Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IV 87



105 IV 87

24. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. März 1979 i. S. N.
gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Aufschub des Strafvollzuges zwecks
ambulanter Behandlung.

    Der Strafaufschub ist begründet, wenn die wirklich vorhandene
Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung durch den sofortigen Vollzug
der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Wird eine unbedingte Freiheitsstrafe ausgefällt und gleichzeitig
die ambulante psychiatrische Behandlung angeordnet, so kann der Richter
entweder die ambulante Behandlung mit dem Vollzug der Freiheitsstrafe
verbinden (BGE 100 IV 12 und 202) oder den Vollzug der Strafe gemäss
Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB aufschieben, damit die ambulante Behandlung
vorweg durchgeführt werden kann (BGE 101 IV 270 ff. und 357 E. 4). Die
dritte denkbare Möglichkeit, die Behandlung erst nach der Entlassung aus
dem Strafvollzug beginnen zu lassen, dürfte aus praktischen Überlegungen
höchstens bei kurzen Freiheitsstrafen in Betracht fallen und kann im
vorliegenden Fall unberücksichtigt bleiben.

    b) Der Kassationshof befasste sich schon wiederholt mit der Auslegung
der Kann-Vorschrift in Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 (1. Satz). Er kam dabei
vor allem gestützt auf die Entstehungsgeschichte und den französischen
Gesetzestext zum Schluss, dass der sofortige Strafvollzug in Verbindung mit
der ambulanten Behandlung die Regel bilden müsse und dass der Strafvollzug
nur aufgeschoben werden soll, wenn der sofortige Vollzug den Erfolg der
ambulanten Behandlung in Frage stellen würde (BGE 100 IV 13 E. 1 und
202 E. 2). Diese Rechtsprechung wurde in BGE 101 IV 271 E. 1 bestätigt
unter Hinweis darauf, dass die ambulante Behandlung nach dem Willen des
Gesetzgebers nicht dazu missbraucht werden dürfe, den Vollzug der Strafe
zu umgehen oder ihn auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben; der Aufschub
müsse aus Gründen der Heilbehandlung hinreichend gerechtfertigt sein, was
dann zutreffe, wenn sie vordringlich und mit dem Strafvollzug unvereinbar
sei (ebenso BGE 101 IV 358).

    c) Zu dieser Rechtsprechung, welche dem Strafvollzug den Vorrang
einräumt und den Strafaufschub als besonders zu begründende Ausnahme
betrachtet, gibt es kritische Äusserungen aus ärztlicher und juristischer
Sicht:

    aa) Der Psychiater R. VOSSEN weist in der SJZ 73 (1977), S. 133 ff.
daraufhin, dass ambulante Behandlungsmassnahmen zum Teil nur in der
Freiheit, in der normalen Umgebung, sinnvoll durchgeführt werden können
(z.B. Alkoholvergällungskur, den Geschlechtstrieb hemmende medikamentöse
Behandlung) und dass eine die Kooperationsbereitschaft des zu Behandelnden
voraussetzende Therapie in der Strafvollzugsanstalt zur Scheintherapie
werde oder von Anfang an als undurchführbar zum Scheitern verurteilt sei.

    bb) In einer weitern psychiatrischen Publikation (R. KNAB, ZStR 1978,
S. 159 ff., insbesondere S. 166 ff.) wird die Problematik ambulanter
Behandlung im Strafvollzug ebenfalls hervorgehoben, aber auch klar
zum Ausdruck gebracht, dass die ambulante Behandlung mit Aufschub des
Strafvollzuges nicht problemlos ist und den Richter zudem vor die Frage
der Rechtsgleichheit stellt.

