Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 II 39



105 II 39

7. Urteil der I. Zivilabteilung vom 14. Februar 1979 i.S. H. Leuenberger &
Söhne gegen Ciulla (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Überstundenarbeit.

    Art. 321c Abs. 3, 341 Abs. 1 und 357 Abs. 2 OR.

    Während der Dauer des Arbeitsverhältnisses und eines Monats nach dessen
Beendigung kann der Arbeitnehmer weder ausdrücklich noch stillschweigend
auf Lohn verzichten, der ihm aus Überstundenarbeit zusteht.

Auszug aus den Erwägungen:

                         Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die staatsrechtliche Beschwerde der Firma H. Leuenberger & Söhne
richtet sich gegen einen Entscheid des Obergerichts des Kantons Solothurn,
das am 19. September 1978 eine Nichtigkeitsbeschwerde der Firma gegen das
Urteil des Arbeitsgerichts Olten-Gösgen vom 6. April 1978 abgewiesen
hat. Durch dieses Urteil wurde die Firma verpflichtet, dem Kläger
Ciulla Fr. 4'124.70 für ausstehende Überstundenzuschläge zu bezahlen.

    Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Kläger habe vom Juni 1975
bis Januar 1978 das Monatsgehalt entgegengenommen, ohne die nach seiner
Meinung geschuldeten Überzeitzuschläge zu fordern; dadurch habe er
entgegen der willkürlichen Annahme des Obergerichts einen Anspruch auf
Zuschläge verwirkt. Die Unverzichtbarkeit auf Forderungen im Sinne von
Art. 341 Abs. 1 OR stehe einer Verwirkung des Anspruches durch längeres
Zuwarten nicht im Wege.

    a) Diese Auffassung ist von beiden Vorinstanzen mit der
Begründung verworfen worden, Überstundenarbeit sei seit der Revision
des Arbeitsvertragsrechtes nach den neuen Bestimmungen des OR sowie
nach den Vorschriften des einschlägigen Gesamtarbeitsvertrages (GAV)
zu entschädigen. Art. 321c Abs. 3 OR sehe dafür nebst dem Normallohn
einen Zuschlag von mindestens einem Viertel vor. Art. 16.4 des hier
anwendbaren GAV der Schweiz. Metallunion stimme damit überein, sei eine
unabdingbare Bestimmung gemäss Art. 357 Abs. 2 OR, gelte für die ganze
Dauer des Arbeitsverhältnisses und begründe daher einen Anspruch im
Sinne von Art. 341 Abs. 1 OR, auf den der Arbeitnehmer nicht verzichten
könne. Ein Verstoss gegen Treu und Glauben liege nicht vor, da der Kläger
seit Beginn der Rezession mit ernsthaften Nachteilen rechnen musste, wenn
er die Lohnzahlungen beanstandet hätte. Vorher habe die Beschwerdeführerin
die Überzeitzuschläge pünktlich bezahlt; sie sei sich ihrer Pflicht aber
weiterhin bewusst gewesen, habe folglich mit der nachträglich erhobenen
Forderung rechnen müssen.

    Die Beschwerdeführerin hält dem BGE 101 II 289 E. 8b entgegen,
wo ausgeführt worden ist, dass Streitigkeiten über die wöchentliche
Arbeitszeit, die Ruhezeit, Ferientage, Reiseentschädigungen und
die Vergütung von Überstunden rasch zu erledigen sind. Allfällige
Beanstandungen seien daher bei der Lohnzahlung anzubringen; wenn der
Arbeitnehmer zusätzliche Forderungen geltend machen wolle, verlangten
Treu und Glauben, dass er dies nach einer kurzen Überlegungszeit tue,
da sonst die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gefährdet würde.

    In jenem Fall ging es nicht um Überstundenarbeit, sondern um Ersatz von
Ferien und wöchentlicher Ruhezeit durch Geldleistungen; die Entschädigung
für Überstunden wurde nur beiläufig erwähnt, obschon selbst dazu nach
der Streitfrage kein Anlass bestand. Der Sachverhalt war zudem nach dem
alten Recht zu beurteilen, das keine dem Art. 341 Abs. 1 OR entsprechende
Regel enthielt; deshalb stellte sich damals denn auch die Frage, ob die
Beklagten ihre Ersatzansprüche gemäss Art. 2 Abs. 2 ZGB dadurch verwirkten,
dass sie die Ansprüche erst bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses erhoben.

