Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IA 36



105 Ia 36

8. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. Mai 1979 i.S.
Clausen gegen Staat Wallis (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Staats- und Beamtenhaftung.

    Zeitlicher Geltungsbereich der durch den revidierten Art. 21 der
Walliser Kantonsverfassung neu eingeführten direkten Staatshaftung.

Sachverhalt

    A.- Art. 21 der Walliser Kantonsverfassung vom 8. März 1907 (KV)
lautete in seiner bisherigen, bis zum 31. Dezember 1976 geltenden Fassung
wie folgt:

    "1 Die Behörden und öffentlichen Beamten sind für ihre
Amtsverrichtungen
   verantwortlich.

    2 Für die Amtsverrichtungen der vom Staate ernannten Beamten ist dieser
   subsidiarisch haftbar.

    3 Das Gesetz bezeichnet die Beamten, welche eine Amtsbürgschaft zu
   leisten haben."

    Ein Gesetz vom 21. Mai 1840 regelte die straf- und zivilrechtliche
Verantwortlichkeit des Staatsrates. Die externe Haftung der übrigen
Beamten richtete sich nach dem OR.

    In einer Volksabstimmung vom 26. September 1976 nahmen die kantonalen
Stimmbürger folgende neue Fassung von Art. 21 KV an:

    "1 Der Staat, die Gemeinden und die mit Rechtspersönlichkeit
   ausgestatteten Gemeindeverbände des öffentlichen Rechts haften gegenüber
   Dritten für die Handlungen ihrer Agenten.

    2 Der Agent haftet gegenüber dem öffentlichen Gemeinwesen, in dessen

    Dienst er sich befindet, für den Schaden, den er ihm in Ausübung seiner
   amtlichen Tätigkeit durch vorsätzliche oder grobfahrlässige Verletzung
   seiner Dienstpflicht direkt oder indirekt zufügt.

    3 Das Gesetz regelt die Anwendung dieser Grundsätze."

    Mit Beschluss vom 22. Dezember 1976 setzte der Staatsrat des Kantons
Wallis den revidierten Art. 21 KV auf den 1. Januar 1977 in Kraft.

    Am 10. Mai 1978 beschloss der Grosse Rat des Kantons Wallis ein
Gesetz über "die Verantwortlichkeit der öffentlichen Gemeinwesen und
ihrer Amtsträger" (im folgenden: Verantwortlichkeitsgesetz), das die im
revidierten Art. 21 KV vorgesehene Regelung näher ausführt. Art. 22 lit. b
des neuen Gesetzes hebt das frühere Gesetz vom 21. Mai 1840 auf. Im übrigen
fehlt es an einer Übergangsregelung. Das neue Verantwortlichkeitsgesetz
wurde in der kantonalen Volksabstimmung vom 24. September 1978 angenommen
und am 1. Januar 1979 in Kraft gesetzt.

    Im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, der sich im Jahre 1975 im
Kanton Bern ereignet hatte, entzog das Justiz- und Polizeidepartement des
Kantons Wallis mit Verfügung vom 15. Oktober 1975 dem Beschwerdeführer
Leo Clausen den Führerausweis für einen Monat. Der Staatsrat des
Kantons Wallis wies eine hiegegen erhobene Beschwerde am 5. Mai 1976
ab. Clausen focht diesen Entscheid mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim
Bundesgericht an. Nachdem in der Zwischenzeit der zuständige bernische
Strafrichter mit Urteil vom 14. Juli 1976 Clausen vom Vorwurf der
Verletzung von Verkehrsregeln freigesprochen hatte, weil dieser durch
eine falsch angebrachte Signalisation und Markierung irregeführt worden
sei, widerrief der Staatsrat des Kantons Wallis am 3. November 1976
seinen Beschwerdeentscheid vom 5. Mai 1976 und hiess die gegen den
Führerausweisentzug erhobene Beschwerde gut. Das bundesgerichtliche
Verfahren wurde daraufhin abgeschrieben.

