Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IA 166



105 Ia 166

33. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
20. Juli 1979 i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich, Ersatzrichter
Dr. V. und Bezirksgericht Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 und 58 BV; §§ 19 und 28 des zürcherischen
Gerichtsverfassungsgesetzes.

    Befugnis der Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich
zur Ernennung von Ersatzrichtern der Bezirksgerichte (E. 3).

    Ein durch diese Kommission ernannter Ersatzrichter eines
Bezirksgerichts kann nur dann einzelrichterliche Funktionen ausüben,
wenn er ausdrücklich zum ausserordentlichen Einzelrichter ernannt worden
ist. Ist das nicht der Fall und amtet er gleichwohl als Einzelrichter,
so liegt eine Verletzung der Art. 4 und 58 Abs. 1 BV vor (E. 4).

Sachverhalt

    A.- X. wurde mit Urteil des Einzelrichters in Strafsachen am
Bezirksgericht Zürich vom 26. Januar 1979 in unentschuldigter Abwesenheit
der wiederholten und fortgesetzten unzüchtigen Veröffentlichungen im Sinne
von Art. 204 Ziff. 1 Abs. 1, 2 und 3 StGB schuldig befunden und verurteilt
zu zwei Monaten Gefängnis unter Anrechnung von 11 Tagen Untersuchungshaft
sowie zu einer Busse von Fr. 100'000.-. Der Vollzug der Freiheitsstrafe
wurde aufgeschoben und die Probezeit auf fünf Jahre angesetzt. Als
Richter amtete Ersatzrichter Dr. Y. X., der sich schon im voraus gegen die
Beurteilung seines Falles durch einen Ersatzrichter verwahrt hatte, erhob
staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Einzelrichters
in Strafsachen am Bezirksgericht Zürich sei aufzuheben. Er berief sich
auf die Art. 4, 58 und 61 BV. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Gemäss § 27 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes vom
13. Juni 1976 (GVG) sind die Friedensrichter des Bezirks die Ersatzrichter
des Bezirksgerichts. Das Obergericht kann auf Antrag des Bezirksgerichts
auch andere Personen für bestimmte Zeit oder für bestimmte Prozesse zu
Ersatzrichtern bestellen (sogenannte ausserordentliche Ersatzrichter;
vgl. Rechenschaftsbericht des Obergerichts über das Jahr 1977,
S. 36). HAUSER/HAUSER bemerken in ihrem Kommentar zum GVG vom 29. Januar
1911, diese im Jahre 1935 eingeführte Neuerung sei seinerzeit unter
Berufung auf den Grundsatz der Gewaltentrennung und auf Art. 4 BV erfolglos
beim Bundesgericht angefochten worden (aaO, S. 69, N. 2 zu § 24 aGVG). Der
Beschwerdeführer stellt das Recht des Obergerichtes zur Ernennung von
Ersatzrichtern der Bezirksgerichte nicht in Frage und anerkennt auch,
dass Dr. Y. von der Verwaltungskommission des Obergerichtes für die Zeit
vom 21. August 1978 bis 9. Juli 1979 zum Ersatzrichter des Bezirksgerichts
Zürich ernannt worden ist. Er bestreitet zwar die Gültigkeit der Delegation
der Ernennungsbefugnis an die Verwaltungskommission; doch entbehrt seine
Beschwerde in diesem Punkt der durch Art. 90 Abs. 1 lit. b OG geforderten
Substantiierung, da die in Betracht fallenden Bestimmungen des kantonalen
Rechtes nicht einmal erwähnt werden.

    Wäre auf die Rüge einzutreten, so erwiese sie sich als
unbegründet. In § 40 GVG sind die Stellen aufgezählt, die das
Obergericht nach seiner Gesamterneuerung durch Wahl auf Amtsdauer
zu besetzen hat; die Ersatzrichter der Bezirksgerichte fallen nicht
darunter. Es handelt sich somit bei deren Bestellung um ein anderes
Geschäft der Justizverwaltung. Solche Geschäfte können gemäss § 49
GVG durch eine Verordnung, welche der Genehmigung des Kantonsrates
bedarf, ständigen Kommissionen übertragen werden. Die am 30. Juni
1976 gestützt auf diese Bestimmung vom Obergericht selbst erlassene
und vom Kantonsrat am 6. Dezember 1976 genehmigte Verordnung über die
Organisation des Obergerichtes enthält in den §§ 17 ff. Vorschriften über
die Zusammensetzung und die Befugnisse der Verwaltungskommission. Gemäss §
18 untersteht dieser Kommission die gesamte Justizverwaltung, soweit sie
nicht anderen Behörden vorbehalten ist. Sie ist zur Behandlung aller sich
aus dieser Stellung ergebenden Geschäfte zuständig, soweit keine weitere
Delegation erfolgt ist. Da gemäss § 6 der genannten Verordnung zwar die
Wahl der vom Obergericht für dieses selbst zu bezeichnenden Ersatzrichter,
nicht aber diejenige der Ersatzrichter der Bezirksgerichte dem Obergericht
als Gesamtbehörde vorbehalten ist, erweist sich die Bestellung dieser
Ersatzrichter durch die Verwaltungskommission als gesetzeskonform.

