Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IV 229



105 IV 229

60. Urteil des Kassationshofes vom 21. August 1979 i.S. Y. gegen X.
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 2 ZGB. Rechtsmissbräuchlicher Strafantrag eines geschiedenen
Ehemannes, der seiner früheren Ehefrau, die das ihr zustehende Besuchsrecht
geringfügig überschritt, dazu durch grobes rechtswidriges Verhalten
unmittelbar Anlass gegeben hatte, indem er die Ausübung des Besuchsrechts
während längerer Zeit ohne triftigen Grund vereitelte oder erschwerte
und darauf ausging, ihr die Kinder zu entfremden.

Sachverhalt

    A.- Gisèle Y. wurde am 28. Oktober 1977 von der II.  Strafkammer des
Obergerichts des Kantons Bern wegen Entziehens und Vorenthaltens von
Unmündigen (Art. 220 StGB) zu einer Busse von Fr. 20.- verurteilt, weil
sie in Überschreitung des Besuchsrechts ihre Kinder Patricia und Sandra
über Weihnachten 1975 drei Tage zu lange bei sich behielt.

    In der gegen dieses Urteil erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde berief
sich Gisèle Y. unter anderem auf erlaubte Selbsthilfe und darauf, ihr
geschiedener Ehemann, François X. habe den Strafantrag rechtsmissbräuchlich
gestellt, denn er habe die Ausübung des Besuchsrechts selber weitgehend
verhindert und erschwert.

    Das Bundesgericht erachtete den Rechtfertigungsgrund der erlaubten
Selbsthilfe als nicht gegeben, schloss dagegen die Möglichkeit, dass
der Strafantrag auf Rechtsmissbrauch beruhe, nicht aus. Da die für die
Beurteilung dieser Frage erforderlichen tatsächlichen Verhältnisse nicht
hinreichend festgestellt waren, hob der Kassationshof am 9. Juni 1978
das angefochtene Urteil gemäss Art. 277 BStP auf und wies die Sache zur
Ergänzung des Sachverhalts und zur Beurteilung des geltend gemachten
Rechtsmissbrauchs an die Vorinstanz zurück (BGE 104 IV 90).

    B.- Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern verneinte
nach Durchführung von Erhebungen die Frage des Rechtsmissbrauchs und
bestätigte am 15. Dezember 1978 ihr erstes Urteil.

    C.- Gisèle Y. führt wiederum Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das neue Urteil sei aufzuheben, der Strafantrag wegen Rechtsmissbrauchs
nichtig zu erklären und die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    D.- François X. beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wie im Rückweisungsentscheid ausgeführt wurde, darf ein Strafantrag
nur dann als unbeachtlich erklärt werden, wenn er offensichtlich
rechtsmissbräuchlich gestellt worden ist, was voraussetzt, dass der
Antragsteller selber durch grobes rechtswidriges Verhalten zur strafbaren
Handlung des Täters unmittelbar Anlass gegeben hat. Diese Weisungen waren
nicht nur für das Obergericht verbindlich (Art. 277ter Abs. 2 BStP), sie
binden auch das Bundesgericht, das in einem neuen Beschwerdeverfahren
auf seine rechtlichen Erwägungen nicht mehr zurückkommen kann (BGE 101
IV 105/106).

    Das Obergericht hat sich an die rechtliche Begründung des
Rückweisungsentscheides insofern nicht gehalten, als es die Auffassung
vertritt, die Rechtsmissbräuchlichkeit eines Strafantrages müsse rasch
erkannt und entschieden werden können und sei daher enger zu fassen und
strenger zu beurteilen als ein Rechtfertigungs- oder Strafmilderungsgrund,
der in einem weitern Rahmen zum Ausschluss oder zur Milderung der Strafe
führe; fehle aber ein Rechtfertigungsgrund, wie es hier nach der Verneinung
der erlaubten Selbsthilfe zutreffe, könne auch kein Rechtsmissbrauch
angenommen werden.

