Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IA 277



105 Ia 277

52. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 17.
Oktober 1979 i.S. Arnold und Konsorten gegen Einwohnergemeinde Altdorf
und Regierungsrat des Kantons Uri (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 15 Abs. 2 OG; Besetzung der urteilenden Abteilung des
Bundesgerichts.

    "Kantonale Erlasse" im Sinne von Art. 15 Abs. 2 OG (Fassung
vom 6. Oktober 1978) sind nur Erlasse des Kantons selber, nicht
Gemeindeerlasse.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Wie die Beschwerdeführer ausdrücklich erklären, wird der
Zonenplan der Einwohnergemeinde Altdorf, der ihre Liegenschaften
in die Gefahrenzone einreiht, nicht angefochten. Ebensowenig werden
die Rechtsgrundlage der Perimeterverordnung und die Durchführung des
kantonalen Rekursverfahrens beanstandet; kritisiert wird einzig die durch
die Verordnung getroffene Umschreibung der Beitragspflicht.

    Da der Regierungsrat des Kantons Uri die streitige Perimeterverordnung
noch nicht genehmigt hat, ist formell nur der Beschwerdeentscheid
des Regierungsrates vom 31. Juli 1978 Gegenstand des vorliegenden
Verfahrens. Der Sache nach geht es indessen um die Rechtsbeständigkeit
der Perimeterverordnung, also eines kommunalen Erlasses.

    b) Bei der Beurteilung von Beschwerden gegen kantonale Erlasse und
gegen den Entscheid oder die Weigerung, ein Geschäft den Stimmbürgern
eines Kantons zur Abstimmung vorzulegen, wirken nach Art. 15 Abs. 2 des
Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) in der
Fassung vom 6. Oktober 1978 sieben Richter mit. Es stellt sich die Frage,
ob unter "kantonalen Erlassen" lediglich Erlasse des Kantons selbst oder
auch solche der Gemeinden zu verstehen sind.

    Gemäss Art. 84 Abs. 1 OG kann gegen "kantonale Erlasse oder
Verfügungen" staatsrechtliche Beschwerde geführt werden. Es ist
unbestritten, dass auch Gemeindeerlasse als "kantonale Erlasse"
im Sinne dieser Bestimmung gelten und damit Anfechtungsobjekte der
staatsrechtlichen Beschwerde sein können. Fraglich ist indessen, ob sich
diese Auslegung des Art. 84 Abs. 1 OG ohne weiteres auf Art. 15 Abs. 2
OG übertragen lässt. Der heutige Art. 15 Abs. 2 OG ersetzt die frühere
Vorschrift, nach welcher bei staatsrechtlichen Geschäften, vorbehältlich
der Beschwerden gegen kantonale Verfügungen wegen Verletzung von Art. 4 BV,
stets sieben Richter mitzuwirken hatten. Er bildet in seiner neuen Fassung
eine Ausnahme gegenüber dem im ebenfalls revidierten Art. 15 Abs. 3 OG
statuierten Grundsatz, wonach die öffentlichrechtlichen Abteilungen in der
Besetzung mit drei Richtern entscheiden, soweit es sich um Streitsachen
ohne grundsätzliche Bedeutung handelt. Mit dieser Revision wurde eine
Entlastung der beiden öffentlichrechtlichen Abteilungen angestrebt (BBl
1978 I 1231 ff.). Bei der Auslegung von Art. 15 Abs. 2 OG sind deshalb vor
allem zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen: einerseits die gesetzliche
Systematik, nach welcher sich die Besetzung der urteilenden Kammer nach
dem Gewicht und der Tragweite des Streitgegenstandes richtet, anderseits
die offenkundige Absicht des Gesetzgebers, das Bundesgericht zu entlasten.

    Art. 15 Abs. 2 OG stellt die Beschwerden gegen "kantonale Erlasse"
und diejenigen "gegen den Entscheid oder die Weigerung, ein Geschäft
den Stimmbürgern eines Kantons zur Abstimmung vorzulegen" hinsichtlich
der Besetzung der Richterbank einander gleich. Im Streit um die
Referendumspflicht eines Geschäftes ist nach dem klaren Wortlaut
und Sinn der Vorschrift nur dann die Behandlung durch sieben Richter
erforderlich, wenn die Zuständigkeit der Stimmbürger eines Kantons,
nicht derjenigen eines untergeordneten Gemeinwesens, streitig ist. Darin
liegt ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch mit dem Begriff "kantonale
Erlasse" nur Erlasse des Kantons selber gemeint sind. Zum selben Ergebnis
führt es, wenn die unterschiedliche bundesstaatsrechtliche und politische
Stellung eines Kantons und eines untergeordneten Gemeinwesens in Rechnung
gestellt wird. Ein Erlass eines Kantons ist ein Souveränitätsakt eines
Bundesgliedes. Die Rechtssetzungszuständigkeit eines Kantons erstreckt
sich auf alle Gebiete, die nicht der Bundesgewalt übertragen sind (Art. 3
BV) und besteht insoweit - im Gegensatz zu derjenigen untergeordneter
Gemeinwesen - aus eigenem Recht. Daraus ergibt sich, dass einem Erlass
selbst eines kleinen Kantons, auch wenn er möglicherweise wesentlich
weniger Personen betrifft als ein Erlass einer grossen Stadt, aus
staatsrechtlicher und politischer Sicht erhöhte Bedeutung zukommt. Unter
dem Gesichtspunkt der Arbeitslast des Bundesgerichts erscheint es ebenfalls
als gerechtfertigt, nur Beschwerden gegen Erlasse eines Kantons in der
Besetzung mit sieben Richtern zu behandeln. Müsste jede Beschwerde,
die sich gegen kommunale Erlasse richtet, durch sieben Richter behandelt
werden, würde die Absicht des Gesetzgebers, das Bundesgericht zu entlasten,
nur in geringem Mass verwirklicht.

    Demnach ergibt sich, dass "kantonale Erlasse" im Sinne von Art. 15
Abs. 2 OG nur Erlasse des Kantons selber sind. Die vorliegende Beschwerde
ist deshalb nicht durch sieben Richter zu beurteilen. Da ihr indes
erhebliche grundsätzliche Bedeutung zukommt, ist sie in einer Besetzung
mit fünf Richtern zu behandeln.