Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 II 273



105 II 273

45. Urteil der I. Zivilabteilung vom 6. November 1979 i.S. CSS Computer
System Supplies AG gegen Feller AG, CCS Computer Consulting Services
GmbH, Zivilgerichtspräsidenten und Obergericht des Kantons Glarus
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 168 OR. Gerichtliche Hinterlegung einer streitigen Forderung.

    1. Schutzwürdiges Interesse als Voraussetzung zur staatsrechtlichen
Beschwerde. Verstösse gegen Art. 4 BV und andere Verfassungsbestimmungen
(E. 1).

    2. Der Schuldner hat die Identität der streitigen Ansprüche zumindest
glaubhaft zu machen, wenn die Voraussetzungen der Hinterlegung nach
kantonalem Recht vom Richter vorfrageweise zu prüfen sind (E. 2).

    3. Erwächst ein Prozessvergleich über gegenseitige Forderungen in
Rechtskraft, so kann der Schuldner die Vergleichssumme nicht mit der
Begründung hinterlegen, dass ein Dritter sie ebenfalls beansprucht (E. 3).

    4. Der Richter handelt willkürlich, wenn er die Hinterlegung gleichwohl
bewilligt (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Die CSS Computer System Supplies AG in Glarus (CSS Glarus)
klagte beim Handelsgericht des Kantons Zürich gegen die Feller AG auf
Schadenersatz wegen Verletzung eines Alleinvertretungsvertrages. Durch
gerichtlichen Vergleich vom 14. April 1978 einigten sich die Parteien
dahin, dass die Feller AG sich verpflichtete, der Klägerin Fr. 48'000.-
zu bezahlen. Die Forderung der CSS Glarus wurde später durch Zession
eines Teilbetrages auf Fr. 37'390.50 herabgesetzt. Das Handelsgericht
schrieb den Prozess am 29. Mai 1978 als erledigt ab.

    Bereits am 20. April 1978 teilte die Konkursverwaltung der CCS
Computer Consulting Services GmbH in Ascona (CCS Ascona) den Parteien
mit, dass ein allfälliges Guthaben der CSS Glarus von der Konkursmasse
beansprucht werde. Da die Beteiligten sich nicht verständigen konnten,
ersuchte die Feller AG am 16. August 1978 den Richter, den von ihr noch
geschuldeten Betrag im Sinne von Art. 168 Abs. 1 OR hinterlegen zu dürfen.

    B.- Mit Verfügung vom 25./28. August 1978 hiess der
Zivilgerichtspräsident von Glarus dieses Gesuch gut und stellte fest,
dass der streitige Betrag von Fr. 37'390.50 bereits bei der Glarner
Kantonalbank hinterlegt war. Er setzte der Konkursmasse der CCS Ascona
zehn Tage Frist ab zweiter Gläubigerversammlung, um ihren Anspruch im
Prätendentenprozess geltend zu machen, andernfalls die hinterlegte Summe
zugunsten der CSS Glarus freigegeben würde.

    Die CSS Glarus führte dagegen Nichtigkeitsbeschwerde, die vom
Obergericht des Kantons Glarus am 27. November 1978 abgewiesen wurde.

    C.- Die CSS Glarus hat gegen die Verfügung des Zivilgerichtspräsidenten
und den Entscheid des Obergerichts staatsrechtliche Beschwerde eingelegt
mit den Anträgen, sie wegen Verletzung von Art. 4, 22ter und 61 BV
aufzuheben und der Feller AG die Hinterlegung des Betrages zu verweigern.

    Die Feller AG und die kantonalen Instanzen beantragen, die Beschwerde
abzuweisen, während nach Auffassung der Konkursmasse der CCS Ascona darauf
nicht einzutreten ist.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Konkursmasse der CCS Ascona hat in dem von ihr
angestrengten Prätendentenprozess darauf beharrt, dass die streitige
Forderung von Fr. 37'390.50 während des Prozesses hinterlegt bleibe.
Der Zivilgerichtspräsident hat ihrem Begehren gestützt auf Art. 168
Abs. 3 OR entsprochen, doch ist dieser Entscheid bisher nicht in
Rechtskraft erwachsen. Da der Prätendentenprozess seinerseits auf
der ersten Hinterlegungsverfügung beruht, hat die Beschwerdeführerin
nach wie vor ein schutzwürdiges Interesse am Entscheid darüber, ob die
Hinterlegung vom Richter zu Recht bewilligt worden sei (vgl. BGE 99 Ia 85
E. 2b, 98 Ia 100 E. 1). Auf ihre Beschwerde ist daher einzutreten. Dass
sie den Sachverhalt angeblich unvollständig wiedergibt, steht dem nicht
entgegen, da die wesentlichen Tatsachen aus der beigelegten kantonalen
Beschwerdeschrift und aus der angefochtenen Verfügung ersichtlich sind.