Erwägung 4

    4.- Das Hauptgewicht der Beschwerde liegt auf der Behauptung, als vom
Obergericht ernannter Ersatzrichter könne Dr. Y. nur als Mitglied eines
Kollegiums des Gesamtgerichtes amten, jedoch nicht als Einzelrichter;
es fehle jeder Anhaltspunkt dafür, dass er vom Obergericht oder vom
Bezirksgericht je zur Vertretung zum Einzelrichter auf Zeit ernannt worden
sei; er habe daher in der vorliegenden Streitsache als Ausnahmerichter
gehandelt.

    a) Der Beschwerdeführer glaubt, die Betrauung von Ersatzrichtern
mit einzelrichterlichen Funktionen verstosse schon gegen das Prinzip
der direkten Demokratie. Dem kann nicht beigepflichtet werden. Die
Bundesverfassung schreibt die Volkswahl der Richter nicht vor
(im Kt. Waadt werden z.B. die Richter der ersten Instanz durch das
Kantonsgericht ernannt; Loi sur l'organisation judiciaire Art. 10),
und auch die Verfassung des Kantons Zürich enthält keine Vorschrift in
dieser Richtung. Die Oberrichter und die Kassationsrichter werden vom
Kantonsrat gewählt, und die Verfassungsbeständigkeit der gesetzlichen
Bestimmungen, die dem Obergericht die Ernennung von Ersatzrichtern
sowohl für das Obergericht selbst als auch für die Bezirksgerichte
erlaubt, wird mit Recht nicht in Frage gestellt. Die Ernennung der
Einzelrichter aus der Mitte der Bezirksrichter erfolgt ohnehin nicht durch
Volkswahl. Das demokratische Prinzip ist somit in keiner Weise berührt,
wenn ausnahmsweise ein Ersatzrichter vom Obergericht mit der Ausübung
auch einzelrichterlicher Funktionen betraut wird. Eine solche Lösung
kann sogar unumgänglich werden, wenn in einem kleineren Bezirksgericht,
bei dem nur der Präsident über eine juristische Ausbildung verfügt oder mit
Rücksicht auf die Geschäftszahl mindestens sämtliche juristisch geschulten
Mitglieder einzelrichterliche Funktionen ausüben (z.B. Winterthur,
Bülach, Hinwil, Meilen, Uster), einer dieser Richter wegen Krankheit oder
aus anderen Gründen für einige Zeit ausfällt. Es ist nicht ersichtlich,
weshalb dasselbe dem Grundsatze nach nicht auch für das Bezirksgericht
Zürich gelten sollte.

    b) Damit hängt der Entscheid über die vorliegende Beschwerde einzig
noch davon ab, ob Dr. Y. sich ohne Willkür als auch zum Ersatzmann
für den Einzelrichter bestellt betrachten durfte, obschon davon im
Ernennungsbeschluss nichts gesagt wird. Er hat dazu im angefochtenen Urteil
ausgeführt, die Ersatzrichter könnten die Funktionen der ordentlichen
Bezirksrichter übernehmen, zu denen auch diejenigen eines Einzelrichters
gehörten. Dass Ersatzrichter auch als Einzelrichter amten könnten,
entspreche im übrigen ständiger Praxis. Eine Bestimmung, wonach dies
unzulässig wäre, finde sich im GVG nicht. Den nämlichen Standpunkt vertritt
auch der Präsident des Bezirksgerichtes Zürich in einem Schreiben an den
Anwalt des Beschwerdeführers vom 22. Dezember 1978. Demgegenüber hält
der Beschwerdeführer gestützt auf die §§ 19 und 28 GVG eine besondere
Ernennung zum Einzelrichter für unumgänglich.

    Der zum Abschnitt über die Einzelrichter gehörende § 19 GVG lautet:

    "Jeder Bezirk hat einen oder mehrere Einzelrichter. Ihre Zahl wird vom

    Obergericht bestimmt. Das Bezirksgericht überträgt die Geschäfte des

    Einzelrichters dauernd dem Präsidenten oder, mit Bewilligung des

    Obergerichtes, einem oder mehreren Mitgliedern."

    Im Abschnitt über die Bezirksgerichte wird sodann in § 28 GVG
ausgeführt:

    "Das Bezirksgericht wählt nach seiner Gesamterneuerung für den Rest des

    Kalenderjahres und sodann je am Jahresende für das folgende Jahr
aus seiner

    Mitte einen oder mehrere Vizepräsidenten, deren Zahl vom Obergericht
   festgesetzt wird, sowie die Einzelrichter."

