Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IV 248



105 IV 248

64. Urteil des Kassationshofes vom 28. September 1979 i.S. L. gegen
Staatsanwaltschaft Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 292 StGB. Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen.

    Die Androhung, dass Ungehorsam mit Haft oder Busse gemäss Art. 292
StGB bestraft werde, ist in einer neuen Verfügung auch dann nötig,
wenn der Betroffene bereits früher in einem anderen Verfahren über die
Straffolgen des Art. 292 StGB belehrt worden ist.

Sachverhalt

    A.- In einem von X. gegen L. und weitere Redaktoren der "Bündner
Zeitung" wegen Verletzung der persönlichen Verhältnisse geführten
Zivilprozess erliess der Präsident des Bezirksgerichts Plessur am
9. September 1977 eine vorsorgliche Verfügung, in der die Beklagten
angewiesen wurden, die Publikation von Vorwürfen, die gegen X. erhoben
wurden, während der Prozessdauer zu unterlassen. Am 16. September 1977
richtete der Bezirksgerichtspräsident an die Anwälte der Prozessparteien
ein Schreiben, worin er erklärte, dass in der Verfügung vom 9. September
1977 der Hinweis auf Art. 292 StGB irrtümlich nicht angebracht worden
sei und dass dieser hiemit nachgeholt werde.

    Am 16. und 21. November 1977 liess L. zwei Zeitungsartikel erscheinen,
in denen er sich erneut zur Angelegenheit X. äusserte.

    B.- Der Kreisgerichtsausschuss Chur sprach L. am 8. Juni 1978 des
wiederholten Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen schuldig und verfällte
ihn gemäss Art. 292 StGB in eine Busse von Fr. 2'000.-.

    Die vom Angeklagten gegen dieses Urteil eingereichte Berufung wurde
vom Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden am 30. Januar 1979 abgewiesen.

    C.- L. verlangt mit Nichtigkeitsbeschwerde die Aufhebung des
Urteils des Kantonsgerichtsausschusses und die Rückweisung der Sache
zur Freisprechung.

    D.- Der Kantonsgerichtsausschuss beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Ungehorsam gegen eine amtliche Verfügung kann gemäss Art.
292 StGB nur bestraft werden, wenn die Verfügung "unter Hinweis auf die
Strafdrohung dieses Artikels" erlassen worden ist.

    Art. 292 StGB ist eine Blankettnorm, die lediglich subsidiär
anwendbar ist, nämlich dann, wenn das Gesetz, auf das sich die amtliche
Verfügung stützt, keine besonderen Strafbestimmungen zur Ahndung der
Nichtbefolgung vorsieht. Deswegen muss eine der Strafdrohung des
Art. 292 StGB unterstellte Verfügung eine besondere Belehrung über
die strafrechtlichen Folgen enthalten, welche die betroffene Person im
Falle des Ungehorsams zu gewärtigen hat. Dem damit bezweckten Schutz des
Betroffenen vor unerwarteter Strafe wird nach ständiger Rechtsprechung
nicht schon dadurch genügt, dass in der Verfügung bloss die Strafbarkeit
des Ungehorsams erwähnt oder nur unbestimmt auf die in Art. 292 StGB
vorgesehenen Strafen verwiesen wird. Vielmehr muss, wie der französische
und italienische Gesetzestext vorschreiben, ausdrücklich angedroht werden,
dass eine Widerhandlung gegen die Verfügung gemäss Art. 292 StGB "mit
Haft oder Busse" bestraft wird (BGE 68 IV 46/47; SCHWANDER, Nr. 750,
S. 492 Ziff. 4, STRATENWERTH, BT II, 2. Aufl., S. 296 f.).

Erwägung 2

    2.- Die Verfügung des Bezirksgerichtspräsidenten vom 9.  September
1977 enthielt überhaupt keine Strafdrohung, und in dem die Verfügung
ergänzenden Schreiben vom 16. September 1977 war einzig vom "Hinweis
auf Art. 292 StGB" die Rede. Diese Belehrung entsprach nicht den
gesetzlichen Anforderungen.

    Der Kassationshof hat allerdings in BGE 86 IV 28 erklärt, dass auf
eine Belehrung über die in Art. 292 StGB vorgesehenen Strafen verzichtet
werden könne, wenn der Adressat der Verfügung die Strafandrohung ohnehin,
z.B. durch eine nicht lange vorher ergangene Verfügung, bereits kenne. In
jenem Fall wurde ein Schuldner in mehreren Betreibungen vom gleichen
Betreibungsamt wiederholt aufgefordert, an bestimmten Tagen bei der
Wegnahme gepfändeter Gegenstände anwesend zu sein, wozu teils ein
Formular mit der Androhung der Straffolgen des Art. 292 StGB, teils
ein solches mit der vollständigen Wiedergabe dieser Strafbestimmung
verwendet wurde. Aufgrund der im gleichen Betreibungsverfahren erfolgten
Strafdrohungen, die zum Teil mit einer vollständigen Belehrung versehen
waren, durfte angenommen werden, dem Adressaten seien die mehrfach
vorgehaltenen Strafen genau bekannt.

    Der vorliegende Fall lässt sich nicht mit dem vorerwähnten
vergleichen. Wohl waren dem Beschwerdeführer in dem vom Kreispräsidenten
Chur am 1. Juni 1977 erlassenen provisorischen Amtsbefehl die Strafen
des Art. 292 StGB korrekt angedroht worden. Dieses Befehlsverfahren
endete jedoch einen Monat später mit der Abweisung des entsprechenden
Gesuches und mit der Aufhebung der provisorischen Verfügung. Die
nachher ergangene vorsorgliche Verfügung vom 9./16. September 1977
ist in einem andern Verfahren und von einer andern Instanz, nämlich im
ordentlichen Verfahren vom Bezirksgerichtspräsidenten als Zivilrichter
angeordnet worden. Der Erlass einer neuen, in die Zuständigkeit eines
andern Richters fallenden Verfügung gab dem Beschwerdeführer gemäss Art.
292 StGB Anspruch darauf, über die ihm von der neuen Instanz angedrohten
Strafen mit ausreichender Deutlichkeit aufgeklärt zu werden, unabhängig
davon, ob ihm die Bestrafung nach Art. 292 StGB bereits früher in einem
andern Verfahren angedroht worden sei. Da die Belehrung ungenügend war,
fehlt eine der Voraussetzungen für die Strafbarkeit des Beschwerdeführers.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Kantonsgerichtsausschusses von Graubünden vom 30. Januar 1979 aufgehoben
und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz
zurückgewiesen.