Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 64



104 V 64

13. Urteil vom 13. April 1978 i. S. W. gegen Ausgleichskasse des Kantons
Aargau und Obergericht des Kantons Aargau Regeste

    Anspruch auf Kinderrente während der Ausbildung (Art. 22ter Abs. 1
und Art. 25 Abs. 2 AHVG).

    - Zumutbarer Einsatz als Bestandteil systematischer Berufsvorbereitung
(Erw. 1-3).

    - Ausbildungscharakter eines Abendkurses. Ist dem Besucher eines
Abendkurses zuzumuten, gleichzeitig einer Erwerbstätigkeit nachzugehen,
die eine Kinderrente ausschliessen würde (Erw. 4)?

Sachverhalt

    A.- Dr. W. bezieht eine einfache AHV-Altersrente. Bis Juni 1976
erhielt er auch eine Kinderrente für den am 4. Februar 1954 geborenen
Sohn Adrian. Dieser hatte bis zum 21. April 1974 eine Drogistenlehre
absolviert. Die Kinderrente wurde Dr. W. deshalb über den Monat April
1974 hinaus gewährt, weil er erklärt hatte, dass sein Sohn keiner
Erwerbstätigkeit nachgehe und sich im zweiten Bildungsweg bei der
Akademikergemeinschaft auf die Matura vorbereite.

    Am 13. Mai 1975 teilte Dr. W. der Ausgleichskasse des Kantons Aargau
mit, sein Sohn werde am 10. Juni 1975 in einen dreimonatigen Vorkurs der
kantonalen Maturitätsschule für Erwachsene eintreten und, sofern er die
Voraussetzungen erfülle, im Herbst an dieser Schule studieren. Darauf
zahlte die Ausgleichskasse die Kinderrente weiter aus, verlangte aber von
Dr. W. am 19. September 1975 einen Ausweis über die bevorstehende Aufnahme
des in Aussicht gestellten Studiums. Es ergab sich, dass Adrian in die
Maturitätsschule nicht aufgenommen worden war, nach den Angaben seines
Vaters deshalb, weil seine Sprachkenntnisse nicht genügten. Dr. W. teilte
der Ausgleichskasse ferner mit, Adrian werde deshalb vom 17. November 1975
bis April 1976 einen Kurs bei der Alliance française in Paris besuchen.

    Vom 14. Juni 1976 hinweg folgte Adrian wiederum dem Vorkurs
(Abendschule) an der kantonalen Maturitätsschule für Erwachsene. Die
Ausgleichskasse sistierte jedoch ab Juli 1976 die Kinderrente und
machte Dr. W. mit Schreiben vom 6. Juli 1976 darauf aufmerksam, dass
der Besuch von Abendschulen nicht unter den AHV-rechtlichen Begriff
der Ausbildung falle und sie die Kinderrente für die Zeiten vom 1. Mai
1974 bis 30. November 1975 sowie vom 1. Mai bis 30. Juni 1976 unter
Umständen zurückfordern müsse. Hierauf gab Dr. W. der Ausgleichskasse
am 12./20. Juli 1976 erstmals bekannt, dass sein Sohn sich schon während
der Lehre auf die eidgenössische Matura vorbereitet habe, um nachher ein
Studium aufzunehmen. Er sei bei der Lehrabschlussprüfung durchgefallen,
habe diese ein Jahr später wiederholt und am 15. April 1975 bestanden und
somit während des Jahres 1975 zu Hause den Lehrstoff der Drogistenschule
wiederholen müssen.

    Er habe ihm mit dem Verzicht darauf, von ihm die Aufnahme einer
Erwerbstätigkeit zu fordern, die Chancen für ein akademisches Studium
erleichtern wollen, obschon der Sohn nach seiner Meinung für dessen
Bewältigung keine spezielle Eignung besitze. Auf diese Auskünfte hin
hob die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 22. Juli 1976 die Kinderrente
rückwirkend ab 30. April 1976 bzw. 30. April 1975 auf mit der Begründung,
die Ausbildung sei am 15. April 1975 (Lehrabschlussprüfung) zu Ende
gegangen. Der zuviel bezogene Rentenbetrag sei zurückzuerstatten. Die
Kasse fügte bei, für die Zeit des Auslandaufenthalts vom 1. Dezember 1975
bis 30. April 1976 habe Anspruch auf die Kinderrente bestanden.