    Dr. Y. ist somit darin beizupflichten, dass das GVG keine ausdrückliche
Bestimmung darüber enthält, ob und unter welchen formellen Voraussetzungen
Ersatzrichter befugt sind, auch als Einzelrichter zu amten. Anderseits
enthalten die angeführten Bestimmungen doch ausreichende Anhaltspunkte zur
Ermittlung des Willens des Gesetzgebers. Vor allem geht daraus eindeutig
hervor, dass die Bezirksgerichte ihre Einzelrichter jeweils für ein Jahr zu
bestellen haben und dass es der Zustimmung des Obergerichtes bedarf, wenn -
wie dies bei allen Bezirksgerichten ausser denjenigen der kleinsten Bezirke
zutrifft - andere Richter als der Präsident einzelrichterliche Funktionen
ausüben sollen. Sowohl § 19 als auch § 28 GVG lassen klar erkennen, dass es
den Bezirksgerichten nicht freigestellt werden sollte, einzelrichterliche
Prozesse von Fall zu Fall irgend einem ihrer Mitglieder zu übertragen. Es
folgt dies einmal aus der in § 19 enthaltenen Formulierung, wonach
die Geschäfte des Einzelrichters dauernd entweder dem Präsidenten oder
bestimmten anderen Mitgliedern des Gerichtes zu übertragen sind, sodann
auch daraus, dass die Übertragung der Einzelrichtergeschäfte an nicht
präsidierende Mitglieder der Bewilligung des Obergerichtes bedarf,
und schliesslich aus der in § 28 vorgesehenen einjährigen Amtsdauer
der Einzelrichter. Aus den angeführten Bestimmungen ist zwingend zu
schliessen, dass der Gesetzgeber dem Gedanken der Rechtssicherheit
Rechnung tragen wollte. Es sollte Gewähr dafür geboten sein, dass nicht
einzelne Geschäfte der Einzelrichter je nach ihrer Natur und Schwierigkeit,
eventuell sogar unter Rücksichtnahme auf die daran beteiligten Parteien,
jeweils irgend einem beliebigen Bezirksrichter zugeteilt werden. Dem kann
nicht entgegengehalten werden, für die Zuteilung einzelner Geschäfte
des Kollegialgerichtes an bestimmte Referenten bestünden ebenfalls
keine gesetzlichen Regeln. Wenn der Gesetzgeber hinsichtlich der
Einzelrichter, die - trotz der im allgemeinen gegebenen Rechtsmittel -
eine erhöhte Verantwortung tragen, strengere Regeln aufstellen wollte,
so war ihm das unbenommen. Die sich zwar nicht auf den ersten Blick,
wohl aber bei einlässlicher Prüfung aus den §§ 19 und 28 GVG ergebende
Regel, wonach die Bestellung von Einzelrichtern nur durch besonderen
Beschluss des Bezirksgerichtes erfolgen kann und zudem der Bewilligung des
Obergerichtes bedarf, hat somit ihren guten Sinn. Sie muss a fortiori auch
dann gelten, wenn nicht ein ordentliches Mitglied des Gerichtes, sondern
ein Ersatzrichter zum Einzelrichter bestellt werden soll. Die dargelegte,
sich aus dem GVG ergebende Lösung ist geeignet, dem Grundgedanken des
Art. 58 Abs. 1 BV Nachachtung zu verschaffen. Der ordnungsgemäss ernannte
Ersatzrichter ist zwar kein Ausnahmerichter. Er käme jedoch einem solchen
nahe, wenn ihm ohne besondere Bestellung aufgrund blosser Absprache mit
dem ordentlichen Einzelrichter je nach den Umständen einzelne Geschäfte
übertragen werden könnten. Dies erscheint unter dem Aspekt des in Art. 58
Abs. 1 BV enthaltenen Verbots der Ausnahmegerichte als unzulässig.

    Aus allen diesen Gründen muss in Anwendung der §§ 19 und 28 GVG
gefordert werden, dass ein Ersatzrichter, dem einzelrichterliche Funktionen
übertragen werden sollen, ausdrücklich zum a.o. Einzelrichter ernannt
wird, und zwar entweder aufgrund von § 27 Satz 2 GVG direkt bei seiner
Ernennung durch das Obergericht oder dann nachträglich aufgrund von § 19
Abs. 2 GVG durch das Bezirksgericht mit Bewilligung des Obergerichts. Da
der Text des Gesetzes zwingend zu diesem Ergebnis führt, ist ein anderer
Schluss mit sachlichen Gründen nicht vertretbar. Ersatzrichter Dr. Y. war
demnach nicht berechtigt, in der vorliegenden Sache als Einzelrichter zu
handeln. Das angefochtene Urteil ist daher wegen Verletzung von Art. 58
Abs. 1 und Art. 4 BV aufzuheben.