschränken kann. Dabei steht dem Bundesrat
bzw. dem Departement ein weiter Spielraum der Gestaltungsfreiheit zu,
sagt das Gesetz doch nicht ausdrücklich, nach welchen Gesichtspunkten
die Auswahl vorzunehmen ist. Selbstverständlich ist, dass der Bundesrat
bzw. das Departement bei der Aufnahme von Hilfsmitteln in die Liste
nicht willkürlich vorgehen, insbesondere nicht innerlich unbegründete
Unterscheidungen treffen oder sonstwie unhaltbare, nicht auf ernsthaften
sachlichen Gründen beruhende Kriterien aufstellen darf (vgl. BGE 96 I 456).

    c) Es kann nicht gesagt werden, der grundsätzliche Ausschluss der
serienmässig hergestellten Lendenmieder gemäss Ziff. 3.02* Abs. 2 der
Hilfsmittelliste bzw. die Unterscheidung zwischen serienmässig und
einzeln hergestellten Lendenmiedern lasse sich nicht auf ernsthafte
sachliche Gründe stützen. Denn es ist davon auszugehen, dass serienmässig
hergestellte Lendenmieder als vorwiegend allgemeingebräuchliche und
finanziell wenig belastende Bedarfsartikel zu qualifizieren sind. Es
kann somit dem Invaliden zugemutet werden, solche Hilfsmittel auf eigene
Kosten anzuschaffen. Ob die Herstellungsart allerdings das zweckmässigste
Abgrenzungskriterium ist, hat das Eidg. Versicherungsgericht nach dem
vorne Gesagten nicht zu überprüfen.

    Unbehelflich ist der Hinweis der Vorinstanz, das
Eidg. Versicherungsgericht habe nach dem bis zum 31. Dezember 1976
geltenden Recht das Kriterium der Herstellungsart verworfen. Denn in alt
Art. 14 Abs. 1 lit. b IVV waren "orthopädische Korsetts" aufgeführt,
ohne dass zwischen serienmässiger Herstellung und Einzelanfertigung
unterschieden wurde. Das Bundesamt für Sozialversicherung war daher
nicht befugt, in seiner Wegleitung die Herstellungsart als zusätzliches
Abgabekriterium einzuführen. Im Gegensatz zur altrechtlichen Regelung
ist nun in dem seit 1. Januar 1977 geltenden Recht das Kriterium
der Herstellungsart in der zur Hilfsmittelverordnung gehörenden
Hilfsmittelliste enthalten.

Erwägung 4

    4.- Auf Grund des Gesagten kann festgestellt werden, dass der
grundsätzliche Ausschluss der serienmässig hergestellten Lendenmieder
gemäss Rz 3.02* Abs. 2 der Hilfsmittelliste im Rahmen der gesetzlichen
Delegationsnorm als vertretbar erscheint. Das Departement des Innern hat
somit im Rahmen seiner Kompetenzen gehandelt. Demnach muss Ziff. 3.02*
Abs. 2 der Hilfsmittelliste angewendet werden.

    Das führt im vorliegenden Fall dazu, dass die serienmässig
hergestellten Camp-Gürtel seit dem 1. Januar 1977 von der
Invalidenversicherung nicht mehr abgegeben werden können, sofern
sie nicht "als notwendige Ergänzung von Oberschenkelprothesen oder
Oberschenkelapparaten erforderlich sind" (Ziff. 3.02* Abs. 2 in fine). Da
diese Ausnahmevoraussetzungen im hier zu beurteilenden Fall nicht erfüllt
sind, hat die Ausgleichskasse die weitere Übernahme von Camp-Gürteln zu
Recht abgelehnt...

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen,
dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 29. März
1978 aufgehoben wird.