    Mit dem Inkrafttreten der in Art. 341 Abs. 1 OR enthaltenen Regel
ist die rechtliche Stellung des Arbeitnehmers deutlich verstärkt
worden. Nach dieser Bestimmung kann der Arbeitnehmer während der
Dauer des Arbeitsverhältnisses nicht auf Forderungen verzichten, die
sich aus unabdingbaren Vorschriften des Gesetzes oder aus unabdingbaren
Bestimmungen eines Gesamtarbeitsvertrages ergeben. Damit soll den Umständen
Rechnung getragen werden, dass der Arbeitnehmer sich in einem gesteigerten
Abhängigkeitsverhältnis befindet und häufig der wirtschaftlich schwächere
Teil ist, während des Arbeitsverhältnisses unter Druck gesetzt werden
oder aus Angst um seine Stelle Hemmungen haben kann, zusätzliche Ansprüche
unverzüglich zu erheben. Das leuchtet namentlich in Zeiten wirtschaftlicher
Rezession und dann ein, wenn ein Unternehmen, wie hier, mit finanziellen
Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Aus solchen Gründen schliesst Art. 341
Abs. 1 OR nicht nur einen ausdrücklichen, sondern auch einen Verzicht
durch konkludentes Verhalten des Arbeitnehmers aus.

    Der Ausschluss beschränkt sich zudem nicht auf eine blosse
Überlegungsfrist; er gilt für die ganze Dauer des Arbeitsverhältnisses
und einen Monat nach dessen Beendigung. Hätte der Gesetzgeber bloss an
Schlussabrechnungen oder Saldoquittungen gedacht, die der Arbeitnehmer etwa
unterzeichnen muss, wenn er den letzten Lohn ausbezahlt erhält, dann hätte
er sich in Art. 341 Abs. 1 OR mit dem zusätzlichen Monat begnügen können.

    b) Es kann deshalb auch nicht der Sinn des Gesetzes sein, dem
Arbeitnehmer den erhöhten Schutz, der ihm durch die neue Bestimmung
gewährt wird, auf dem Umweg über Art. 2 Abs. 2 ZGB wieder entziehen zu
wollen. Diese Norm setzt die Bestimmungen des Zivilrechts nicht allgemein
für bestimmte Arten von Fällen ausser Kraft, sondern weist den Richter
nur an, besondern Umständen des einzelnen Falles Rechnung zu tragen (BGE
91 II 9 E. 1e und dort angeführte Urteile). Solche Umstände, welche das
Zuwarten des Klägers als missbräuchlich erscheinen liessen, liegen hier
nicht vor (vgl. BGE 98 II 144 E. 3 mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerin
muss sich vielmehr entgegenhalten lassen, dass sie die Entschädigung
von Überstundenarbeit einstellte, obschon sie sich ihrer Zahlungspflicht
bewusst blieb. Es steht ihr daher nicht an, sich auf Treu und Glauben zu
berufen, um die Nachlassgläubiger auf Kosten des Klägers besser stellen zu
können. Von Willkür des Obergerichts kann schlechterdings nicht die Rede
sein. Durch die Umstände unterscheidet der vorliegende Fall sich denn auch
deutlich von dem in BGE 101 II 283 ff. veröffentlichten, wo es übrigens
um die Abgeltung von Ruhezeit und Ferien durch Geldleistungen ging. Dass
im Regest des Entscheides neben den damals noch anwendbaren Bestimmungen
in Klammern auch die neuen angeführt worden sind, besagt entgegen der
Annahme der Beschwerdeführerin nicht, das Bundesgericht habe an seiner
Auffassung über die Entschädigung von Überstundenarbeit unbekümmert
um das neue Recht festgehalten. Es kann daraus nur abgeleitet werden,
dass eine Verwirkung von Ferienansprüchen und insbesondere des Rechts
auf Übertragung solcher auf das nächste Jahr möglich ist, nicht aber,
dass auch Überstundenentschädigungen, die im Entscheid nur beiläufig
erwähnt worden sind, der Verwirkung unterliegen.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.