Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 II 329



105 II 329

54. Urteil der II. Zivilabteilung vom 6. Dezember 1979 i.S. Käser und
Käser gegen Locher (Berufung) Regeste

    Ausserordentliche Ersitzung einer Grunddienstbarkeit (Art.  731 Abs. 3
ZGB).

    Zu Lasten eines in einem kantonalen Publizitätsregister eingetragenen
Grundstücks kann eine Grunddienstbarkeit solange durch ausserordentliche
Ersitzung begründet werden, als nicht eine umfassende Bereinigung der
Dienstbarkeiten stattgefunden hat (Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Peter Locher, Pius Käser und Albert Käser sind Eigentümer
dreier aneinandergrenzender Grundstücke in der Gemeinde Bösingen (Kanton
Freiburg). Auf der Parzelle 916 des Albert Käser entspringt eine Quelle,
die in einer Brunnenstube gefasst und deren Wasser durch eine Leitung
in nordwestlicher Richtung über die Parzelle 907 des Pius Käser bis
unmittelbar vor die Grenze zur Parzelle 889 aaa des Peter Locher geführt
wird. Dort befindet sich ein Teilstock, von dem aus je eine Leitung zum
Hause des Pius Käser und zu jenem des Peter Locher führt.

    Im altrechtlichen kantonalen Publizitätsregister ist die Parzelle
907 des Pius Käser mit einer "Brunnenleitung" zugunsten der Parzelle 889
aaa des Peter Locher belastet. Andererseits besteht zu ihren Gunsten ein
Quellen- und Durchleitungsrecht zu Lasten der Parzelle 916 des Albert
Käser. Zugunsten der Parzelle 889 aaa des Peter Locher und zu Lasten
der Parzelle 16 des Paul Poffet, die in ansteigendem Gelände südöstlich
an die Parzelle 916 des Albert Käser grenzt, ist schliesslich ein
"Nachgrabungsrecht für die Brunnenleitung" eingetragen.

    B.- Mit Eingabe vom 28. Mai 1976 reichte Peter Locher beim
Bezirksgericht der Sense gegen Albert und Pius Käser Klage ein. Er
verlangte, dass zugunsten seiner Parzelle (889 aaa) das Bestehen eines
Quellen-, Brunnenstuben- und Wasserleitungsrechtes zu Lasten der Parzelle
916 des Albert Käser sowie eines Wasserleitungs- und Teilstockrechtes zu
Lasten der Parzelle 907 des Pius Käser festgestellt und dass die Eintragung
dieser Rechte im Grundbuch angeordnet werde.

    Der Beklagte Pius Käser anerkannte, dass seine Parzelle mit einer
"Brunnenleitung" zugunsten des klägerischen Grundstückes belastet sei. Im
übrigen wurde jedoch von beiden Beklagten Abweisung der Klage beantragt.

    C.- Mit Urteil vom 11. Juli 1978 stellte das Bezirksgericht der
Sense fest, dass der Beklagte Pius Käser anerkenne, dass seine Parzelle
mit einer "Brunnenleitung" zugunsten der Parzelle des Klägers belastet
sei. Im übrigen wies es die Klage ab mit der Begründung, der Kläger
habe eine Ersitzung der beanspruchten Grunddienstbarkeiten nach altem
kantonalem Recht, d.h. vor dem 1. Januar 1912 (dem Inkrafttreten des
Zivilgesetzbuches), nicht zu beweisen vermocht und gemäss den Art. 662
und 731 ZGB sei die ausserordentliche Ersitzung einer Grunddienstbarkeit
zu Lasten eines Grundstückes, das im Grundbuch eingetragen sei,
ausgeschlossen.

    D.- In Gutheissung einer gegen das bezirksgerichtliche Urteil erhobenen
Berufung des Klägers erliess das Kantonsgericht des Staates Freiburg
(Appellationshof) am 2. Mai 1979 folgendes Urteil:

    "...

    3. Es wird festgestellt, dass zu Gunsten von Art. 889 aaa der Gemeinde

    Bösingen und zu Lasten des Art. 916 ein Wasser-, Brunnstuben- und

    Leitungsrecht sowie zu Lasten des Art. 907 derselben Gemeinde ein

    Brunnenleitungs- und Teilstockrecht bestehen. Diese Rechte werden im
   bisherigen Rahmen und nach Massgabe der vorhandenen Einrichtungen
   ausgeübt.

    4. Das Grundbuchamt des Sensebezirks wird angewiesen, diese Rechte ins

    Grundbuch einzutragen."

