Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IA 396



105 Ia 396

70. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 12.
Dezember 1979 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons
Basel-Landschaft (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK.

    Aufgrund dieser Vorschrift ist dem Angeklagten - von gewissen
Ausnahmefällen abgesehen - wenigstens einmal während des Strafverfahrens
Gelegenheit zu geben, der Einvernahme von Belastungszeugen beizuwohnen
und Ergänzungsfragen zu stellen oder aber nach Einsicht in das
Einvernahmeprotokoll schriftlich Ergänzungsfragen an diese Zeugen zu
stellen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- b) Gemäss Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Angeklagte das Recht,
Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die
Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen
wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Diese Bestimmung geht, wie
in BGE 104 Ia 319 festgestellt wurde, zum Teil über die dem Angeklagten
aufgrund von Art. 4 BV in der Praxis gewährleisteten Rechte hinaus. Es
ist dem Angeklagten unabhängig von der Ausgestaltung des kantonalen
Prozessrechts mindestens einmal während des Verfahrens Gelegenheit
zu geben, der Einvernahme von Zeugen, die ihn belasten, beizuwohnen
und Ergänzungsfragen zu stellen oder aber, sofern er dem Verhör nicht
beiwohnen kann, nach Einsicht in das Einvernahmeprotokoll schriftlich
ergänzende Fragen zu stellen. Das hindert nicht, dass auch dieses Recht den
kantonalen Verfahrensvorschriften untersteht. Es kann den Kantonen nicht
verwehrt sein, die Einhaltung gewisser Vorschriften bei der Ausübung des
erwähnten Rechtes zu verlangen, so etwa, dass entsprechende Anträge frist-
und formgerecht gestellt werden. Auf das aus der EMRK abgeleitete Recht
kann ausdrücklich oder stillschweigend verzichtet werden. Ein solcher
Verzicht macht die Zeugenaussagen weder nichtig noch lässt er einen
Anspruch auf Wiederholung entstehen (BGE 104 Ia 319).

    Aufgrund von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK darf demnach in einem
Strafverfahren im allgemeinen nur dann auf die Aussagen eines
Belastungszeugen abgestellt werden, wenn der Angeklagte bei dessen
Einvernahme wenigstens einmal anwesend sein konnte oder zumindest
Gelegenheit hatte, nach Einsicht in das Einvernahmeprotokoll schriftlich
Ergänzungsfragen an den Zeugen zu stellen, die diesem in einer weitern
Einvernahme vorgelegt wurden. Es kann freilich Fälle geben, in welchen
dieser Grundsatz nicht eingehalten werden kann, z.B. beim Tod eines Zeugen
oder dann, wenn ein Zeuge dauernd oder für lange Zeit einvernahmeunfähig
wird. In diesen Fällen darf die Aussage des Zeugen verwertet werden,
auch wenn der Angeklagte keine Gelegenheit hatte, Ergänzungsfragen
zu stellen. Es kann nicht dem Sinn der EMRK entsprechen, dass z.B. in
einem Mordprozess der Angeklagte freizusprechen wäre, wenn der einzige
Zeuge der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat stirbt, bevor ihm
Ergänzungsfragen des Angeklagten gestellt werden konnten. In der Regel
wird es geboten sein, eine Konfrontation zwischen dem Angeklagten und
dem Belastungszeugen durchzuführen. Im Einzelfall können aber Gründe
vorliegen, die dem entgegenstehen, so etwa, wenn sich der Zeuge vor dem
Angeklagten fürchtet, ferner unter Umständen bei Sexualdelikten oder wenn
der Zeuge in erheblicher Entfernung vom Gerichtsort abgehört wird. In
solchen Fällen kann es durchaus bei schriftlichen Ergänzungsfragen sein
Bewenden haben, wobei nach allgemeinen Grundsätzen solche Fragen nur
zuzulassen sind, wenn sie irgendwie erheblich sind.