    Das Obergericht durfte die Verfügung des Zivilgerichtspräsidenten
gemäss Art. 336 ZPO nur in beschränktem Masse überprüfen. In solchen
Fällen kann nach der Rechtsprechung neben dem Kassationsentscheid auch das
Sachurteil, das ihm vorangegangen ist, mit staatsrechtlicher Beschwerde
angefochten werden, und zwar auch mit Rügen, die im Kassationsverfahren
nicht erhoben werden konnten (BGE 100 Ia 123 und 267 mit Hinweisen).

    Die Beschwerdeführerin wirft den kantonalen Instanzen ausser
Willkür im Sinne von Art. 4 BV insbesondere vor, ihr für die Dauer der
Hinterlegung die freie Verfügung über ihren Anspruch entzogen zu haben,
was einem verkappten Arrest gleichkomme und mit der Eigentumsgarantie
gemäss Art. 22ter BV nicht zu vereinbaren sei. Durch die gerichtlich
bewilligte Hinterlegung werde zudem ihr Rechtsöffnungsanspruch
gefährdet und die Vollstreckung eines rechtskräftigen zürcherischen
Zivilurteils entgegen der Vorschrift des Art. 61 BV durch die Glarner
Gerichte verunmöglicht. Diese Vorwürfe haben indes keine selbständige
Bedeutung. Halten die angefochtenen Entscheide vor Art. 4 BV stand, so
können sie auch nicht gegen die Eigentumsgarantie oder gegen den Anspruch
auf interkantonale Vollstreckung eines Zivilurteiles verstossen.

Erwägung 2

    2.- Die angefochtenen Entscheide stützen sich auf Art. 168 OR,
der bestimmt, dass der Schuldner sich durch gerichtliche Hinterlegung
befreien kann, wenn streitig ist, wem die Forderung zusteht (Abs. 1);
zahlt er in Kenntnis des Streits, so tut er es auf seine Gefahr (Abs. 2).

    Die kantonalen Instanzen gehen zutreffend davon aus, dass die
Hinterlegung zum materiellen Recht gehört und der Schuldner sich dadurch
nur befreien kann, wenn ihre Voraussetzungen gemäss Bundesrecht erfüllt
sind. Dieses schreibt jedoch nicht schon dem Hinterlegungsrichter eine
entsprechende Prüfung vor, sondern trägt ihm nur die Bezeichnung der
Hinterlegungsstelle auf (Art. 92 Abs. 2 OR). Ob einer solchen Hinterlegung
befreiende Wirkung zukommt, entscheidet erst der ordentliche Richter,
falls der angebliche Gläubiger trotz der Hinterlegung den Schuldner auf
Erfüllung belangt (BGE 62 II 343/46, 59 II 231 E. 2, 32 II 60; STAEHELIN,
Die Hinterlegung zuhanden wes Rechtes und der Prätendentenstreit, in BJM
1972, S. 229 ff.; BIEDERMANN, Die Hinterlegung als Erfüllungssurrogat,
Diss. Zürich 1944, S. 215 f.).

    Die Kantone, die im übrigen das Verfahren bestimmen, können demnach
das Hinterlegungsverfahren auf die Bezeichnung der Hinterlegungsstelle
beschränken und die Prüfung der materiellrechtlichen Hinterlegungsgründe
gänzlich dem ordentlichen Richter überlassen (so Tessin in SJZ 59/1963,
S. 58 Nr. 19; Genf in Sem. jud. 70/1948, S. 174). Das kantonale Recht
kann den Hinterlegungsrichter statt dessen anweisen, vorfrageweise das
Bestehen von Hinterlegungsgründen zu prüfen (so schon OSTERTAG in SJZ
19/1923, S. 353; STAEHELIN, aaO, S. 229/30; BIEDERMANN, aaO, S. 120,
128, 147; als Beispiel § 220 zürch. ZPO). Dabei darf jedoch nicht mehr
als blosse Glaubhaftmachung verlangt und das Hinterlegungsgesuch nur
dann abgewiesen werden, wenn es offensichtlich unbegründet ist. Anders
würde der Schuldner ernstlich benachteiligt, weil die Verweigerung
der Hinterlegung ihn endgültig dieser Erfüllungsmöglichkeit beraubt,
während der Gläubiger sich wie dargelegt über eine zu Unrecht bewilligte
Hinterlegung hinwegsetzen kann.

