Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 136



105 V 136

33. Auszug aus dem Urteil vom 4. Juli 1979 i.S. Masca gegen Ausgleichskasse
Basel-Stadt und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen,
Basel Regeste

    Art. 1 Abs. 1 lit. a AHVG, Art. 6 Abs. 1 IVG und Art. 3bis FlüB.

    - Zur Versicherteneigenschaft einer gemäss Bundesgesetz über Aufenthalt
und Niederlassung der Ausländer (ANAG) in der Schweiz internierten,
nicht erwerbstätigen Person.

    - Frage des Wohnsitzes.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Am 5. November 1973 wurde dem Beschwerdeführer die
Flüchtlingseigenschaft durch die Eidgenössische Polizeiabteilung
entzogen. Aus einem Schreiben der Rumänischen Botschaft in der Schweiz
an den Beschwerdeführer ist ferner ersichtlich, dass dieser auf die
rumänische Staatsangehörigkeit verzichtet hat und dass dieser Verzicht
durch Präsidialdekret vom 8. August 1977 genehmigt worden ist. Der
Beschwerdeführer ist daher jedenfalls bis zum 8. August 1977 als
rumänischer Staatsangehöriger ohne Flüchtlingsstatut zu behandeln. Es
kann offen bleiben, ob er nach diesem Zeitpunkt für die Belange der
Sozialversicherung als Staatenloser gelten muss, nachdem er freiwillig
auf die rumänische Staatsangehörigkeit verzichtet hat. Denn sowohl
als rumänischer Staatsangehöriger wie auch als Staatenloser kann er
Leistungen der Invalidenversicherung nur beanspruchen, wenn er bei
Eintritt der Invalidität versichert war (Art. 6 Abs. 1 IVG und Art.
3bis FlüB). Gemäss Art. 4 Abs. 2 IVG gilt die Invalidität als eingetreten,
sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung
erforderliche Art und Schwere erreicht hat.

    Unter der - hypothetischen - Annahme, zwischen dem 26. April 1974
und dem massgebenden Zeitpunkt (Erlass der streitigen Kassenverfügung am
24. November 1977) sei ein Versicherungsfall eingetreten, ist zunächst
zu prüfen, ob der Beschwerdeführer in diesem Zeitraum im Sinne von Art. 6
Abs. 1 IVG versichert war.

    a) Nicht das Schweizerbürgerrecht besitzende natürliche Personen sind
versichert, wenn sie in der Schweiz ihren zivilrechtlichen Wohnsitz haben
oder hier eine Erwerbstätigkeit ausüben (Art. 1 Abs. 1 lit. a und b AHVG in
Verbindung mit Art. 1 IVG). Da der Beschwerdeführer nicht erwerbstätig ist,
wäre er also nur versichert, wenn er seinen Wohnsitz in der Schweiz hätte
(Art. 23 Abs. 1 ZGB).

    Am 26. April 1974 kehrte der Beschwerdeführer aus Grossbritannien
in die Schweiz zurück. Mit Wirkung ab 9. Mai 1974 verhängte aber die
Polizeiabteilung über ihn für unbestimmte Zeit die Einreisesperre im Sinne
von Art. 13 Abs. 1 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der
Ausländer (ANAG). Der Pflicht zur Ausreise kam der Beschwerdeführer nicht
nach. Vielmehr hielt er sich von Anfang Mai 1974 hinweg bis Dezember 1975
in Genf auf, wo er eine Wohnung hatte. In ihrer Verfügung vom 28. November
1975 stellte die Polizeiabteilung fest, dass er zur Zeit keine Möglichkeit
habe, die Schweiz legal zu verlassen, weshalb sie ihn und seine Tochter
internierte. Eine solche Massnahme wird gemäss Art. 14 Abs. 2 ANAG dann
angeordnet, wenn der Ausländer der Pflicht zur Ausreise nicht nachkommt
und er auch nicht ausgeschafft werden kann. Trotz der Einreisesperre und
trotz der Internierung händigte die Polizeiabteilung dem Beschwerdeführer
am 19. Dezember 1975 einen zunächst auf ein Jahr befristeten, später bis
Ende 1977 verlängerten Identitätsausweis für schriftenlose Ausländer
aus. Damit erhielt der Beschwerdeführer die Möglichkeit, die Schweiz
zu verlassen und wieder in die Schweiz zurückzukehren. Auch wenn
er schon im Mai 1974 die Absicht gehabt haben sollte, dauernd in der
Schweiz zu verbleiben, so stand doch die öffentlich-rechtliche Massnahme
der Einreisesperre der Verwirklichung dieser Absicht auf unbestimmte
Zeit direkt entgegen. Dieses Hindernis, einen Wohnsitz zu begründen,
fiel erst dahin, als der Beschwerdeführer am 28. November 1975 mit dem
Argument interniert wurde, er habe keine Möglichkeit, die Schweiz legal zu
verlassen. Solange das öffentliche Recht die Verwirklichung der Absicht
dauernden Verbleibens in der Schweiz langfristig verbietet, ist diese
Absicht jedenfalls für die Belange der Sozialversicherung unbeachtlich
(BGE 99 V 209 und dort zitierte Urteile).

    Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer mindestens bis zum 27. November
1975 in der Schweiz keinen Wohnsitz begründet hat.

    b) Am 28. November 1975 wurde die Internierung ohne genaue Befristung
angeordnet. Die Massnahme stützte sich unter anderem auf Art. 27 ANAG,
wonach die Internierung unter gewissen Voraussetzungen länger als
zwei Jahre dauern darf. Mit der Aushändigung des Identitätsausweises am
19. Dezember 1975 erhielt der Beschwerdeführer die Möglichkeit, die Schweiz
wieder zu verlassen bzw. dahin zurückzukehren. Ein öffentlich-rechtliches
Hindernis, welches die Verwirklichung der Absicht dauernden Verbleibs
verunmöglicht hätte, bestand seither somit nicht mehr. Nach den
glaubwürdigen Erklärungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde hielt
sich der Beschwerdeführer von Ende 1975 bis Ende 1977 während insgesamt
201 Tagen in London auf, wobei die jeweilige Aufenthaltsdauer im Ausland
zwischen einem Tag und 29 Tagen schwankte. Im Jahre 1978 begab er sich
erstmals im Mai nach London; bis Ende August 1978 hatte er dort insgesamt
62 Tage verbracht. Im übrigen wohnte er in Genf, wo seine Tochter die
Schule besucht. Einem Schreiben des Einbürgerungsbüros des Kantons Genf
an den Beschwerdeführer vom 3. Februar 1977 ist zu entnehmen, dass dieser
sich damals nach der Einbürgerungsmöglichkeit erkundigt hatte.

    Unter diesen Umständen muss angenommen werden, dass der
Beschwerdeführer vom 28. November 1975 hinweg die Voraussetzungen zur
Begründung eines Wohnsitzes in der Schweiz und insbesondere in Genf
erfüllte, und zwar ungeachtet seines fremdenpolizeilichen Statuts
(vgl. Berner Kommentar Rz 38 zu Art. 23 ZGB).

    c) Aus dem soeben Gesagten folgt, dass der Beschwerdeführer
erst seit dem 28. November 1975 wieder versichert ist und damit die
versicherungsmässige Voraussetzung des Art. 6 Abs. 1 IVG erfüllt.