Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 1



105 V 1

1. Auszug aus dem Urteil vom 15. Januar 1979 i.S. Achermann gegen
Ausgleichskasse des Kantons Luzern und Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern Regeste

    Ende der Beitragspflicht und Beginn des Anspruchs auf die Altersrente.

    - Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK gilt nur in bezug auf die
in der Konvention ausdrücklich genannten Rechte und Freiheiten. Es enthält
kein über die Konvention hinausgehendes allgemeines Rechtsgleichheitsgebot.

    - Die unterschiedliche Behandlung von Mann und Frau in Art. 3 Abs. 1
und Art. 21 Abs. 1 AHVG ist nicht konventionswidrig.

Sachverhalt

    A.- Anton Achermann vollendete am 22. August 1976 das 62.
Altersjahr. Am 17. Januar 1977 ersuchte er die Ausgleichskasse des
Kantons Luzern um Befreiung von der Beitragspflicht sowie um Ausrichtung
einer Altersrente, beides rückwirkend auf den 22. August 1976. Er berief
sich dabei auf Art. 4 BV und die Europäische Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Mit Verfügung vom 21. Januar
1977 lehnte die Ausgleichskasse beide Begehren ab, wobei sie darauf
hinwies, dass sie an Art. 3 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AHVG, welche
Beitragspflicht und Rentenanspruch altersmässig umschreiben, gebunden sei.

    B.- Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Luzern mit Entscheid vom 16. Mai 1977 ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert
der Versicherte seine Begehren. Zur Begründung verweist er auf die
Gleichberechtigung von Mann und Frau, die sich aus Art. 4 BV und Art. 14
EMRK ergebe.

    Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung beantragen
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    In materieller Hinsicht ist davon auszugehen, dass die Versicherten
gemäss Art. 3 Abs. 1 AHVG "bis zum letzten Tag des Monats, in welchem
Männer das 65. und Frauen das 62. Altersjahr vollendet haben",
beitragspflichtig sind. Im weiteren bestimmt Art. 21 Abs. 1 AHVG, dass -
sofern kein Anspruch auf eine Ehepaar-Altersrente besteht - "Anspruch
auf eine einfache Altersrente haben...
   a) Männer, welche das 65. Altersjahr zurückgelegt haben; b) Frauen,
   welche das 62. Altersjahr zurückgelegt haben".

    a) Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, diese gesetzliche
Regelung verletze den verfassungsmässigen Grundsatz der Rechtsgleichheit
gemäss Art. 4 BV. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, dass die von
der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemein verbindlichen
Beschlüsse sowie die von ihr genehmigten Staatsverträge vom Richter
nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden können (Art. 113
Abs. 3 und Art. 114 bis Abs. 3 BV). Da es dem Eidg. Versicherungsgericht
demnach nicht zusteht, die im AHVG festgelegte unterschiedliche Behandlung
von Mann und Frau bezüglich Ende der Beitragspflicht und Beginn der
Altersrentenberechtigung am Grundsatz der Rechtsgleichheit zu messen,
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde hinsichtlich der behaupteten
Verletzung des Art. 4 BV unbegründet. Daran vermag auch der Hinweis des
Beschwerdeführers auf das Urteil des Bundesgerichts vom 12. Oktober 1977
(BGE 103 Ia 517 ff.) nichts zu ändern, wonach Männern und Frauen bei
gleichwertiger Arbeit das gleiche Entgelt auszurichten sei, ging es in
jenem Fall doch um ein kantonales Besoldungsreglement, das auf seine
Verfassungsmässigkeit hin überprüft werden durfte.

    b) Im weiteren macht der Beschwerdeführer geltend, dass die Regelungen
der Art. 3 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AHVG gegen die EMRK verstossen.

