Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 209



105 V 209

47. Urteil vom 8. Oktober 1979 i.S. Schüpfer gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
Regeste

    Art. 84 Abs. 1 lit. a und 88 KUVG. Der Rentenanspruch lebt nicht
wieder auf, wenn die von der Witwe neu eingegangene Ehe ungültig erklärt
wird. Bemerkung de lege ferenda.

Sachverhalt

    A.- Madeleine Schüpfer war in erster Ehe mit Johann Schüpfer
verheiratet, der am 14. April 1969 einen tödlichen Arbeitsunfall
erlitt. Mit Verfügung vom 17. Juli 1969 gewährte die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) der Witwe und ihren beiden minderjährigen
Kindern eine Hinterlassenenrente.

    Am 12. März 1975 ging Madeleine Schüpfer eine neue Ehe ein, worauf
ihr die SUVA gestützt auf Art. 88 KUVG eine Abfindung in der Höhe des
dreifachen Jahresbetrages ihrer Witwenrente ausrichtete. Mit Urteil
des Amtsgerichts Olten vom 14. Juni 1977 wurde die Ehe in Anwendung von
Art. 124 Ziff. 2 ZGB als ungültig erklärt. In der Folge ersuchte Madeleine
Schüpfer die SUVA darum, die ihr vor Abschluss der ungültig erklärten
Ehe zugestandene Witwenrente unter Verrechnung mit der Abfindungssumme
wieder auszurichten. Mit Verfügung vom 17. August 1977 lehnte die SUVA
das Begehren ab.

    B.- Dagegen liess Madeleine Schüpfer beim Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn Beschwerde führen. Art. 84 KUVG, nach seinem
Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrundeliegenden Wertungen
interpretiert, gebiete im Falle der Ungültigerklärung einer neuen Ehe
das Wiederaufleben der Witwenrente. Eine sozialversicherungsrechtliche
Gleichbehandlung der ungültigen mit der geschiedenen Ehe widerspreche
"gesundem Rechtsempfinden" und "moderner verwaltungsrechtlicher Lehre". Mit
Entscheid vom 24. November 1978 wies das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn die Beschwerde ab, im wesentlichen mit der Begründung, dass ein
Wiederaufleben der Rente gesetzlich nicht vorgesehen sei und auch keine
vom Richter auszufüllende Lücke vorliege, da die Ungültigerklärung der
Ehe mit Bezug auf den massgebenden Gesichtspunkt der Unterhaltspflicht
der Scheidung gleichzustellen sei. Aus der Tatsache, dass im Gebiet der
AHV eine abweichende Regelung bestehe und auch der Entwurf zum neuen
Unfallversicherungsgesetz ein Wiederaufleben der Rente vorsehe, könne
Madeleine Schüpfer nichts zu ihren Gunsten ableiten.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Madeleine
Schüpfer ihr Begehren um Ausrichtung einer Witwenrente unter Verrechnung
mit der gewährten Abfindung erneuern. Auf die Begründung ist, soweit
notwendig, in den nachfolgenden Erwägungen einzutreten.

    Die SUVA beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist ausschliesslich die Rechtsfrage, ob nach
Ungültigerklärung der zweiten Ehe die der Beschwerdeführerin vor
Eheabschluss ausgerichtete Witwenrente wieder auflebe.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. a KUVG besteht der Rentenanspruch
der Witwe eines Versicherten "bis zu ihrem Tode oder ihrer
Wiederverehelichung". Im Falle der Wiederverehelichung tritt nach Art. 88
KUVG an die Stelle der Rente eine Abfindung in der Höhe des dreifachen
Jahresbetrages der Rente.

    Auf dem Gebiet der AHV bestand vor Durchführung der 6. Revision eine
vergleichbare Regelung, indem nach Art. 23 Abs. 3 AHVG die Witwenrente
"mit der Wiederverheiratung" erlosch. In jenem Zusammenhang hatte das
Eidg. Versicherungsgericht klargestellt, dass nach dem Gesetzeswortlaut
jede Wiederverheiratung den Rentenanspruch untergehen lasse, ohne dass
es darauf ankomme, ob die neue Ehe gültig, nichtig oder anfechtbar sei
(EVGE 1956 S. 116 ff., 1957 S. 56 ff.). Es wurde namentlich auch auf
die Regelung des KUVG hingewiesen, wo nichts darauf hindeute, dass eine
Witwenabfindung bei Ungültigerklärung der Wiederverehelichung rückgängig
gemacht werden könnte (EVGE 1957 S. 62).

    Nach Auffassung des Vertreters der Beschwerdeführerin ist diese
Rechtsprechung neu zu überdenken. Sie führe zu einer unverständlichen
Härte, die dem Rechtsempfinden zuwiderlaufe. Das KUVG weise mit Bezug
auf die streitige Rechtsfrage eine Lücke auf, welche in Analogie zum
revidierten Art. 23 Abs. 3 AHVG geschlossen werden müsse.

    b) Eine vom Richter auszufüllende - echte - Lücke im Gesetz darf nach
ständiger Rechtsprechung nur dann angenommen werden, wenn das Gesetz eine
sich unvermeidlicherweise stellende Rechtsfrage nicht beantwortet (BGE
99 V 21 Erw. 2 mit Hinweisen). Auf eine solche Lücke darf nicht schon
dann geschlossen werden, wenn der Richter das Fehlen einer Vorschrift
als unbefriedigend empfindet. Im erwähnten Entscheid wurde zudem darauf
hingewiesen, dass in der Sozialversicherung, deren Rechtsgebiete häufig
Revisionen unterworfen sind, mit der Annahme echter Lücken Zurückhaltung
geboten sei.