    Dieser Ansicht kann nicht beigepflichtet werden. Der Strafantrag
ist eine Prozessvoraussetzung, deren Fehlen eine Verurteilung auch dann
verbietet, wenn eine Tat strafbar ist. Die Gültigkeit des Strafantrages
ist aber nicht davon abhängig, ob der Täter bestraft wird oder wegen eines
Rechtfertigungs- oder eines andern Strafausschliessungsgrundes straflos
bleibt. Umgekehrt schliesst der Mangel eines Strafausschliessungsgrundes
auch nicht zum vornherein aus, dass der Strafantrag das Verbot des
Rechtsmissbrauchs verletzt. Unzutreffend ist auch die Meinung, der
Rechtsmissbrauch müsse immer sofort klar erkennbar sein. Dass sich die
Frage des Rechtsmissbrauchs erst im spätern Verlaufe des Verfahrens stellen
kann, zeigt gerade der vorliegende Fall, wo sie vorerst von keiner Seite
aufgeworfen wurde, weil der entsprechende Sachverhalt nicht hinreichend
abgeklärt war.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz verneint den Rechtsmissbrauch im wesentlichen
mit der Begründung, X. habe der Beschwerdeführerin nach Zahl und Art der
Verweigerung des Besuchsrechts kein objektiv schweres Unrecht zugefügt.
Werde die Zeit der Besuchssperre vom 18. Juni bis 15. Oktober 1975
ausgeklammert, so habe die Beschwerdeführerin das Besuchsrecht, wenn
auch mit Schwierigkeiten, in der Zeit vom 25. Januar 1975 bis zur Tat
(19. Dezember 1975) etwa zur Hälfte und nachher zu zwei Dritteln ausüben
können. Beziehe man das Besuchsrecht nur auf Sandra und Patricia (ohne
Didier), sei der mütterliche Anspruch bei drei Verweigerungen auf 19
legal vollzogene Besuche lediglich zu 1/7 beeinträchtigt worden. Zu
Beschimpfungen und Drohungen seitens X. sei es nur in vereinzelten Fällen
gekommen und ab Neujahr 1976 seien sie gänzlich ausgeblieben. Offenbare
Schikanen könnten nur für den 6. Dezember 1975 und 7. Februar 1976
nachgewiesen werden. Hinzu komme, dass X. für die Hindernisse, die
der Ausübung des Besuchsrechts in den Weg gelegt wurden, nur zum Teil
verantwortlich gemacht werden könne, da Gemeinderat W., vormundschaftliche
Aufsichtsperson, und andere Behörden zur Behinderung wesentlich beigetragen
hätten und X. in seiner Haltung von seiner Frau und der Psychologin
W. unterstützt worden sei.

Erwägung 3

    3.- Die Tatsache, dass die Behörden, insbesondere Gemeinderat
W., an der Behinderung und an der vom 18. Juni bis 15. Oktober 1975
dauernden Besuchssperre wesentlich mitverantwortlich waren, vermag
den Beschwerdegegner nur zu einem geringen Teil zu entlasten. Er
war es, der schon kurz nach dem Urteil des Amtsgerichts Delsberg
vom 25. Januar 1975 mit seinem Begehren vom 15. März 1975 die
Vormundschaftsbehörde veranlasste, das gerichtlich festgelegte Besuchsrecht
zu unterbinden. Kennzeichnend für das offensichtliche Bestreben des
Beschwerdegegners, das Besuchsrecht der Mutter zu vereiteln, ist ferner,
dass er sich dem Begehren der Beschwerdeführerin um Vollstreckung
des gerichtlichen Urteils widersetzte und dadurch erheblich dazu
beitrug, dass der Entscheid über das Vollzugsbegehren sich bis zum
9. März 1976 verzögerte. Der Umstand aber, dass die Beschwerdeführerin
das Begehren erst am 18. Oktober 1975 beim Gerichtspräsidenten von
Laupen einreichte, ist offensichtlich darauf zurückzuführen, dass
sie sich vorerst beim Gerichtspräsidenten von Delsberg beschwerte
und sich erst später herausstellte, dass dessen Intervention bei der
Vormundschaftsbehörde (Schreiben vom 25. Juni 1975) wirkungslos blieb
und diese den Beschwerdegegner weiterhin in ungerechtfertigter Weise
unterstützte. Nach der Rechtsprechung hätte die Vormundschaftsbehörde in
das Urteil vom 25. Januar 1975 nur eingreifen dürfen, wenn die zum Schutz
der Kinder nötigen vorsorglichen Massnahmen vom Richter voraussichtlich
nicht rechtzeitig hätten getroffen werden können (HEGNAUER, Kommentar
N. 191-197 zu Art. 283 ZGB). Diese Voraussetzung war nicht gegeben. Es
ist nicht ersichtlich und in keiner Weise dargetan, inwiefern die
Ausübung des Besuchsrechts durch die Beschwerdeführerin das Wohl der
Kinder beeinträchtigt hätte. Insbesondere hat die Beschwerdeführerin die
Kinder nie gegen deren Willen gezwungen, zu ihr zu gehen. War aber die
Beschränkung des Besuchsrechts, namentlich dasjenige gegenüber den beiden
Mädchen, die sich nie geweigert hatten, zur Mutter zu gehen, offensichtlich
unbegründet und rechtswidrig, so ist zum mindesten hinsichtlich der Mädchen
die in die Zeit vom 18. Juni bis 15. Oktober 1975 fallende Verhinderung
des Besuchsrechts entgegen der Ansicht der Vorinstanz mitzurechnen. Somit
wiegt auch rein zahlenmässig die Behinderung wesentlich schwerer, als im
angefochtenen Urteil angenommen wurde.