    cc) SCHULTZ (Allg. Teil II, S. 143 f.) ist der Auffassung, das
Gesetz sollte den Aufschub des Strafvollzuges für alle Fälle ambulanter
Behandlung zwingend vorsehen. Er befürchtet de lege lata (nach der Praxis
des Bundesgerichtes) eine Benachteiligung desjenigen Täters, der im
Strafvollzug ambulant behandelt wird, gegenüber dem, der sogleich gemäss
Art. 43 oder 44 StGB in eine Anstalt eingewiesen wird; das Risiko einer
Benachteiligung sieht er darin, dass bei einem Misserfolg der ambulanten
Behandlung die ganze Strafe vollzogen und anschliessend die Weiterführung
der Behandlung in einer Anstalt verfügt werden könne.

    d) Die Äusserungen in der Doktrin vermögen eine Änderung der
Interpretation von Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB nicht zu begründen. Zwar
hat der Gesetzgeber vielleicht die Problematik einer ambulanten
Behandlung während des Strafvollzugs nicht in vollem Umfange erkannt,
aber diese Schwierigkeiten rechtfertigen eine Umdeutung der gesetzlichen
Ordnung nicht. Das Gesetz hat den Aufschub des Strafvollzugs bei
ambulanter Behandlung nicht als Regel, sondern als mögliche Ausnahme
eingeführt, welche in der Art der Behandlung ihre Rechtfertigung finden
muss. Diese im Differenzenbereinigungsverfahren vom Ständerat geschaffene
Lösung (Amtl. Bull. S 1970, 99/100) diente dazu, die vom Nationalrat
beschlossene Formulierung ("ambulante Behandlung hindert den Vollzug der
Freiheitsstrafe nicht") etwas beweglicher zu gestalten. Der Nationalrat
hatte sich 1969 gegen den vom Ständerat angenommenen bundesrätlichen
Vorschlag gewandt, weil der "Ersatz" des Strafvollzugs durch eine
ambulante Massnahme als "ein die Rechtsgleichheit gefährdender, durch
die Erfolge psychiatrischer Behandlung in keiner Weise gerechtfertigter
Einbruch in das Sanktionensystem" erschien (so Berichterstatter A. Schmid,
Amtl. Bull. N 1969, 118). Beide Berichterstatter brachten damals klar zum
Ausdruck, dass die abgelehnte Fassung des Entwurfes Anlass zu Missbräuchen
geben könnte. Diese Bedenken gegen eine zu weitgehende Möglichkeit, eine
Freiheitsstrafe durch eine ambulante Behandlung zu "ersetzen", sind heute
nicht überholt und dürfen daher bei der Auslegung des geltenden Art. 43
Ziff. 2 StGB nicht ausser acht gelassen werden. Sie haben mehr Gewicht
als der Einwand, es könnte durch den Verzicht auf den Vollzugsaufschub
in Fällen erfolgloser ambulanter Behandlung zu einem ungerecht langen
Freiheitsentzug kommen. Dieser Befürchtung kann durch eine vernünftige
Entlassungspraxis (Art. 43 Ziff. 4 StGB) Rechnung getragen werden.

    Die psychotherapeutischen Möglichkeiten einer Behandlung
mit kriminalprophylaktischer Wirkung sind begrenzt und werden oft
überschätzt (vgl. VOSSEN aaO, S. 135). Zwar entspricht es der Tendenz
des Strafrechts, die ärztliche Behandlung überall dort zum Zuge kommen
zu lassen, wo ein Erfolg als möglich erscheint. Gegen die Anordnung
einer ambulanten Therapie ist daher vom Bundesrecht her auch in Fällen
mit geringen Erfolgsaussichten an sich nichts einzuwenden. Hingegen muss
vermieden werden, dass die ambulante Behandlung als Mittel benutzt wird,
um dem Strafvollzug zu entgehen, wo die Voraussetzungen eines bedingten
Vollzuges nicht gegeben sind. Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB ermöglicht
ausnahmsweise den Strafaufschub, wenn eine sofortige Behandlung gute
Erfolgschancen hat, diese Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Therapie
aber durch den Strafvollzug wesentlich beeinträchtigt würde. Nur in
einem solchen Falle ist der Vollzug mit der Behandlung nicht vereinbar
("...n'est pas compatible avec le traitement") und hat die mit einer
echten Resozialisierungsaussicht verbundene Therapie den Vorrang vor
einem diese Möglichkeit zerstörenden oder wesentlich vermindernden
sofortigen Vollzug. Dass bei einem Aufschub der drohende Vollzug die
Bereitschaft zur ambulanten Behandlung erhöht und diese Motivationshilfe
beim sofortigen Strafvollzug wegfällt, kann für sich allein zur Begründung
des Strafaufschubs nicht genügen. Dieser Gesichtspunkt müsste sonst
immer zum Strafaufschub führen, was der ratio von Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2
StGB nicht entspricht. Der Aufschub des Vollzugs der Freiheitsstrafe
ist begründet, wenn der Sachrichter zur Überzeugung gelangt, dass die
wirklich vorhandene Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung durch den
sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde.

