Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IB 282



105 Ib 282

44. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 8. August 1979 i.S. Kröcher-Tiedemann gegen Bundesanwaltschaft
und Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (Einsprache gemäss
Auslieferungsgesetz) Regeste

    Auslieferung.

    Voraussetzungen für die prinzipale und akzessorische Auslieferung
aufgrund des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und des BB vom
27. September 1966 über die Genehmigung von sechs Übereinkommen des
Europarates.

    Die akzessorische Auslieferung kann für jede Handlung bewilligt werden,
die nach einer gemeinrechtlichen Bestimmung des schweizerischen Rechts
strafbar ist (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Durch Urteil des Schwurgerichts beim Landgericht Bochum
vom 17. Dezember 1973 wurde Gabriele Kröcher-Tiedemann wegen
fortgesetzten Diebstahls mit Waffen, versuchten Mordes, Widerstands
gegen Vollstreckungsbeamte, unbefugter Waffenführung und schwerer
räuberischer Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Jahren
Zuchthaus verurteilt. Die Verurteilung wegen schwerer räuberischer
Erpressung entfiel durch Beschluss des Bundesgerichtshofes in Strafsachen
vom 3. Oktober 1974. Das Strafmass erfuhr dadurch keine Änderung.

    Anlässlich eines illegalen Grenzübertritts wurde Frau Kröcher zusammen
mit Christian Möller am 20. Dezember 1977 in Delsberg verhaftet, nachdem
zwei Grenzwächter angeschossen worden waren. Mit Schreiben vom 21. April
1978 ersuchte der deutsche Bundesminister der Justiz um Auslieferung von
Frau Kröcher zur Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe von 6 Jahren und 4
Monaten aus dem Urteil des Schwurgerichts beim Landgericht Bochum. Frau
Kröcher erhob gegen die Auslieferung Einwendungen, die sich auf das
Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAÜ)
beziehen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 2 Ziff. 1 EAÜ wird wegen Handlungen ausgeliefert,
die sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch nach dem des ersuchten
Staates mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmass von mindestens einem
Jahr oder mit einer schwereren Strafe bedroht sind. Ist im Hoheitsgebiet
des ersuchenden Staates eine Verurteilung zu einer Strafe erfolgt, so
muss deren Mass mindestens vier Monate betragen. Für den Fall, dass
das Auslieferungsersuchen mehrere verschiedene Handlungen betrifft,
von denen jede mit einer Freiheitsstrafe bedroht ist, einige aber die
Bedingung hinsichtlich des Strafmasses nicht erfüllen, so ist der ersuchte
Staat gemäss Art. 2 Ziff. 2 EAÜ berechtigt, die Auslieferung auch wegen
dieser Handlungen zu bewilligen. Art. 2 Ziff. 3 EAÜ ermächtigt jede
Vertragspartei, deren Rechtsvorschriften die Auslieferung wegen bestimmter,
unter Ziff. 1 fallender Handlungen nicht zulassen, die Anwendung des
Übereinkommens auf diese strafbaren Handlungen auszuschliessen. Gemäss
Art. 2 Ziff. 4 EAÜ notifizieren sie in diesem Falle entweder eine Liste
der strafbaren Handlungen, derentwegen die Auslieferung zulässig ist,
oder eine Liste der strafbaren Handlungen, derentwegen die Auslieferung
ausgeschlossen ist. Die Schweiz, die im Auslieferungsgesetz vom 22. Januar
1892 vom Enumerationsprinzip ausgeht, hat von dieser Ermächtigung Gebrauch
gemacht und beim Generalsekretär des Europarates zum Zweck der Bezeichnung
der strafbaren Handlungen, derentwegen die Auslieferung zulässig
ist, die Liste der in Art. 3 AuslG aufgezählten Auslieferungsdelikte
hinterlegt. Die Auslieferung wird von der Schweiz demnach verweigert, wenn
die dem Verfolgten zur Last gelegte Handlung nicht die Merkmale einer der
strafbaren Handlungen umfasst, die in der erwähnten Liste umschrieben sind
(Art. 2 des BB vom 27. September 1966, zu Art. 2 Ziff. 2 EAÜ). Die Schweiz
hat aber gleichzeitig zu Art. 2 Ziff. 2 EAÜ die Erklärung abgegeben,
dass sie ungeachtet der Beschränkung der Auslieferung auf die in der Liste
genannten Delikte die akzessorische Auslieferung für jede andere Handlung
zulasse, die nach einer gemeinrechtlichen Bestimmung des schweizerischen
Rechts strafbar ist (Art. 2 des BB vom 27. September 1966, zu Art. 2
Ziff. 2 EAÜ). Sofern hinsichtlich einer strafbaren Handlung sämtliche
Voraussetzungen für die Auslieferung erfüllt sind, so kann demnach die
Auslieferung auf weitere strafbare Handlungen ausgedehnt werden, selbst
wenn diese nicht sämtliche ordentlichen Voraussetzungen erfüllen. Für die
akzessorische Auslieferung genügt, dass die Handlung sowohl nach dem Recht
des ersuchenden Staates als auch nach schweizerischem Recht strafbar
ist und dass sie kein politisches, fiskalisches oder militärisches
Delikt darstellt. Dass sie ein Auslieferungsdelikt sei, ist nicht
erforderlich. Unerheblich ist ferner, ob sie mit einer Freiheitsstrafe
oder lediglich mit Geldstrafe bedroht wird (BGE 101 Ia 423 E. 1b, 3d).