    Art. 84 Abs. 1 lit. a KUVG spricht sich nicht ausdrücklich darüber
aus, ob nur eine gültige Wiederverehelichung den Rentenanspruch der Witwe
erlöschen lässt. Die Antwort ergibt sich jedoch im Zusammenhang mit dem
Begriff der Witwe. Eine Ehefrau gilt nach dem Tode ihres Ehemannes nur
so lange als Witwe, als sie nicht wieder heiratet (BGE 105 V 9). Mit der
Wiederverheiratung - und zwar auch bei späterer Ungültigerklärung der
zweiten Ehe - hört sie auf, Witwe zu sein; in bezug auf die erste Ehe
ist sie es nicht mehr, in bezug auf die zweite Ehe ist sie es überhaupt
nicht (EVGE 1957 S. 60). Insofern ist der Gesetzeswortlaut klar und
die Materialien liefern keine Hinweise dafür, dass der Untergang der
Rente auf den Fall eines gültigen Eheabschlusses beschränkt werden
sollte (vgl. Botschaft des Bundesrates vom 10. Dezember 1906, BBl 1906
VI 229 ff.; Sten. Bull. NR 1908 S. 487; Sten. Bull. SR 1910 S. 46)
Aus der bundesrätlichen Botschaft geht namentlich hervor dass die den
Rentenanspruch ablösende Witwenabfindung nicht als "Auskauf" verstanden
wurde, weil die Rente infolge der Wiederverheiratung "von Rechts wegen"
dahingefallen sei. Diese Regelung wurde u.a. damit begründet, dass die
Witwe mit der Wiederverheiratung einen Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem
zweiten Gatten erwerbe (S. 379). Gerade in diesem Punkt besteht nun aber
rechtlich kein Unterschied, ob die neu eingegangene Ehe ungültig erklärt
oder geschieden wurde (Art. 134 Abs. 2 ZGB). In beiden Fällen besteht
unter den Voraussetzungen der Art. 151 ff. ZGB der Unterhaltsanspruch
weiter (vgl. auch EVGE 1956 S. 118 f., 1957 S. 58 f.). Bestehen keine
Anhaltspunkte dafür, dass der historische Gesetzgeber für den Fall der
Ungültigerklärung einer Ehe eine Sonderregelung treffen und die Rente
wiederaufleben lassen wollte, so ist des weiteren zu prüfen, ob gewandelte
Anschauungen die Annahme einer entsprechenden, vom Richter auszufüllenden
Gesetzeslücke rechtfertigen (BGE 99 V 22 Erw. 3a).

    Im Gegensatz zum KUVG sehen andere Sozialversicherungsgesetze des
Bundes unter gewissen Voraussetzungen ein Wiederaufleben der Witwenrente
nach Ungültigerklärung der neu eingegangenen Ehe vor (vgl. Art. 23
Abs. 3 AHVG in Verbindung mit Art. 46 Abs. 3 AHVV, Art. 30 Abs. 3
MVG). Dieser Umstand lässt jedoch nicht auf das Bestehen einer echten
Gesetzeslücke im Unfallversicherungsrecht schliessen. Dass das KUVG
bis heute nicht in diesem Sinne ergänzt worden ist, muss vielmehr als
negative Stellungnahme des Gesetzgebers gewertet werden. Sowohl bei der
Einfügung der entsprechenden Bestimmung ins MVG (BG vom 19. Dezember 1963)
auf Grund der Botschaft vom 26. April 1963 (BBl 1963 I 845 ff., 861) als
auch bei Aufnahme einer entsprechenden Vorschrift ins AHVG (6. Revision
vom 19. Dezember 1963) auf Grund der Botschaft vom 16. September 1963
(BBl 1963 II 513 ff., 570) hätte die Gelegenheit bestanden, das KUVG
in diesem Punkt den anderen Sozialversicherungszweigen anzupassen. Ein
solcher Vorschlag findet sich jedoch erst in der Botschaft vom 18. August
1976 zum BG über die Unfallversicherung (Art. 33; BBl 1976 III 141 ff.,
196, 251). Eine Berücksichtigung dieser Regelung im Sinne einer Vorwirkung
des noch nicht verabschiedeten Gesetzes fällt indessen ausser Betracht
(IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Bd. I, Nr. 17,
S. 108 ff., BGE 100 Ia 147 ff.).

    c) Es ist nicht zu verkennen, dass die unterschiedliche Regelung der
gleichen Frage in den verschiedenen Bereichen der Sozialversicherung
nicht zu befriedigen vermag. Dabei handelt es sich jedoch um einen
rechtspolitischen Mangel und damit um eine unechte Gesetzeslücke, die
der Richter im allgemeinen hinzunehmen hat. Sie auszufüllen, steht ihm
nach Lehre und Praxis nur dort zu, wo der Gesetzgeber sich offenkundig
über gewisse Tatsachen geirrt hat oder wo sich die Verhältnisse seit
Erlass des Gesetzes in einem solchen Masse gewandelt haben, dass die
Vorschrift unter gewissen Gesichtspunkten nicht bzw. nicht mehr befriedigt
und ihre Anwendung rechtsmissbräuchlich wird (BGE 99 V 23 Erw. 4 mit
Hinweisen). Solches trifft jedoch im vorliegenden Fall nicht zu. Vielmehr
handelt es sich um ein vom Gesetzgeber zu lösendes Koordinationsproblem
in der Sozialversicherung, so dass die Voraussetzungen richterlichen
Eingreifens fehlen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.