Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IB 255



105 Ib 255

40. Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 30. November
1979 i.S. Picenoni gegen Regierung des Kantons Graubünden
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Entzug des Führerausweises.

    1. Verhältnis zwischen dem "mittelschweren Fall" gemäss Art. 16
Abs. 2, 1. Satz SVG und dem "leichten Fall" gemäss Art. 16 Abs. 2,
2. Satz SVG. Gesichtspunkte, nach denen die Frage des "leichten Falles"
zu beurteilen ist (E. 2).

    2. Die Frage, ob eine Verkehrsgefährdung "mittelschwer" im Sinne von
Art. 16 Abs. 2, 1. Satz SVG oder "schwer" im Sinne von Art. 16 Abs. 3
lit. a SVG ist, darf in Grenzfällen und bei kurzer Entzugsdauer offen
bleiben (E. 3); Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG bleibt vorbehalten.

Sachverhalt

    A.- Am 31. August 1978 lenkte Verena Picenoni ihren Personenwagen
hinter zwei Fahrzeugen von Silvaplana kommend über den Julierpass in
Richtung Julierhospiz. Auf der Geraden bei der Villa Stähli überholte
sie zwei in Richtung Hospiz fahrende Wagen. Sie begann das Manöver
ungefähr 200 Meter vor der unübersichtlichen Rechtskurve mit Kuppe und
beendete es kurz vor der Kuppe, aus welcher ihr Gegenverkehr nahte. Die
Beschwerdeführerin räumte im kantonalen Verfahren ein, das Überholmanöver
sei "etwas spitz" gewesen. Die beiden Polizeibeamten, die sich im hinteren
der zwei überholten Fahrzeuge befanden, sagten als Zeugen aus, der
entgegenkommende Lenker habe abbremsen, jedoch nicht eine Vollbremsung
einleiten müssen. Auch die beiden überholten Fahrzeuge hätten ihre
Geschwindigkeit reduzieren müssen, um der Überholenden das rechtzeitige
Wiedereinbiegen zu ermöglichen. Mit Verfügung vom 13. November 1978 entzog
das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Graubünden Verena Picenoni
wegen schwerer Verkehrsgefährdung den Führerausweis in Anwendung von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG auf die Dauer eines Monats. Der Regierungsrat
des Kantons Graubünden bestätigte den Entscheid, liess aber offen,
ob eine schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16 Abs. 3 lit. a
SVG oder eine einfache Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16 Abs. 2,
1. Satz SVG vorliege, da jedenfalls nicht ein leichter Fall angenommen
werden könne, so dass der Ausweis ohnehin mindestens auf die Dauer eines
Monats entzogen werden müsse.

    Gegen diesen Entscheid führt Verena Picenoni mit Eingabe
vom 30. Mai 1979 Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Ausweisentzug zu
widerrufen. Sie bestreitet nicht, eine Verkehrsregelverletzung begangen
zu haben, macht aber geltend, sie habe den Verkehr nicht gefährdet. Ein
Führerausweisentzug sei unangemessen, eine Verwarnung entspreche besser
den gesamten Umständen. Das Bundesamt für Polizeiwesen beantragt, die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei teilweise gutzuheissen, der angefochtene
Entscheid aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

    Verena Picenoni wurde am 8. März 1979 vom Kreisamt Oberengadin aufgrund
des nämlichen Vorfalles zu einer Busse von Fr. 90.- verurteilt. Dieses
Urteil ist rechtskräftig.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Art. 16 Abs. 2 und 3 lit. a SVG lauten:

    "2 Der Führer- oder Lernfahrausweis kann entzogen werden, wenn
der Führer

    Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder andere
   belästigt hat. In leichten Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen
   werden.