    Auch das Kantonsgericht verneint eine Ersitzung für die Zeit
vor dem 1. Januar 1912. Hingegen hält es dafür, der Kläger habe
die Grunddienstbarkeiten nach diesem Zeitpunkt ersessen, weil der
altrechtlichen Publizitätseinrichtung des Kantons Freiburg nicht die
volle negative Rechtskraft zukomme.

    E.- Mit Berufung an das Bundesgericht beantragen die beiden Beklagten,
das kantonsgerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Klage abzuweisen;
allenfalls sei die Sache zur Ergänzung der Akten und zu neuer Entscheidung
an die kantonale Appellationsinstanz zurückzuweisen.

    Der Kläger schliesst auf Abweisung der Berufung.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

    Gemäss Art. 731 Abs. 3 ZGB ist die Ersitzung von Grunddienstbarkeiten
nur zu Lasten von Grundstücken möglich, an denen das Eigentum ersessen
werden kann. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung wäre die ordentliche
Ersitzung einer Grunddienstbarkeit nur ganz ausnahmsweise möglich. Damit
nämlich jemand zu Unrecht als Dienstbarkeitsberechtigter im Grundbuch
eingetragen sein kann (vgl. Art. 661 ZGB), muss zwangsläufig das
Grundstück als solches im Grundbuch aufgenommen sein, und in den meisten
Fällen wird sich aus diesem Eintrag auch der Eigentümer ergeben. Die
ordentliche Ersitzung einer Dienstbarkeit käme bei wörtlicher Auslegung
des Art. 731 ZGB nur in den seltenen Fällen in Frage, da letzteres nicht
zutrifft. Das kann indessen nicht der Sinn des Gesetzes sein (vgl. BGE
52 II 120 E. 2). Mit LIVER (N. 120 zu Art. 731 ZGB mit Hinweisen auf
Materialien) ist Art. 731 Abs. 3 ZGB vielmehr dahin auszulegen, dass auf
die Ersitzung von Dienstbarkeiten die Vorschriften über die Ersitzung
von Grundeigentum (Art. 661 ff. ZGB) sinngemäss anzuwenden sind.

    Für die im vorliegenden Fall - wo die beanspruchten Dienstbarkeiten
nirgends eingetragen sind - allein in Frage kommende ausserordentliche oder
Extratabularersitzung ergibt sich aus dem Gesagten, dass sie dann möglich
ist, wenn das Grundbuch keinen zuverlässigen Aufschluss über den Bestand
von Dienstbarkeiten vermittelt. Davon kann in der Regel dort nicht die
Rede sein, wo das eidgenössische Grundbuch eingeführt und das Grundstück,
dessen Belastung mit einer Dienstbarkeit in Frage steht, darin aufgenommen
ist. Indessen ist nach den Ausführungen der Vorinstanz für die Gemeinde
Bösingen das eidgenössische Grundbuch noch nicht eingeführt. Bezüglich
der kantonalen Publizitätseinrichtung bestimmt Art. 370 Abs. 1 des
freiburgischen Einführungsgesetzes zum schweizerischen Zivilgesetzbuch
(EG zum ZGB), dass das vor Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches unter dem
Namen "casier" geführte Buch fortan die Bezeichnung "Hauptbuch" tragen
soll und dass alle im Kataster und in den Hypothekenbüchern enthaltenen
Einträge darin aufgenommen werden sollen. Die erwähnte Bestimmung sieht
ferner vor, dass das Hauptbuch vervollständigt werde und vom 1. Januar
1912 an alle endgültigen und vorläufigen Einträge, die Vormerkungen
und die Anmerkungen bezüglich des Eigentums, der Dienstbarkeiten und
der Grundlasten aufzunehmen habe. Gemäss Art. 370 Abs. 2 EG zum ZGB
sollen diese Einträge dieselbe Rechtswirkung haben wie diejenigen im
eidgenössischen Grundbuch.