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht hat Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB zutreffend
ausgelegt. Welche Erfolgsaussicht im konkreten Fall einer ambulanten
Behandlung zukommt und ob die zu erwartende Wirkung der Therapie durch
den Vollzug der Freiheitsstrafe in Frage gestellt werden könnte, ist
weitgehend eine Ermessensfrage (vgl. BGE 101 IV 271 E. 1 und 358 E. 4).

    Die Vorinstanz ist nach einlässlicher Würdigung des psychiatrischen
Haupt- und Ergänzungsgutachtens zum Ergebnis gelangt, die ambulante
Behandlung sei mit dem sofortigen Strafvollzug nicht unvereinbar;
der Behandlungserfolg sei nicht durch den Vollzug der Strafe, sondern,
wenn überhaupt, durch die allgemeine Einstellung des Beschwerdeführers
gefährdet. Diese Schlussfolgerungen liegen im Rahmen des Ermessens,
das dem Sachrichter nach Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB zusteht. Im
Ergänzungsgutachten macht der Experte zwar gegen eine psychiatrische
Behandlung in der Strafanstalt erhebliche Vorbehalte, stellt dann aber
fest, dass im vorliegenden Falle eine Therapie grundsätzlich jederzeit,
auch während des Strafvollzuges, durchgeführt werden könne. Zur Frage
der Erfolgsaussichten erklärt er, dass eine ambulante Behandlung mit
Strafaufschub den Therapieerfolg am ehesten gewährleisten dürfte, obschon
auch bei den andern Lösungen nicht zum vornherein mit einem Misserfolg
gerechnet werden müsse. Dass aus psychiatrischer Sicht dem Versuch
einer therapeutischen Behandlung ohne die Belastung durch gleichzeitigen
Strafvollzug der Vorzug gegeben und diese Möglichkeit in den Vordergrund
gestellt wird, ist naheliegend. Was den vom Gutachter vorgebrachten
Wunsch nach Aufrechterhaltung der Motivation des Beschwerdeführers
durch die drohende Strafverbüssung angeht, so lässt sich dieser
Gesichtspunkt ganz allgemein für die Lösung mit einem Aufschub des
Strafvollzuges anführen. Der Gesetzgeber hat aber eine die Möglichkeit
des Strafaufschubs eng begrenzende Regelung getroffen und den Richter
angewiesen, den Aufschub nur ausnahmsweise zu gewähren, wenn die sonst
gefährdete Resozialisierungschance dies rechtfertigt. Das Obergericht
hat mit der Annahme, die nach beiden Gutachten ohnehin recht fragliche
Erfolgsaussicht einer therapeutischen Behandlung werde im vorliegenden
Fall durch den sofortigen Vollzug nicht wesentlich beeinträchtigt und
ein Aufschub der Freiheitsstrafe sei daher nicht gerechtfertigt, die
Vorschrift von Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB nicht verletzt, sondern von
seinem Ermessen pflichtgemäss Gebrauch gemacht.