    3 Der Führer- oder Lernfahrausweis muss entzogen werden, wenn der
Führer

    a) den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat."

    a) Der Führerausweisentzug gemäss Art. 16 Abs. 2 und 3 lit. a SVG
setzt demnach zunächst voraus, dass der Führer Verkehrsregeln verletzt
hat. Sowohl die Administrativbehörden als auch der Strafrichter werfen
der Beschwerdeführerin vor, sie habe Art. 35 Abs. 2 SVG verletzt, weil der
nötige Raum bei ihrem Überholmanöver nicht übersichtlich und frei gewesen
sei und sie den Gegenverkehr behindert habe. Die Beschwerdeführerin räumt
in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde selber ein, diese Verkehrsregel
verletzt zu haben, und sie bestreitet den Sachverhalt, wie er vom
Strafrichter festgestellt wurde, nicht, sondern verweist ausdrücklich
auf dessen tatsächliche Feststellungen. Das Strafurteil blieb zudem
unangefochten.

    b) Eine Verkehrsregelverletzung kann nur dann zu einer
Administrativmassnahme gemäss Art. 16 Abs. 2 oder 3 lit. a SVG führen,
wenn die Beschwerdeführerin den Verkehr gefährdet oder - was vorliegend
nicht in Betracht fällt - andere belästigt hat. Die bundesgerichtliche
Rechtsprechung verlangt nicht eine konkrete Verkehrsgefährdung; es genügt,
dass das Verhalten der Beschwerdeführerin nach den Umständen geeignet
war, den Verkehr zu gefährden (sogenannte erhöht-abstrakte Gefährdung;
BGE 104 Ib 100; 103 Ib 39 E. 3). Benutzt ein Motorfahrzeugführer für sein
Überholmanöver die Gegenfahrbahn und verletzt er dabei Art. 35 Abs. 2 SVG,
indem entweder der nötige Raum nicht übersichtlich und frei ist oder der
Gegenverkehr behindert wird, dann liegt in dieser Verkehrsregelverletzung
gleichzeitig eine erhöht-abstrakte Verkehrsgefährdung, denn die Verletzung
dieser Regel ist dort, wo mit Gegenverkehr gerechnet werden muss, nach
den Umständen stets geeignet, den Verkehr zu gefährden. Im vorliegenden
Verfahren räumte die Beschwerdeführerin zudem ein, das Manöver sei "etwas
spitz" gewesen. Die Voraussetzungen für eine Administrativmassnahme sind
somit gegeben.

Erwägung 2

    2.- Es stellt sich die Frage, welche Administrativmassnahme angemessen
sei. Die Beschwerdeführerin vertritt die Ansicht, eine Verwarnung sei
im vorliegenden Fall den Umständen angemessen. Die Vorinstanz verfügte
oberinstanzlich einen einmonatigen Führerausweisentzug. Sie liess die
Frage offen, ob eine schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16
Abs. 3 lit. a SVG oder eine einfache Verkehrsgefährdung im Sinne von
Art. 16 Abs. 2 vorliege, da keinesfalls ein leichter Fall angenommen
werden könne, so dass der Ausweis jedenfalls mindestens auf die Dauer
eines Monats entzogen werden müsse.

    Das Bundesamt für Polizeiwesen vertritt die Auffassung, es gehe
nicht an, dass der Regierungsrat die Frage offen lasse, ob eine
schwere oder eine einfache Verkehrsgefährdung vorliege. Denn bei der
einfachen Verkehrsgefährdung sei der Ausweisentzug fakultativ, so dass
die Frage, ob im Einzelfall ein Entzug verfügt werden müsse, in das
pflichtgemässe Ermessen der Entzugsbehörde gestellt werde; diese könne
zur Auffassung gelangen, die Gesamtheit der Umstände rechtfertige keinen
Ausweisentzug. Von einem Entzug könne nicht nur abgesehen werden, wenn ein
leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2, 2. Satz, vorliege, sondern auch,
wenn die Voraussetzungen für einen Entzug gemäss Art. 16 Abs. 2, 1. Satz,
erfüllt seien, sich aber aufgrund der gesamten Verhältnisse kein Entzug
rechtfertige. Letzteres habe der Regierungsrat indessen nicht geprüft,
sondern lediglich festgestellt, dass kein leichter Fall vorliege.

