Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IV 136



105 IV 136

37. Urteil des Kassationshofes vom 20. April 1979 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Luzern gegen Renz (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Bundesgesetz und Verordnung über Ordnungsbussen im Strassenverkehr.

    1. Das Ordnungsbussenverfahren ist obligatorisch anzuwenden,
nicht bloss fakultativ. Die Fälle, in denen eine dem Ordnungsbussenrecht
unterstehende Übertretung ausnahmsweise im ordentlichen Verfahren zu ahnden
ist, werden durch Gesetz und Verordnung abschliessend geregelt (E. 1-3).

    2. Das Ordnungsbussenrecht findet auch Anwendung, wenn die Übertretung
dem Fehlbaren nicht an Ort und Stelle vorgehalten werden kann (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Aufgrund einer polizeilichen Radarmessung wurde festgestellt, dass
Maurus Renz am 17. April 1978 im Dorf Baldegg LU mit seinem Personenwagen
die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h überschritt. Da er
nach der Messstelle nach rechts abbog, um auf seinem gewohnten Weg nach
Geroldswil zu gelangen, konnte er von der etwas weiter Richtung Gelfingen
wartenden Polizei weder angehalten noch zur Bezahlung der Ordnungsbusse
aufgefordert werden.

    B.- Renz wurde darauf im ordentlichen Verfahren durch Strafverfügung
des Amtsstatthalters zu einer Busse von Fr. 40.- verurteilt und mit
Untersuchungskosten von Fr. 30.- belastet. Er anerkannte und bezahlte
die Busse, erhob aber gegen die Kostenbelastung Einsprache.

    Der Amtsstatthalter hielt am angefochtenen Kostenentscheid fest
und auferlegte Renz im Einspracheentscheid die inzwischen auf Fr. 75.-
angestiegenen Kosten.

    C.- Auf erneute Einsprache hob das Amtsgericht Hochdorf den
Kostenentscheid des Amtsstatthalters auf und erklärte, der Fall sei mit
der erfolgten Bezahlung der Busse erledigt; der Angeklagte habe Anspruch
auf Durchführung des Ordnungsbussenverfahrens gehabt und dürfe daher nicht
mit den Kosten eines zu Unrecht eingeleiteten ordentlichen Verfahrens
belastet werden.

    Die hiegegen eingereichte Kassationsbeschwerde der Staatsanwaltschaft
wurde vom Obergericht des Kantons Luzern am 14. Februar 1979 abgewiesen.

    D.- Die Staatsanwaltschaft ficht das Urteil des Obergerichtes mit
Nichtigkeitsbeschwerde an. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen
Urteils und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zu neuer
Beurteilung unter Kostenbelastung des Angeklagten.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Staatsanwaltschaft ist der Auffassung, es bestehe kein Anspruch
auf Anwendung des Ordnungsbussenverfahrens; dieses habe fakultativen,
nicht obligatorischen Charakter. Dafür spreche in erster Linie Art. 1
Abs. 1 des Bundesgesetzes über Ordnungsbussen im Strassenverkehr vom 24.
Juni 1970 (OBG; SR 741.03), der folgenden Wortlaut hat:

    "Übertretungen der Strassenverkehrsvorschriften des Bundes können nach
   diesem Gesetz in einem vereinfachten Verfahren mit Ordnungsbussen bis zu

    100 Franken geahndet werden (Ordnungsbussenverfahren)."

    Diese mit der Überschrift "Grundsatz" versehene Bestimmung hat nicht
den Sinn einer Kann-Vorschrift, welche die Anwendung des Gesetzes in das
Ermessen der rechtsanwendenden Instanzen stellt. Sie will vielmehr Ziel
und Tragweite des Gesetzes umschreiben. Danach wird der Anwendungsbereich
des besonderen Ordnungsbussenverfahrens einerseits auf Übertretungen der
Strassenverkehrsvorschriften des Bundes beschränkt und anderseits durch
die maximale Bussenhöhe von Fr. 100.- abgegrenzt. Der Begriff "können"
bedeutet nichts anderes, als dass die mit dem Erlass der notwendigen
Ausführungsvorschriften betrauten Behörden (Art. 3 OBG) ermächtigt
werden, im vorgesehenen Rahmen die für das Ordnungsbussenverfahren
geeigneten Übertretungen auszuwählen. Hingegen ist aus dieser Wendung
nicht abzuleiten, es sei Sache der Polizeiorgane, im konkreten Einzelfall
zu bestimmen, ob das Ordnungsbussenverfahren zum Zuge komme oder nicht.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 3 Abs. 1 OBG stellt der Bundesrat nach Anhören der
Kantone "die Liste der Übertretungen auf, die durch Ordnungsbussen zu
ahnden sind, und bestimmt den Bussenbetrag".

    Diese Vorschrift lässt keinen Zweifel darüber offen, dass der Bundesrat
im Rahmen des Grundsatzes von Art. 1 Abs. 1 OBG eine abschliessende,
obligatorisch anzuwendende Regelung zu treffen hat. Dies stimmt auch
überein mit den Art. 6-10 OBG, welche für die kantonalen Polizeiorgane
verbindlich festlegen, wie in den durch Ordnungsbussen zu erledigenden
Fällen vorzugehen ist. Art. 10 regelt sodann die Voraussetzungen, unter
denen auf das Ordnungsbussenverfahren verzichtet werden kann: Einerseits
kann der Täter die vereinfachte Erledigung ablehnen und die ordentliche
Beurteilung verlangen, anderseits haben die Polizeiorgane die Möglichkeit,
bei mehrfacher Wiederholung der Widerhandlung das ordentliche Verfahren
einzuleiten, wenn eine strengere Strafe in Betracht fällt. Auch aus dieser
Regelung muss der Umkehrschluss gezogen werden, dass in andern Fällen
die Polizei nicht nach ihrem Ermessen eine Verzeigung vornehmen darf,
sondern dass die vom Bundesrat bezeichneten Übertretungen grundsätzlich
im Ordnungsbussenverfahren zu erledigen sind.

