Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IA 205



105 Ia 205

41. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 3.
Oktober 1979 i.S. M. gegen Anklagekammer des Obergerichtes des Kantons
Bern Regeste

    Hafterstreckung; rechtliches Gehör. Art. 4 BV, Art. 5 EMRK.

    Aus Art. 4 BV ergibt sich kein Rechtsanspruch des
Untersuchungsgefangenen auf Anhörung vor jeder Hafterstreckung. Hingegen
muss ihm - auch nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK - eine Beschwerdemöglichkeit
gegen die Haftverlängerung eingeräumt werden. Das Recht, ein
Haftentlassungsgesuch stellen zu können, kann dieser Beschwerdemöglichkeit
gleichgestellt werden.

Sachverhalt

    A.- Gegen M. wird im Kanton Bern wegen einer Reihe von Delikten
Strafuntersuchung geführt. Da das Verfahren nicht in der in Art. 123
Abs. 4 des bernischen Gesetzes über das Strafverfahren (StrV) vorgesehenen
Frist abgeschlossen werden konnte, verlängerte die Anklagekammer des
Obergerichtes des Kantons Bern am 24. Juli 1979 die Frist zur Aburteilung
von M. bis zum Oktober 1979; sie verfügte gleichzeitig, dass M., der
seine Strafe vorzeitig angetreten hatte, im vorzeitigen Strafvollzug zu
belassen sei. M. beklagt sich mit staatsrechtlicher Beschwerde darüber,
dass er im Verfahren vor der Anklagekammer nicht angehört worden sei. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- In der Beschwerde wird geltend gemacht, die Anklagekammer habe die
unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden Verfahrensregeln verletzt, die den
Umfang des rechtlichen Gehörs bestimmen, indem sie den Beschwerdeführer
vor Erlass ihres Entscheides nicht angehört habe. Das Bundesgericht hat
indessen nie erklärt, aus Art. 4 BV ergebe sich ein Rechtsanspruch des
Untersuchungs- oder Sicherheitsgefangenen, vor jeder Hafterstreckung
angehört zu werden. Aus der Natur der Sache folgt, dass die Anordnung
oder die Erstreckung von Untersuchungshaft in der Regel keinen Aufschub
erträgt. Den Anforderungen des rechtlichen Gehörs wird daher hinlänglich
entsprochen, wenn sich der Betroffene gegen die Erstreckungsverfügung bei
einer richterlichen, mit voller Kognition ausgestatteten Instanz beschweren
und die für eine Haftentlassung sprechenden Argumente vorbringen kann.

    Art. 123 Abs. 4 StrV gibt dem Angeschuldigten ausdrücklich das Recht,
ein Gesuch um Haftentlassung zu stellen. In diesem vom Angeschuldigten
selbst einzuleitenden Haftprüfungsverfahren hat er Gelegenheit,
sämtliche Argumente, die für eine Haftentlassung sprechen, schriftlich
vorzubringen. Das rechtliche Gehör wird somit gewahrt. Daran ändert nichts,
wenn die Anklagekammer, wie im vorliegenden Fall, die Verlängerung der
Aburteilungsfrist bzw. die Haftverlängerung bereits beschlossen hat. Die
Anklagekammer ist verpflichtet, auf ein Haftentlassungsgesuch hin neu
zu entscheiden, und zwar unter Berücksichtigung der vom Angeschuldigten
vorgetragenen Argumente.

Erwägung 3

    3.- Das geschilderte Verfahren entspricht nicht nur den
Anforderungen von Art. 4 BV, sondern auch denjenigen der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK). Die Rechte des verhafteten Angeschuldigten
sind in Art. 5 EMRK speziell geregelt, so dass sich der Verhaftete nicht
auf die Anrufung des allgemeinen Grundsatzes der Waffengleichheit zu
beschränken braucht. Der Grundsatz der Waffengleichheit will übrigens
einzig sicherstellen, dass der Angeschuldigte in jedem Verfahrensstadium
in angemessener Weise Gelegenheit erhält, seinen Standpunkt vorzutragen,
sagt aber nichts darüber aus, in welcher Form und welchem Zeitpunkt
dies geschehen soll; über diese Fragen entscheidet vielmehr allein das
massgebende Prozessrecht. In Betracht zu ziehen ist im vorliegenden Fall
dagegen Art. 5 Ziff. 4 EMRK, wonach jeder Angeschuldigte berechtigt
ist, die Überprüfung der Rechtmässigkeit seiner Festnahme durch
ein Gericht zu verlangen. Das Bundesgericht hat unlängst in diesem
Zusammenhang entschieden, dass dem Verhafteten, der bei seiner Festnahme
vorschriftsgemäss dem Richter vorgeführt worden ist, zwar auch bei
Haftverlängerungen eine Beschwerdemöglichkeit eingeräumt werden muss,
dass ihm aber auf Grund der EMRK kein Anspruch auf eine erneute Vorführung
zusteht, um seine Beschwerdegründe mündlich vortragen zu können (BGE 105
Ia 41 ff.). Ist den Anforderungen der EMRK aber damit Genüge getan, dass
der Verhaftete die gegen die Fortdauer des Freiheitsentzuges sprechenden
Gründe einem Gericht in geeigneter Form zur Kenntnis bringen kann,
so ist nicht ersichtlich, weshalb das im Strafprozessrecht des Kantons
Bern vorgesehene Verfahren, das die Einreichung eines ausdrücklichen
Haftentlassungsgesuches voraussetzt, rechtswidrig wäre.