    a) Das Bundesgericht hat Art. 16 Abs. 2 SVG stets in der Weise
ausgelegt, dass auf den Ausweisentzug nur verzichtet werden kann,
wenn der Fall leicht im Sinne von Satz 2 dieser Bestimmung ist (BGE
104 Ib 103 E. 1e; 103 Ib 41 E. 5; vgl. auch 104 Ib 52; Urteile vom
22. Dezember 1978 i.S. Niklaus, vom 27. Januar 1978 i.S. Roth, vom
20. Juni 1977 i.S. Schluroff, vom 12. Oktober 1976 i.S. Vendel). An
dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Der bundesrätliche Entwurf
vom 24. Juni 1955 sah in Art. 16 Abs. 2 ausschliesslich Satz 1 vor
(BBl 1955 II S. 74). Diese Bestimmung enthält eine Kann-Vorschrift,
welche den Entscheid, ob im Einzelfall ein Ausweisentzug zu verfügen
sei oder nicht, in das pflichtgemässe Ermessen der Behörden stellt. Die
nationalrätliche Kommission fügte indessen Satz 2 ein und konkretisierte
damit Satz 1, indem die Richtlinie für die Handhabung des Ermessens in
das Gesetz aufgenommen wurde (vgl. Sten. Bull. 1956, NR S. 597-599).
Gemäss Satz 2 kann in leichten Fällen an die Stelle des Entzuges eine
Verwarnung treten. Diese Bestimmung verlöre ihren Sinn, wenn sich die
Behörden auch in nicht leichten Fällen mit einer Verwarnung begnügen oder
sogar auf jede Massnahme verzichten könnten. Daher kann in nicht leichten
Fällen von einem Ausweisentzug nicht abgesehen werden. Der Umstand, dass
auch Satz 2 eine Kann-Vorschrift enthält, schliesst die Möglichkeit in
sich ein, in besonders leichten Fällen auf jede Massnahme zu verzichten.

    b) Diese Ordnung ist insbesondere von Bedeutung, wenn eine berufliche
Notwendigkeit besteht, ein Motorfahrzeug zu führen. Während diese
Notwendigkeit nach Art. 33 Abs. 2 VZV für die Zumessung der Entzugsdauer
massgebend mit ins Gewicht fällt, entfällt dieser Gesichtspunkt bei der
Umschreibung des leichten Falles in Art. 31 Abs. 2 VZV. Der Unterschied
besteht mit Grund. Berufsmässig auf ein Motorfahrzeug angewiesene
Fahrzeugführer werden wegen der grösseren Massnahmenempfindlichkeit
in der Regel schon durch eine kürzere Entzugsdauer wirksam gewarnt und
von weiteren Widerhandlungen abgehalten. Aus Rechtsgleichheitsgründen
rechtfertigt es sich deshalb, dieses Kriterium bei der Zumessung
der Entzugsdauer zu berücksichtigen. Anders verhält es sich
beim Grundsatzentscheid, ob der Ausweis entzogen werden soll oder
nicht. Personen, die beruflich auf ihr Motorfahrzeug angewiesen sind,
sollen nicht in dem Sinne vor anderen Motorfahrzeugführern bevorzugt
werden, dass sie sich schwerwiegendere Verfehlungen zuschulden kommen
lassen können, bis ein Ausweisentzug verfügt wird. Eine verkehrsgefährdende
Verkehrsregelverletzung erscheint weder objektiv noch subjektiv als
leichter, wenn sie von einem Führer begangen wird, der beruflich auf
das Fahrzeug angewiesen ist. Doch können bei einem leichten Fall alle
übrigen wesentlichen Umstände berücksichtigt werden, welche anstelle des
Ausweisentzuges eine Verwarnung rechtfertigen.

    c) Nach der neueren Rechtsprechung hat der Richter bei der Beurteilung,
ob ein leichter Fall im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 SVG vorliegt,
in erster Linie die Schwere der Verkehrsgefährdung und die Schwere
des Verschuldens, daneben aber auch den automobilistischen Leumund
zu würdigen (Art. 31 Abs. 2 VZV; BGE 104 Ib 101 E. 2c). Vorliegend
ist der automobilistische Leumund der Beschwerdeführerin in keiner
Weise getrübt. Da jedoch das Überholen an unübersichtlichen Stellen
in der Regel sogar als schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16
Abs. 3 lit. a SVG angesehen werden muss (Ziff. 3.2.1 der Richtlinien der
kantonalen Polizeidirektorenkonferenz über die Administrativmassnahmen
im Strassenverkehr), genügt der gute Leumund nicht, um von einem
Führerausweisentzug absehen zu können. Der Entzug musste deshalb gegenüber
der Beschwerdeführerin für die Mindestdauer von einem Monat ausgesprochen
werden.