    Am 14. Juli 1978 reichte Leo Clausen beim Instruktionsrichter
des Bezirkes Sitten gegen den Staat Wallis wegen der ihm durch den
Führerausweisentzug entstandenen Nachteile eine Schadenersatzklage
ein. Der Staat Wallis erhob die Einrede der fehlenden Passivlegitimation,
die vom Instruktionsrichter mit Entscheid vom 14. November 1978
geschützt wurde. Das Kantonsgericht des Kantons Wallis bestätigte diesen
Entscheid auf Berufung hin am 5. Februar 1979 und wies die Klage mangels
Passivlegitimation des Staates ab, im wesentlichen mit der Begründung,
dass der vorliegende Schadensfall noch nach dem bisherigen Art. 21 KV zu
beurteilen sei, der keine direkte Staatshaftung vorsehe.

    Leo Clausen erhebt gegen dieses Urteil des Kantonsgerichtes
staatsrechtliche Beschwerde. Er rügt, das Kantonsgericht habe Art. 21 KV
willkürlich angewendet und dadurch Art. 4 BV verletzt. Das Bundesgericht
weist die Beschwerde ab aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der formell auf den 1. Januar 1977 in Kraft gesetzte revidierte
Art. 21 KV, der für schädigende Handlungen von Staatsorganen nunmehr
eine direkte Staatshaftung vorsieht, spricht sich über die Frage der
zeitlichen Anwendbarkeit der neuen Regelung nicht aus. Es obliegt
nach Art. 21 Abs. 3 KV dem kantonalen Gesetzgeber, die zur Anwendung
der neuen Ordnung erforderlichen Vorschriften zu erlassen. Auch die
Schaffung allfälliger Übergangsbestimmungen ist nach Art. 21 Abs. 3 KV
Sache des Gesetzgebers. Das inzwischen erlassene und am 1. Januar 1979
in Kraft gesetzte kantonale Verantwortlichkeitsgesetz vom 10. Mai 1978
enthält indessen keinerlei intertemporale Regelung. Wie es sich mit der
zeitlichen Geltung dieses Gesetzes verhält, kann im Sinne der folgenden
Erwägungen offen bleiben.

Erwägung 2

    2.- Der bereits zwei Jahre vor dem Verantwortlichkeitsgesetz in Kraft
gesetzte revidierte Art. 21 KV stellt wohl den Grundsatz auf, dass ein
durch Handlungen staatlicher Organe geschädigter Dritter nunmehr direkt
den Staat belangen kann (Abs. 1), dem unter gewissen Voraussetzungen ein
Rückgriffsrecht auf den fehlbaren Funktionär zusteht (Abs. 2). Die Frage,
wann eine solche Schadenshaftung des Gemeinwesens besteht (Kausal- oder
Verschuldenshaftung, allenfalls Grad des Verschuldens), wird jedoch durch
Art. 21 Abs. 1 KV nicht beantwortet. Ihre Regelung wurde dem Gesetzgeber
überlassen (vgl. auch Botschaft zur bundesrechtlichen Gewährleistung der
Verfassungsänderung, BBl 1977 II 260). Solange nicht wenigstens diese
elementare Frage durch Art. 4 des Verantwortlichkeitsgesetzes verbindlich
geregelt war, konnte das System der direkten Staatshaftung noch keine
Anwendung finden. Erst das gestützt auf Art. 21 Abs. 3 KV erlassene
Verantwortlichkeitsgesetz vom 10. Mai 1978 (in Kraft seit 1. Januar 1979)
ermöglicht die Durchführung der neuen Regelung. Bis zu dessen Inkrafttreten
galt das frühere Gesetz vom 21. Mai 1840, das erst durch Art. 22 lit. b des
Verantwortlichkeitsgesetzes formell aufgehoben worden ist. Schon aus diesem
Grunde liegt die Annahme nahe, dass die vorliegende Haftungsstreitigkeit
noch nach bisherigem Recht zu beurteilen sei. Sowohl der behauptete Schaden
als auch die Klageeinreichung fallen in die Zeit vor Inkraftsetzung des
Verantwortlichkeitsgesetzes, das erst die Durchführung des neuen Systems
der direkten Staatshaftung ermöglicht. Es bedeutet daher im Ergebnis
keine Verletzung von Art. 4 BV, wenn das Kantonsgericht die am 14.
Juli 1978 erhobene Klage mangels Passivlegitimation des Staates abwies.