Erwägung 3

    3.- Ebensowenig kann die Beschwerdeführerin ihre Auffassung auf
Art. 11 Abs. 1 OBG stützen, der vorsieht, dass eine Ordnungsbusse auch
im ordentlichen Verfahren ausgefällt werden kann. Diese Bestimmung
überlässt es nicht dem Ermessen der Polizeiorgane, von der Durchführung
des Ordnungsbussenverfahrens einfach abzusehen und durch Verzeigung
die Bestrafung des Täters im ordentlichen Verfahren zu veranlassen,
ohne dass eine der dazu erforderlichen gesetzlichen Voraussetzungen
gegeben ist. Nur im Hinblick auf die vorgesehenen Ausnahmefälle, in denen
eine grundsätzlich dem Ordnungsbussenrecht unterstehende Übertretung im
ordentlichen Verfahren zu ahnden ist (Art. 7 Abs. 2, 10 Abs. 2 und 3 OBG,
Art. 2 lit. a und b OBV), wird in Art. 11 Abs. 1 OBG die Möglichkeit
vorbehalten, allenfalls auch im ordentlichen Verfahren das ordentliche
Strafrecht nicht anzuwenden und aufgrund des Ordnungsbussenrechts bloss
eine (kostenfreie) Ordnungsbusse auszusprechen. Eine darüber hinausgehende
Bedeutung hat die Bestimmung nicht.

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall war es der Polizei nicht möglich, den
Beschwerdegegner nach der Radarmessung anzuhalten und an Ort und Stelle
auf seine Verfehlung aufmerksam zu machen.

    a) Art. 2 lit. b der Verordnung über Ordnungsbussen im Strassenverkehr
vom 22. März 1972 (OBV) bestimmt, dass die Polizeiorgane von einer
Ordnungsbusse abzusehen und Anzeige zu erstatten haben, wenn dem Täter,
der eine Übertretung im rollenden Verkehr begangen hat, der Sachverhalt
nicht an Ort und Stelle vorgehalten werden kann. Diese Vorschrift käme hier
zur Anwendung, wenn das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement keine
abweichenden Weisungen über Geschwindigkeitskontrollen im Strassenverkehr
erlassen hätte, die in Art. 2 lit. b OBV ausdrücklich vorbehalten werden.

    b) In Ziff. 7 der Weisungen des EJPD vom 11. September 1972 über
Geschwindigkeitskontrollen im Strassenverkehr wird für Fälle, in denen
ein sofortiger Vorhalt der Verfehlung nicht möglich ist, angeordnet,
dass dem Halter des Fahrzeugs möglichst rasch, spätestens innert zehn
Tagen, die Ahndung gemäss Ordnungsbussengesetz bzw. die Verzeigung
in Aussicht zu stellen ist. Diese Regel kann, wie im angefochtenen
Entscheid zutreffend ausgeführt wird, nur dahin verstanden werden, dass
dort, wo nach der Schwere der Übertretung das Ordnungsbussengesetz zur
Anwendung kommen kann, nach diesem Gesetz vorzugehen ist, während in den
übrigen Fällen (z.B. Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um mehr als
15 km/h, mehrfache Wiederholung) die Verzeigung Platz greifen muss. Den
Polizeiorganen wird damit nicht die freie Wahl zwischen der Anwendung des
besonderen Ordnungsbussenrechts und der ordentlichen Verzeigung eingeräumt;
sie sind im Gegenteil auch dann, wenn dem Fehlbaren die Übertretung nicht
an Ort und Stelle vorgehalten werden kann, verpflichtet, die Bestimmungen
des OBG anzuwenden, wenn die Ausfällung einer Ordnungsbusse in Betracht
fällt. Dass Geschwindigkeitsübertretungen (bis 15 km/h) grundsätzlich
gemäss OBG zu ahnden sind, selbst wenn ein Vorhalt an Ort und Stelle
nicht möglich ist, ergibt sich auch klar aus den Weisungen des EJPD über
Geschwindigkeitskontrollen ohne Anhalteposten vom 11. Dezember 1973 (Ziff.
1.5 und 1.6).

    c) Die vom EJPD in den Weisungen niedergelegten Richtlinien
stimmen mit der ratio legis des OBG überein, das eine einheitliche
bundesrechtliche Ordnung für die vereinfachte Verfolgung und Bestrafung
leichter Verkehrswiderhandlungen geschaffen hat. Wie in der Botschaft
zum OBG ausgeführt wurde, steht es nicht im Belieben der Kantone, darüber
zu entscheiden, ob sie ihr ordentliches oder das Ordnungsbussenverfahren
zur Anwendung bringen wollen. Dieselben leichten Übertretungen müssen im
ganzen Land auf gleiche Weise mit den gleichen Ordnungsbussen geahndet
werden (BBl 1969, S. 1092).

Erwägung 5

    5.- Ist somit davon auszugehen, dass die vom Beschwerdegegner begangene
Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von Bundesrechts
wegen mit einer Ordnungsbusse von Fr. 40.- zu ahnden ist und dass im
Ordnungsbussenverfahren gemäss Art. 6 Abs. 1 OBG und Art. 6 OBV keine
Kosten erhoben werden dürfen, so erweist sich das angefochtene Urteil
auch inbezug auf den Kostenentscheid als bundesrechtskonform.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.