Erwägung 3

    3.- Das Bundesamt für Polizeiwesen glaubt, der Entscheid der Vorinstanz
sei von Amtes wegen aufzuheben, weil die Vorinstanz offen gelassen habe,
ob ein nicht leichter, d.h. "mittelschwerer Fall", im Sinne von Art. 16
Abs. 2, 1. Satz SVG oder ein "schwerer Fall" im Sinne von Art. 16 Abs. 3
lit. a SVG vorliege. Dieses Offenlassen der Subsumtion unter Art. 16
Abs. 2 oder Art. 16 Abs. 3 SVG verletzt nach Ansicht des Bundesamtes
Bundesrecht. Das Bundesamt weist darauf hin, dass die Unterscheidung
zwischen dem fakultativen und dem obligatorischen Führerausweisentzug
unter dem Gesichtspunkt des Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG von entscheidender
Bedeutung sein kann. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Dauer des
Führerausweisentzuges mindestens sechs Monate beträgt, wenn dem Führer
der Ausweis wegen einer Widerhandlung entzogen werden muss, die er
innert zwei Jahren seit Ablauf des letzten Entzuges begangen hat. Wie
das Bundesgericht in BGE 102 Ib 282 zu dieser Bestimmung ausgeführt
hat, ist sie anwendbar, wenn der zweite Entzug wegen der Schwere der
Verkehrsgefährdung obligatorisch ist, gleichgültig, ob der frühere
Ausweisentzug obligatorisch oder fakultativ war. Daraus ergibt sich,
dass unter dem Gesichtspunkt von Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG zur Frage, ob
ein obligatorischer oder fakultativer Entzugsgrund vorliegt, nur Stellung
bezogen werden muss, wenn der letzte Ausweisentzug vor weniger als zwei
Jahren abgelaufen war. Im Falle der Beschwerdeführerin liegt kein solcher
Fall vor, da ihr automobilistischer Leumund unbelastet ist.

    Das Bundesamt für Polizeiwesen glaubt jedoch, die Klärung,
ob ein "schwerer" oder nur ein nicht leichter "mittelschwerer Fall"
vorliegt, müsse gleichwohl entschieden werden, weil der automobilistische
Leumund des Betroffenen im Hinblick auf allfällige künftige Verfehlungen
unterschiedlich belastet werde, je nachdem man ihm vorwerfe, den Verkehr
in schwerer oder lediglich in nicht leichter, mittelschwerer Weise
gefährdet zu haben. Das Bundesgericht hat jedoch selbst in zahlreichen
Grenzfällen, welche eine kurze Entzugsdauer zum Gegenstand hatten, die
Frage offen gelassen, ob dem Beschwerdeführer eine schwere oder nur eine
mittelschwere Verkehrsgefährdung zur Last zu legen sei, und es hat sich
mit der Feststellung begnügt, dass jedenfalls kein leichter Fall im Sinne
von Art. 16 Abs. 2, 2. Satz vorliege (vgl. z.B. Urteile vom 22. Dezember
1978 i.S. Niklaus, vom 30. Juni 1978 i.S. Roth; vgl. auch BGE 104
Ib 52 E. 2b). Für diese Praxis lässt sich neben verfahrensökonomischen
Gesichtspunkten anführen, dass für die Beurteilung des automobilistischen
Leumundes mehr die Dauer früherer Ausweisentzüge ins Gewicht fällt als
deren rechtliche Qualifikation. Die Unterscheidung spielt deshalb bei
späterer neuer Beurteilung des Leumunds nur eine untergeordnete Rolle.

    Immerhin muss festgehalten werden, dass dem Betroffenen in
einem späteren Verfahren die frühere Verfehlung nicht als schwere
Verkehrsgefährdung angerechnet werden darf, wenn die rechtliche
Qualifikation seinerzeit offen gelassen wurde; denn die entscheidende
Instanz bringt mit dem Offenlassen zum Ausdruck, dass ihres Erachtens
ein schwerer Fall nicht eindeutig erwiesen ist.

    Da der vorliegende Fall einerseits nicht leicht ist, sondern
an der Grenze zwischen den mittelschweren Fällen und der schweren
Verkehrsgefährdung liegt und die kantonalen Behörden anderseits den
Ausweis auf die Minimaldauer eines Monates entzogen haben, kann ihnen
keine Bundesrechtsverletzung vorgeworfen werden, wenn sie die Frage nach
der Anwendung von Art. 16 Abs. 2 oder Abs. 3 lit. a SVG im vorliegenden
Falle offen gelassen haben.