Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 90



104 V 90

21. Urteil vom 27. April 1978 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen K. und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 28 Abs. 2 IVG. Zur Bestimmung des Soziallohnes ist auch beim
umgeschulten und wiedereingegliederten Invaliden allein entscheidend, was
seine Arbeitsleistung in Geld ausgedrückt wert ist. Was der Arbeitgeber
darüber hinaus freiwillig mehr leistet, fällt beim Einkommensvergleich
ausser Betracht.

Sachverhalt

    A.- K. arbeitet seit 1955 auf einer Gemeindeverwaltung, von 1960
bis 1972 als stellvertretender Chef des Teilungsamtes. Wegen zunehmender
Sehschwäche wurde er 1972 von der Invalidenversicherung zum Telefonisten
umgeschult. Seit 1. September 1972 ist er in der Gemeindeverwaltung an
einer speziell eingerichteten Blindbedienungs-Telefonzentrale eingesetzt.

    Mit Verfügung vom 18. April 1973 sprach ihm die Ausgleichskasse des
Kantons Luzern mit Wirkung ab 1. September 1972 eine halbe Invalidenrente
zu. Auf Beschwerde hin stellte das Verwaltungsgericht Luzern am 24. Oktober
1973 fest, dass K. Anspruch auf eine ganze Rente habe.

    In dem Ende 1975 eingeleiteten Revisionsverfahren kam die
Invalidenversicherungs-Kommission zum Schluss, der Invaliditätsgrad sei auf
62% gesunken, worauf die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 12. August 1976
die bisherige ganze Rente ab 1. September 1976 durch eine halbe ersetzte.

    B.- Mit Urteil vom 16. August 1977 hiess das Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern die Beschwerde des Versicherten gut, hob die Kassenverfügung
vom 12. August 1976 auf und verpflichtete die Ausgleichskasse zur
Weiterausrichtung der ganzen Rente ab 1. September 1976. Das kantonale
Gericht ging - wie schon in seinem ersten Verfahren - davon aus, ohne
Invalidität hätte K. (der im Jahre 1958 das Gemeindeschreiberpatent
erworben hatte) Gemeindeschreiber von X. werden können; als solcher hätte
er im Jahre 1975 ein Erwerbseinkommen von Fr. 77'855.- erzielt. Diesem
hypothetischen Einkommen setzte es den Leistungslohn als Telefonist
gegenüber, den es für das Jahr 1976 mit Fr. 24'700.- bezifferte.
Daraus ergab sich für den massgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der
angefochtenen Verfügung ein Invaliditätsgrad von über zwei Dritteln.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt
für Sozialversicherung, es sei festzustellen, dass K. keinen Anspruch
auf eine Invalidenrente habe; eventuell sei ihm bloss eine halbe Rente
zuzusprechen. Das Bundesamt vertritt die Ansicht, ohne Invalidität wäre
K. nicht Gemeindeschreiber in X. geworden, sondern Chef des Teilungsamtes
der Gemeinde, wobei sich sein Gehalt im Jahre 1976 auf Fr. 60'392.-
belaufen hätte. Als Invalideneinkommen setzt das Bundesamt das von der
Gemeinde im Jahre 1976 effektiv ausgerichtete Gehalt von Fr. 34'592.-
ein und bestreitet, dass die Differenz zwischen diesem Betrag und dem
von der Gemeinde als Leistungslohn bezeichneten Betrag von Fr. 24'700.-
einen "Soziallohn im eigentlichen Sinne" darstelle. Aus den beiden
Vergleichseinkommen von Fr. 60'392.- und Fr. 34'592.- (beide bezogen
aufs Jahr 1976) errechnet das Bundesamt einen Invaliditätsgrad von 43%,
weshalb K. keinen Anspruch auf eine Rente habe. Würde man das Einkommen
des Gemeindeschreibers von X. heranziehen, so ergäbe sich bei einem
Invaliditätsgrad von 61% ein Anspruch auf eine halbe Rente.

    K. lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 28 Abs. 2 IVG, in analoger Weise anwendbar für
die Revision einer Rente nach Art. 41 IVG, ist für die Bemessung der
Invalidität das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der
Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen
durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage
erzielen könnte, in Beziehung zu setzen zum Erwerbseinkommen, das er
erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre. Im vorliegenden
Fall sind beide Vergleichseinkommen streitig.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdegegner arbeitet seit 1. September 1972 als Telefonist
einer Gemeindeverwaltung. Es ist unbestritten, dass er dort zweckmässig
eingegliedert ist. Er erhielt von der Gemeinde im Jahre 1975 total
Fr. 32'544.- ausbezahlt, im Jahre 1976 Fr. 34'592.-, wobei die Gemeinde
bloss ca. 70% (Fr. 24'700.- im Jahre 1976) als Leistungslohn erachtet; die
Differenz von Fr. 9'892.- (aufs Jahr 1976 bezogen) bezeichnet die Gemeinde
als "Sozial-Mehrleistung", mit der sie bezweckt, ihren langjährigen
Angestellten unter Einbezug der ganzen Invalidenrente nicht schlechter
zu stellen, als wenn er ohne Invalidität Chef des Teilungsamtes geworden
wäre und dabei Fr. 60'392.- verdient hätte.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung meint, bei der von der Gemeinde
als "Sozial-Mehrleistung" bezeichneten Differenz von Fr. 9'892.- handle
es sich nicht um einen "Soziallohn im eigentlichen Sinn"; von einem
solchen könnte nur gesprochen werden, wenn die Gemeinde ihrem Angestellten
Fr. 24'700.- pro Jahr ausbezahlen würde und der Leistungslohn wegen der
Behinderung unter diesem Betrag läge.

    Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Eine freiwillige
Sozialleistung (oft als "Soziallohn" bezeichnet) liegt vor, soweit die
Leistungen des Arbeitgebers den Wert der geleisteten Arbeit übersteigen
(Rz. 77 der Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherung über
Invalidität und Hilflosigkeit). Dabei kann es keinen Unterschied
ausmachen, ob der Invalide den Beruf, auf den er umgeschult wurde, voll
erfüllt oder nicht. Entscheidend ist, was seine Arbeitsleistung in Geld
ausgedrückt wert ist; was der Arbeitgeber darüber hinaus freiwillig mehr
leistet, fällt beim Einkommensvergleich ausser Betracht.

    Die Gemeinde schätzt den Leistungslohn des Beschwerdegegners mit
Fr. 24'700.- (1976) ein. Es fragt sich, ob die Vorinstanz zu Recht
diese Einschätzung übernommen hat. Dies ist zu bejahen. Zwar müssen
die Angaben des Arbeitgebers jeweils einer kritischen Prüfung unterzogen
werden, weil sie u.U. von eigenen Interessen beeinflusst sein können. Im
vorliegenden Fall besteht indes kein Anlass, den Angaben der Gemeinde zu
misstrauen. Sie bestätigte am 20. Juni 1977 gegenüber der Vorinstanz,
sie würde eine Telefonistin mit einem monatlichen Brutto-Anfangslohn
von Fr. 1'600.- bis Fr. 2'000.- (je nach Alter, Ausbildung und Praxis)
engagieren; die KV-Norm 1977 laute für Lehrentlassene mit zweijähriger
Lehrzeit Fr. 1'400.- bis Fr. 1'600.- im Monat. Für 1976 und 1975 ist
offenbar mit etwas tieferen Beträgen zu rechnen. Berücksichtigt man
einerseits diese Zahlen sowie den Umstand, dass der Beschwerdegegner
praktisch blind ist und eine eigens angeschaffte Spezialtelefonzentrale
benötigt, anderseits aber, dass er sich am jetzigen Arbeitsplatz seine
langjährige Erfahrung in der Gemeindeverwaltung zu Nutze machen kann,
so ist es nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz einen Leistungslohn
als Invalider von Fr. 24'700.- zugrundegelegt hat.

Erwägung 3

    3.- Zur Bestimmung des hypothetischen Einkommens ging die Vorinstanz
davon aus, ohne Invalidität wäre der Beschwerdegegner Gemeindeschreiber
von X. geworden. Hiervon war sie schon in ihrem (ersten) Urteil vom
24. Oktober 1973 ausgegangen.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung vertritt demgegenüber die
Auffassung, ohne Invalidität wäre der Beschwerdegegner mit grösster
Wahrscheinlichkeit Chef des Teilungsamtes mit einem Jahresgehalt von
Fr. 60'392.- (1976) geworden.

    Gemäss Rz. 219 der Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit darf
im Revisionsverfahren "nicht ohne zwingende Notwendigkeit von den der
ursprünglichen Invaliditätsbemessung zugrunde gelegten Kriterien abgewichen
werden". Diese Verwaltungsweisung steht im Einklang mit der Gerichtspraxis
(ZAK 1969 S. 743 sowie das nicht publizierte Urteil i.S. Agnes Gerster vom
31. März 1976). Zwischen dem Rentenentscheid vom 24. Oktober 1973 und der
angefochtenen Revisionsverfügung vom 12. August 1976 haben sich keine neuen
Fakten ergeben und es sind auch sonstwie keine Anhaltspunkte ersichtlich,
die dazu veranlassen könnten, das hypothetische Vergleichseinkommen nach
anderen Kriterien zu bestimmen, als es seinerzeit geschehen war. Nachdem
sich die Verhältnisse beim Beschwerdegegner nicht verändert haben, ist
die Anwendung der gleichen Bemessungskriterien Voraussetzung dafür,
dass überhaupt bestimmt werden kann, ob sich der Invaliditätsgrad im
Sinne von Art. 41 IVG verändert hat oder nicht.

    Falls das Bundesamt für Sozialversicherung meinen sollte, das Abstellen
auf den Lohn des Gemeindeschreibers von X. sei schon im seinerzeitigen
Rentenentscheid unzutreffend gewesen, dann könnte dieser Gesichtspunkt
als Grund für eine Rentenrevision nur dann in Betracht fallen, wenn
sich jene seinerzeitige Beurteilung als zweifellos unrichtig erweisen
würde. Davon aber kann nicht die Rede sein. Das Verwaltungsgericht
hatte am 24. Oktober 1973 einlässlich erwogen und begründet,
weshalb als Vergleichseinkommen dasjenige des Gemeindeschreibers
von X. heranzuziehen ist. Bezeichnenderweise hatte denn auch das
Bundesamt für Sozialversicherung jenen Entscheid nicht angefochten. Es
ist schliesslich auch an die Vernehmlassung zu erinnern, welche die
Invalidenversicherungs-Kommission im gegenwärtigen Verfahren am 28. Oktober
1976 der Vorinstanz erstattete: die Invalidenversicherungs-Kommission ging
dort davon aus, "dass der Versicherte ohne Invalidität mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit Gemeindeschreiber von X. wäre".

    Das vorinstanzliche Urteil vom 16. August 1977 ist somit auch in
diesem Punkt nicht zu beanstanden. Gegen den Betrag, auf welchen die
Vorinstanz das Einkommen des Gemeindeschreibers von X. errechnet hat,
erhebt das Bundesamt für Sozialversicherung keine Einwendungen. Es besteht
auch kein Anlass, von Amtes wegen darauf zurückzukommen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.