    Das Glarner Prozessrecht enthält keine besonderen Bestimmungen über
das Hinterlegungsverfahren. Das Obergericht legt jedoch dar, dass bei einer
Hinterlegung auf Grund von Art. 168 OR Identität der streitigen Ansprüche
vorliegen und zumindest glaubhaft gemacht werden müsse. Es wird von keiner
Seite bestritten, dass demnach dem Glarner Hinterlegungsrichter eine
vorläufige Prüfung der materiellrechtlichen Hinterlegungsgründe obliegt. Zu
Recht besteht sodann Übereinstimmung darin, das Art. 168 OR unbekümmert
darum Anwendung findet, ob der Streit zwischen den beiden angeblichen
Gläubigern auf einer Abtretung beruht (BGE 38 I 207; STAEHELIN, aaO, S.
226). Als Sonderfall einer Ungewissheit über die Person des Gläubigers
(Art. 96 OR) setzt Art. 168 OR lediglich voraus, dass die Frage streitig
ist, wem eine Forderung zusteht (BGE 63 II 57, 32 II 60). Davon kann
jedoch nur die Rede sein, wenn zwei angebliche Gläubiger die nämliche
Forderung beanspruchen (BGE 62 II 346).

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin hält daran fest, dass der zu ihren Gunsten
geschlossene gerichtliche Vergleich die Wirkungen eines Zivilurteils habe,
die Parteien unbekümmert um seine Richtigkeit binde und eine Hinterlegung
der Vergleichssumme ausschliesse. Ihr Anspruch auf die Summe sei damit
von der Feller AG vorbehaltlos und selbst auf die Gefahr hin, einem
Dritten auch noch zahlen zu müssen, anerkannt worden. Es liege entgegen
der willkürlichen Annahme der Vorinstanzen gar kein Hinterlegungsgrund
gemäss Art. 168 OR vor. Mit dem Vergleich sei durch Novation ein neues
Schuldverhältnis begründet worden, an dem die Konkursmasse der CCS Ascona
nicht beteiligt sei.

    a) Der Vergleich, auch der gerichtliche, ist ein Vertrag, mit dem ein
Streit oder eine Ungewissheit über ein Rechtsverhältnis mit gegenseitigen
Zugeständnissen beigelegt wird (BGE 100 II 27 E. 1b und 144/5, 95
II 423/4 mit Hinweisen). Dabei ersetzen die Parteien ein bestehendes
Rechtsverhältnis häufig im Sinne von Art. 116 OR durch ein neues. Das gilt
namentlich dann, wenn sie sich bei einem komplexen Rechtsverhältnis,
wie hier, auf eine Saldozahlung einigen, beide Parteien also auf
weitere Ansprüche gegeneinander verzichten. Im Gegensatz zur blossen
Vertragsänderung wird durch die Novation die Identität der Forderung
aufgehoben (BGE 69 II 302, 60 II 333), und Einreden und Schwächen, die den
dadurch abgelösten Ansprüchen anhafteten, gehen in der Regel unter. Als
Vertrag kann der Vergleich jedoch wegen Willensmängeln aufgehoben werden,
wenn auch mit gewissen Einschränkungen, die sich aus seiner Natur ergeben.

    Für den Prozessvergleich bestehen Besonderheiten, wenn er zu einem
Erledigungsentscheid mit materieller Rechtskraft führt, was nach §
191 Abs. 2 zürch. ZPO zutrifft. Dazu gehört insbesondere, dass der
Willensmangel grundsätzlich im Rechtsmittelverfahren geltend zu machen
ist (BECKER, N. 38 zu Art. 24 OR; VON TUHR/PETER, OR S. 300 Anm. 11;
STRÄULI/MESSMER, N. 25 zu § 188 und N. 9 zu § 293 ZPO). Wenn ein
gerichtlicher Vergleich wie ein Urteil in Rechtskraft erwächst (vgl.
GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 398), liegt zudem die
Annahme einer Novation auf der Hand. Nach einem allgemeinen Grundsatz,
der in § 191 Abs. 1 zürch. ZPO ausdrücklich bestätigt wird, erstrecken sich
die Wirkungen der materiellen Rechtskraft aber nur auf die Prozessparteien
und ihre Rechtsnachfolger; Dritte werden davon selbst dann nicht berührt,
wenn sie am streitigen Rechtsverhältnis beteiligt sind (BGE 89 II 434 E. 4,
74 II 218 E. 3).