    Diese Konvention wurde von der Schweiz am 3. Oktober 1974 ratifiziert
und trat am 28. November 1974 für deren Gebiet in Kraft (AS 1974 II
S. 2151). Damit wurden die materiellen Garantien des Abschnittes I der
EMRK - mit Ausnahme des Art. 13 - in der Schweiz direkt anwendbar; die
Konvention erlangte in der internen Rechtsordnung zumindest Gesetzesrang
(BGE 103 V 192 Erw. 2a, 102 Ia 481 Erw. 7a, 101 IV 253; J.-P. MÜLLER,
Die Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Schweiz,
ZSR 94/1975 I S. 380, 382 ff.; SCHINDLER, Die Bedeutung der Europäischen
Menschenrechtskonvention für die Schweiz, ZSR 94/1975 I S. 366 ff.;
WILDHABER, Die Europäische Menschenrechtskonvention, ZBl 76/1975
S. 275; Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention in
der Schweiz? ZBJV 105/1969 S. 259 ff., 267; BBl 1974 I S. 1059, 1968 II
S. 1070 ff.). Ihrer Natur nach haben die von der EMRK geschützten Rechte
aber einen verfassungsrechtlichen Inhalt. Der von der Konvention gebotene
Schutz hat indessen nur insoweit selbständige Bedeutung, als er den von
den Verfassungen und Gesetzen des Bundes und der Kantone gewährten Schutz
übersteigt (BGE 103 V 193 Erw. 2b in fine, 101 Ia 69 Erw. 2c, 101 IV 253;
vgl. auch WILDHABER, ZBl 76/1975 S. 275 f.).

    Laut Art. 14 EMRK ist "der Genuss der in der vorliegenden Konvention
festgelegten Rechte und Freiheiten ... ohne Benachteiligung zu
gewährleisten, die insbesondere im Geschlecht, in der Rasse, Hautfarbe,
Sprache, Religion, in den politischen oder sonstigen Anschauungen,
in nationaler oder sozialer Herkunft, in der Zugehörigkeit zu einer
nationalen Minderheit, im Vermögen, in der Geburt oder im sonstigen
Status begründet ist". Dieses Diskriminierungsverbot enthält keinen
selbständigen und allgemeinen Rechtsgleichheitssatz (WILDHABER, Die
materiellen Rechte der Konvention mit Ausnahme der Artikel 5 und 6,
ZSR 94/1975 I S. 538; ZBl 76/1975 S. 274; GURADZE, Die Europäische
Menschenrechtskonvention, S. 188 f.; PARTSCH, Die Rechte und Freiheiten
der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 90). Aus dem Wortlaut der
genannten Bestimmung ergibt sich, dass dieses Diskriminierungsverbot
nur in bezug auf die in der Konvention ausdrücklich genannten Rechte und
Freiheiten gilt (WILDHABER, ZSR 94/1975 I S. 511; PARTSCH, aaO, S. 91;
SCHORN, Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten, S. 281). Art. 14 EMRK hat deshalb lediglich akzessorische
Bedeutung, indem er die diskriminierende Auslegung oder Anwendung
der in der EMRK oder in den Zusatzprotokollen aufgezählten Rechte und
Freiheiten untersagt, während die Diskriminierung in Rechtsgebieten,
die durch die Konvention bzw. die Zusatzprotokolle nicht geschützt sind,
nicht als Konventionsverletzung gerügt werden kann (WILDHABER, ZSR 94/1975
I S. 539; GURADZE, aaO, S. 188 f.; PARTSCH, aaO, S. 91).

    Die EMRK und die - von der Schweiz nur zum Teil ratifizierten -
Zusatzprotokolle enthalten weder eine allgemeine Vorschrift über die
rechtsgleiche Behandlung von Mann und Frau noch eine im vorliegenden
Fall anwendbare Bestimmung über die Altersgrenzen beim Anspruch auf
Sozialversicherungsleistungen bzw. bei der Verpflichtung zu entsprechenden
Beiträgen. Art. 3 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AHVG stehen demnach nicht
in einem Widerspruch zur EMRK, weshalb die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
auch in diesem Punkt unbegründet ist.