    Beim Vorfall vom 6. Dezember 1975 weigerte sich der Beschwerdegegner,
die Kinder der Mutter vor dem Schulhaus zu übergeben unter dem Vorwand,
sie müssten bei ihm zu Hause abgeholt werden. Ferner wird durch die
Sozialassistentin, die bei der Durchführung des Besuchsrechts am 7. Februar
und 6. März 1976 dabei war, bezeugt, dass der Beschwerdegegner die Kinder
mit der Bemerkung, sie müssten nicht zur Mutter gehen, wenn sie nicht
wollten, ungünstig zu beeinflussen versuchte und dass er die Bereitschaft
von Sandra, zur Beschwerdeführerin zu gehen, durch kühle Behandlung des
Kindes deutlich missbilligte. Auch wenn offenbare Schikanen nur vereinzelt
nachweisbar sind, so ist das erwähnte Verhalten des Beschwerdegegners
dennoch unmissverständlicher Ausdruck seiner allgemeinen Einstellung,
aus der heraus er darauf ausging, die Ausübung des Besuchsrechts zu
vereiteln und die Kinder, jedenfalls die beiden Mädchen, vom Besuch ihrer
Mutter abzuhalten.

    Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils hat X. in der
Befragung über die Beweggründe seines Verhaltens sich weitgehend hinter
das Wohl der Kinder verschanzt. Die Vorinstanz findet, hierin möge
er subjektiv mindestens teilweise Recht gehabt haben, zumal er sich
in seiner Ansicht durch die Behörden bestärkt gesehen habe. Dem ist
jedoch entgegenzuhalten, dass auch die Vorinstanz keine Gründe nennt,
die den Beschwerdegegner berechtigt hätten, sich auf das Wohl der Kinder
zu berufen. Er stützte sein Vorgehen vielmehr auf die hinsichtlich der
Mädchen unwahre Behauptung, die Kinder weigerten sich, die Mutter zu
besuchen. Unter diesem Vorwand erreichte er auch die Unterstützung der
Vormundschaftsbehörde und ihr unbegründetes Eingreifen.

Erwägung 4

    4.- Gesamthaft betrachtet hat X. das der Beschwerdeführerin zustehende
Besuchsrecht während verhältnismässig langer Zeit ohne triftigen Grund
grob verletzt. Das ihr zugefügte Unrecht wiegt objektiv und subjektiv
weit schwerer als die Tat der Beschwerdeführerin, die sie in einer für
sie damals ausweglos erscheinenden Lage beging, konnte sie doch nach
dem vorausgegangenen Verhalten der Behörden nicht mehr mit der Ausübung
des Besuchsrechts über Weihnachten 1975 rechnen und musste befürchten,
auch die beiden Mädchen könnten ihr, wie es bei Didier zutraf, entfremdet
werden. Zwischen dem rechtswidrigen Verhalten des Beschwerdegegners und der
Zwangslage, in der die Beschwerdeführerin handelte, besteht unzweifelhaft
ein enger Kausalzusammenhang. Unter den gegebenen Umständen war daher der
Strafantrag vom 17. März 1976 offensichtlich rechtsmissbräuchlich. Daran
ändert nichts, dass X. vielleicht bereit gewesen wäre, keinen Antrag
zu stellen, wenn die Beschwerdeführerin sich entschuldigt und ihm die
Reisekosten nach Courtételle ersetzt hätte.

Erwägung 5

    5.- Die Gutheissung der Beschwerde hat zur Folge, dass über die
Verteilung der Kosten und Entschädigungen im kantonalen Verfahren die
Vorinstanz neu zu entscheiden hat.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der
II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 15. Dezember 1978
aufgehoben und die Vorinstanz angewiesen, das Verfahren mangels gültigen
Strafantrags einzustellen.