    b) Die Konkursmasse der CCS Ascona behauptet nicht, die Vergleichssumme
als Rechtsnachfolgerin der CSS Glarus von dieser erworben zu haben. Die
Beschwerdegegnerinnen sind vielmehr der Auffassung, dass ihnen der
Vergleich nicht entgegengehalten werden dürfe, weil sonst die Konkursmasse
als wahre Berechtigte um ihre Rechte geprellt würde. Das Obergericht sodann
hält es jedenfalls für vertretbar, dass aus einem Urteil oder Vergleich
auch unter dem Gesichtspunkt der Novation nichts gegen Dritte abgeleitet
werden dürfe. Wenn der gerichtliche Vergleich nur die Prozessparteien
bindet und deren Einigung wie hier die Bedeutung einer Novation hat, ist
diese Tatsache indes auch bei der Frage nach der Identität der Forderung
gemäss Art. 168 Abs. 1 OR zu beachten.

    Die Feller AG macht geltend, vor Handelsgericht sei die
Aktivlegitimation der CSS Glarus nicht behandelt und die Frage der
zweimaligen Zession der Vertriebsrechte nicht aufgeworfen worden; sie habe
erst nach der rechtskräftigen Erledigung erfahren, dass die Forderung
von zwei Gesellschaften beansprucht werde. Die Aktivlegitimation der
CSS Glarus war im Prozess indes so oder anders zu prüfen; sie wurde
zudem von der Feller AG mit dem Vergleich anerkannt, weshalb nichts
darauf ankommt, ob diese im Prozess eine entsprechende Einrede erhoben
habe (GULDENER, aaO, S. 379). Sollte die Feller AG sich geirrt haben,
so konnte sie den Vergleich im Rechtsmittelverfahren anfechten, was von
ihr allerdings als nicht opportun bezeichnet wird. Sie hätte allenfalls
schon den Abschreibungsbeschluss des Handelsgerichts vom 29. Mai 1978
verhindern können, zumal die Konkursmasse der CCS Ascona ihren Anspruch
bereits mit Schreiben vom 20. April 1978 geltend machte. Wieso es sich
bei diesem Schreiben um eine Streitverkündung gehandelt haben soll, ist
unerfindlich, da eine solche nur von einer Prozesspartei, insbesondere von
der daran interessierten Feller AG hätte ausgehen können (§ 46 zürch. ZPO;
VON TUHR/ESCHER, OR S. 363). Seitens der Konkursmasse liegt auch keine
Hauptintervention vor, die ebenfalls möglich gewesen wäre (§ 43 ZPO).

Erwägung 4

    4.- Das Obergericht setzt sich völlig darüber hinweg, dass der
Anspruch der Beschwerdeführerin ausschliesslich auf dem Prozessvergleich
beruht und dass die Konkursmasse daraus keinerlei Rechte ableiten kann,
dies übrigens auch gar nicht versucht; sie hält vielmehr an dem schon im
kantonalen Verfahren erhobenen, jedoch unerheblichen Einwand fest, nicht
die CSS Glarus, sondern sie selbst sei Inhaberin der durch die Feller AG
genutzten Alleinvertriebsrechte gewesen. Indem das Obergericht gleichwohl
Identität zwischen dem angeblichen Anspruch der Konkursmasse und dem
Vergleichsanspruch der Beschwerdeführerin angenommen oder zumindest als
glaubhaft bezeichnet hat, ist es der Willkür verfallen. Sein Entscheid
ist daher samt dem Sachurteil des Einzelrichters aufzuheben.

    Bei diesem Ergebnis braucht nicht geprüft zu werden, ob das Obergericht
zutreffend den Anspruch der Konkursmasse der CCS Ascona unter Art. 423
OR subsumiert und ob es der Beschwerdeführerin in diesem Zusammenhang
das rechtliche Gehör verweigert habe.

    Im Hinblick auf die bezüglich der Rückzahlung erforderlichen konkreten
Anordnungen ist davon abzusehen, zugleich die Verweigerung der Hinterlegung
anzuordnen, wie das mit der Beschwerde beantragt wird. Es kann deshalb
offen bleiben, ob einer solchen Anordnung nicht schon die kassatorische
Funktion der staatsrechtlichen Beschwerde entgegenstünde (BGE 101 Ia 113,
439 mit Hinweisen).

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf
einzutreten ist, und die Entscheide des Zivilgerichtspräsidenten
vom 25./28. August 1978 und des Obergerichts des Kantons Glarus vom
27. November 1978 werden aufgehoben.