    Unter Hinweis auf BOSSY (Grundbucheinrichtungen und Einführung
des eidgenössischen Grundbuches im Kanton Freiburg, in: ZBGR 32/1951,
S. 1 ff., insbesondere S. 14 ff.) hält die Vorinstanz fest, der
freiburgischen Publizitätseinrichtung komme freilich insofern noch nicht
die volle Grundbuchwirkung im Sinne des Zivilgesetzbuches zu, als sie
keinen Aufschluss darüber gebe, ob und welche Dienstbarkeiten vor der
Einführung des Eintragungsprinzips errichtet worden seien, da noch kein
Bereinigungsverfahren habe durchgeführt werden können. Ob unter solchen
Umständen eine Dienstbarkeit nach Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches
ersessen werden könne, wird unterschiedlich beurteilt. Im Schrifttum
wurde die Frage früher eher verneint (so HUBER/MUTZNER, System und
Geschichte des schweizerischen Privatrechts, 2. A., S. 268; PFISTER,
Die Ersitzung nach schweizerischem Recht, Zürcher Diss. 1931, S. 56
Anm. 10), während in jüngeren Publikationen im allgemeinen der gegenteilige
Standpunkt eingenommen wird (LIVER, N. 162-165 zu Art. 731 ZGB; LIVER, Das
Eigentum, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/1, S. 155; LIVER, in ZBJV
109/1973, S. 84; LIVER, in: ZBGR 60/1979, S. 40; BROGGINI, Intertemporales
Privatrecht, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. I S. 506; TOBLER,
Die dinglichen Rechte des Zivilgesetzbuches dargestellt am Beispiel der
Leitungen, Berner Diss. 1953, S. 80). Auch die Rechtsprechung ist nicht
einheitlich. Gegen die Zulässigkeit der ausserordentlichen Ersitzung
haben sich namentlich das Obergericht des Kantons Zürich (vgl. ZBGR
42/1961, S. 206), das Obergericht des Kantons Luzern (vgl. SJZ 58/1962,
S. 232) und das Kantonsgericht St. Gallen (St. Gallische Gerichts- und
Verwaltungspraxis 1976, Nr. 22) ausgesprochen, während das Kantonsgericht
von Graubünden (vgl. PKG 1944 Nr. 28, 1951 Nr. 27 und 1967 Nr. 29)
und das Kantonsgericht Wallis (vgl. SJZ 71/1975, S. 12 Nr. 6) anderer
Auffassung sind.

    In einem den Kanton Thurgau betreffenden Fall hat das Bundesgericht
kürzlich entschieden, dass ein im dortigen provisorischen Grundbuch
eingetragenes Grundstück als im Sinne von Art. 662 ZGB in das Grundbuch
aufgenommen zu gelten habe, für eine ausserordentliche Ersitzung des
zu Lasten dieses Grundstückes beanspruchten Fuss- und Fahrwegrechts
seit dem 1. Januar 1912 deshalb kein Raum mehr sei. Es wurde darauf
hingewiesen, dass nach thurgauischem Recht jedes Grundstück von
Amtes wegen in das provisorische Grundbuch aufzunehmen sei, das unter
anderem ein Eigentümerverzeichnis sowie ein Manual und Protokoll über
die Dienstbarkeiten und Grundlasten umfasse. Ferner wurde ausgeführt,
dass gemäss der einschlägigen Bestimmung des kantonalen EG zum ZGB den
Eintragungen in das Manual bezüglich Entstehung, Übertragung, Umänderung
und Untergang der dinglichen Rechte Grundbuchwirkung zukomme, woraus
erhelle, dass im Kanton Thurgau seit dem 1. Januar 1912 Dienstbarkeiten,
für die das Bundeszivilrecht die Eintragung verlange, anders nicht
mehr begründet werden könnten und dass das provisorische Grundbuch somit
lückenlos über diese unter der Herrschaft des Zivilgesetzbuches errichteten
beschränkten dinglichen Rechte Aufschluss gebe (BGE 104 II 305 f.). Daran
kann nicht festgehalten werden. Zwar kommt sowohl nach dem thurgauischen
wie auch nach dem hier massgebenden freiburgischen Recht den jeweiligen
kantonalen Publizitätseinrichtungen insofern negative Rechtskraft zu,
als für die rechtsgeschäftliche Begründung neuer Dienstbarkeiten die
Eintragung Gültigkeitserfordernis ist. Die ausserordentliche Ersitzung
wird jedoch dadurch nicht ausgeschlossen. Bevor nicht eine umfassende
Bereinigung der Dienstbarkeiten stattgefunden hat, kann einer kantonalen
Grundbucheinrichtung insofern keine volle Grundbuchwirkung im Sinne des
Zivilgesetzbuches zukommen, als sich ein Dritter nicht darauf verlassen
kann, dass neben den eingetragenen nicht noch andere Dienstbarkeiten
bestehen. Solange dies nicht der Fall ist, können solche weiterhin gestützt
auf Art. 731 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 662 ZGB ersessen werden,
gleich wie das Eigentum ersessen werden kann, wenn aus dem Grundbuch nicht
abschliessend hervorgeht, wer Eigentümer eines bestimmten Grundstückes ist
(vgl. LIVER, in: ZBGR 60/1979, S. 40). Die Vorinstanz hat demzufolge mit
der Annahme, der Kläger habe die von ihm beanspruchten Dienstbarkeiten
unter der Herrschaft des Zivilgesetzbuches ersessen, kein Bundesrecht
verletzt.