    Dass die rückwirkende Anwendbarkeit der neuen Haftungsordnung
auf den vorliegenden Tatbestand aus dem inzwischen erlassenen
Verantwortlichkeitsgesetz hervorgehe und dass das Kantonsgericht
verpflichtet gewesen wäre, dies bei der Beurteilung der noch vor dem
Inkrafttreten dieses Gesetzes erhobenen Klage zu berücksichtigen,
wird nicht geltend gemacht, so dass sich diesbezügliche Erörterungen
erübrigen. Der Beschwerdeführer stützt seine Beschwerde einzig auf die
These, dass das Kantonsgericht dem neuen Art. 21 KV zu Unrecht keine
rückwirkende Geltung zuerkannt habe, und dieser Einwand ist nach dem
Gesagten unbehelflich.

    Wie es sich verhielte, wenn die fragliche Klage unter der Geltung
des am 1. Januar 1979 in Kraft gesetzten Verantwortlichkeitsgesetzes
eingereicht worden wäre bzw. ob eine solche Klage gegen den Staat heute
nochmals eingereicht werden könnte, ist hier nicht zu prüfen.

Erwägung 3

    3.- Selbst wenn man mit dem Kantonsgericht davon ausgehen
wollte, die im revidierten Art. 21 KV vorgesehene neue Ordnung der
Staats- und Beamtenhaftung sei schon mit der Inkraftsetzung dieser
Verfassungsbestimmung unmittelbar anwendbar gewesen, hätte es sich, mangels
einer ausdrücklichen gegenteiligen Regelung, ohne Willkür vertreten lassen,
die Passivlegitimation des Staates für Schäden, die sich vor Inkraftsetzung
der neuen Ordnung ereignet haben, zu verneinen.

    Es sind in einem Fall der vorliegenden Art verschiedene
Übergangsregelungen denkbar. Das eidgenössische Verantwortlichkeitsgesetz
vom 14. März 1958 sieht in Art. 26 Abs. 2 vor, dass die (neu eingeführte)
Haftung des Bundes auch für Schäden gilt, die vor Inkrafttreten des
Gesetzes entstanden sind. Eine gegenteilige Regelung findet sich im
zürcherischen Haftungsgesetz vom 14. September 1969 (§ 35 Abs. 3);
danach sind vor dem Inkrafttreten des Gesetzes verursachte Schäden
noch nach bisherigem Recht zu beurteilen, das nur eine Beamtenhaftung
vorsah (vgl. dazu SCHWARZENBACH, Die Staats- und Beamtenhaftung in der
Schweiz, S. 72 f. und S. 170). Unter dem Gesichtswinkel von Art. 4 BV
lassen sich beide Lösungen vertreten. Soweit eine neue Haftungsordnung
für den Bürger und den beteiligten Beamten gegenüber der bisherigen
Regelung keine Nachteile bringt, steht es dem Gesetzgeber frei, sie auch
rückwirkend zur Anwendung zu bringen; die rückwirkende Inkraftsetzung
einer begünstigenden Regelung ist grundsätzlich zulässig (IMBODEN/RHINOW,
Verwaltungsrechtsprechung, Nr. 16, S. 106; BGE 99 V 203). Ein dahingehender
Anspruch besteht aber nur, wenn die einschlägigen Normen dies vorsehen,
was hier nicht dargetan ist.