    b) Die Auszuliefernde wurde durch das Urteil des Schwurgerichts beim
Landgericht Bochum vom 17. Dezember 1973 unter anderem wegen versuchten
Mords verurteilt. Das Schwurgericht setzte für diese Tat eine Strafe
von 7 Jahren und 6 Monaten Freiheitsstrafe fest. Der Auszuliefernden
wird vorgeworfen, zusammen mit einem Komplizen auf drei Polizeibeamte
geschossen und deren Tötung in Kauf genommen zu haben. Diese Handlung ist
sowohl nach deutschem als auch nach schweizerischem Recht strafbar. Sie
fällt zugleich unter die strafbaren Handlungen, für welche die Auslieferung
zulässig ist, und zwar unabhängig davon, ob sie nach schweizerischem Recht
als versuchter Mord oder als versuchte vorsätzliche Tötung zu erachten
ist. In bezug auf diesen Sachverhalt ist daher die Voraussetzung der
beidseitigen Strafbarkeit und des Auslieferungsdelikts offensichtlich
erfüllt. Auch übersteigt die ausgesprochene Strafe das in Art. 2 Ziff. 1
EAÜ verlangte Mass.

    c) Die Auszuliefernde wurde ferner wegen Diebstahls mit Waffen
und wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt. Sie
hatte sich zusammen mit ihrem Komplizen, der wie sie bewaffnet war,
Motorfahrzeug-Kontrollschilder widerrechtlich angeeignet und sich der
Festnahme durch Polizeibeamte mit Gewalt widersetzt. Diese Handlungen sind
auch nach schweizerischem Recht strafbar, und zwar die erste aufgrund von
Art. 97 Ziff. 1 Abs. 7 des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr vom
19. November 1958 (SVG) sowie die zweite aufgrund von Art. 285 StGB. Unter
den Tatbestand des Diebstahls (Art. 137 StGB) lässt sich die Aneignung
von Kontrollschildern mangels Bereicherungsabsicht nicht subsumieren;
zwischen Sachentziehung (Art. 143 StGB) und dem Tatbestand von Art. 99
Ziff. 1 Abs. 7 SVG besteht unechte Gesetzeskonkurrenz. Die in Frage
kommenden Straftatbestände stellen keine Auslieferungsdelikte dar. Eine
prinzipale Auslieferung wäre daher nicht zulässig. Da die Auslieferung der
Einsprecherin aber schon aufgrund des unter lit. b behandelten Sachverhalts
zu bewilligen ist, steht einer akzessorischen Auslieferung für die hier
in Frage stehenden strafbaren Handlungen nichts entgegen.

    d) Die Auszuliefernde wurde sodann wegen unbefugter Waffenführung
gemäss § 53 Abs. 3 des deutschen Waffengesetzes vom 19. September 1972
verurteilt. Für diesen Sachverhalt ist in der Schweiz keine Strafbestimmung
des Bundesrechts gegeben. Unerlaubtes Waffentragen wird nur vom kantonalen
Recht mit Strafe bedroht. Entsprechende Strafbestimmungen finden sich
überdies nicht in allen Kantonen. Da unter "schweizerischem Recht", welches
beim Entscheid über die beidseitige Strafbarkeit zu berücksichtigen ist,
in der Regel nur das Bundesrecht zu verstehen ist, hat die Auslieferung
hinsichtlich des Sachverhalts der unbefugten Waffenführung zu unterbleiben
(BGE 101 Ia 423 E. 3d). Da insoweit das Erfordernis der beidseitigen
Strafbarkeit nicht erfüllt ist, kommt auch eine akzessorische Auslieferung
nicht in Frage. Die Auslieferung der Verfolgten kann deshalb nur unter
Vorbehalt des Delikts der unerlaubten Waffenführung erfolgen.

    Aus dem Urteil des Schwurgerichts beim Landgericht Bochum, zu
dessen Vollzug die Auslieferung verlangt wird, geht nicht hervor, wie
sich die Verurteilung wegen unbefugter Waffenführung auf das Strafmass
auswirkte. Ob sich ohne diese Verurteilung eine geringere Gesamtstrafe
ergeben hätte, kann bei dieser Sachlage nicht vom Auslieferungsrichter
beurteilt werden. Es obliegt dem deutschen Richter, diese Frage vor
oder nach der Auslieferung zu prüfen und die Strafe gegebenenfalls neu
festzusetzen. In diesem Sinne ist die Auslieferung zum Vollzug der
Reststrafe aus dem erwähnten Urteil unter Vorbehalt des Delikts der
unerlaubten Waffenführung zu bewilligen. - Die Anbringung eines weiteren
Vorbehalts in bezug auf die Tatbestände der Bildung krimineller bzw.
terroristischer Vereinigungen (§§ 129 und 129a d-StGB) ist nicht
erforderlich. Das Urteil des Schwurgerichts beim Landgericht Bochum
stützt sich auf keinen solchen Tatbestand. Im übrigen steht der Grundsatz
der Spezialität der Auslieferung einer Verfolgung der Einsprecherin wegen
einer solchen, vor der Übergabe begangenen Tat entgegen (Art. 14 EAÜ).