    B.- Gegen die Verfügung vom 22. Juli 1976 reichte Dr. W. Beschwerde
ein mit dem Begehren, die Rückforderung sei aufzuheben und die Kinderrente
sei ab 30. April 1976 weiter auszurichten.

    Das Obergericht des Kantons Aargau vertrat die Auffassung, Adrian
habe sich vom 15. April 1975 bis November 1975 und ab Mitte April 1976
nicht systematisch auf die eidgenössische Matura vorbereitet; sonst
hätte er bereits im November 1975 in die Tagesschule der kantonalen
Maturitätsschule aufgenommen werden können. Zudem hätte er den Vorkurs
ohne weiteres auch neben einer gleichzeitig ausgeübten Erwerbstätigkeit
besuchen können. Unerheblich sei, dass der Beschwerdeführer seinen Sohn
nicht zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verhalten habe, sondern für ihn
aufgekommen sei. Die Rückforderung der Ausgleichskasse bestehe daher zu
Recht. Am 19. November 1976 hat die Vorinstanz die Beschwerde abgewiesen.

    C.- Dr. W. erneuert mit der gegen diesen Entscheid erhobenen
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sein vorinstanzlich gestelltes Begehren.

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung pflichten
den Darlegungen im angefochtenen Entscheid bei und beantragen die Abweisung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In tatbeständlicher Hinsicht ist zunächst folgendes festzuhalten:

    Adrian W. absolvierte bis zum 21. April 1974 die Drogistenlehre. Vom
Oktober 1971 bis Juli 1974 bezog er von der Akademikergemeinschaft 42
Monatspensen, bearbeitete aber lediglich deren vier; nach Juli 1974
bestand keinerlei Kontakt mehr zur Akademikergemeinschaft (Auskunft der
Akademikergemeinschaft gegenüber der Ausgleichskasse vom 1. Juli 1976). Vom
Juli 1974 bis November 1974 absolvierte Adrian die Rekrutenschule. Am
15. April 1975 bestand er die Lehrabschlussprüfung, und vom 10. Juni
bis 4. Oktober 1975 besuchte er erstmals den Vorkurs der kantonalen
Maturitätsschule für Erwachsene. Vom 15. November 1975 bis April 1976
weilte er zum Besuch des Französischkurses der Alliance française in Paris,
und am 14. Juni 1976 begann er zum zweiten Mal den Vorkurs der kantonalen
Maturitätsschule, den er in der Folge bestand, so dass er im Herbst 1976 in
die eigentliche Maturitätsschule (Tagesschule) aufgenommen werden konnte.

Erwägung 2

    2.- Streitig ist lediglich, ob der Beschwerdeführer für die Monate Mai
bis November 1975 sowie vom Mai 1976 hinweg Anspruch auf Kinderrente habe.

    Über das 18. Altersjahr hinaus besteht der Anspruch auf Kinderrente
zur AHV-Altersrente nur dann, wenn das Kind noch in Ausbildung begriffen
ist (Art. 22ter Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 2 AHVG). Als
in Ausbildung begriffen gelten Kinder, die während einer bestimmten
Zeit Schulen oder Kurse besuchen oder der beruflichen Ausbildung
obliegen. Unter beruflicher Ausbildung ist jede Tätigkeit zu verstehen,
welche die systematische Vorbereitung des Kindes auf eine künftige
Erwerbstätigkeit zum Ziel hat und während welcher das Kind mit Rücksicht
auf den vorherrschenden Ausbildungscharakter ein wesentlich geringeres
Erwerbseinkommen erzielt, als ein Erwerbstätiger mit abgeschlossener
Berufsbildung orts- und branchenüblich erzielen würde. Das Arbeitsentgelt
gilt dann als wesentlich geringer als dasjenige eines Vollausgebildeten,
wenn es nach Abzug der besondern Ausbildungskosten um mehr als 25%
unter dem ortsüblichen Anfangslohn für voll ausgebildete Erwerbstätige
der entsprechenden Branche liegt (BGE 102 V 163 und 210).

Erwägung 3

    3.- Wer sich in der kantonalen Maturitätsschule auf die eidgenössische
Maturitätsprüfung vorbereiten will, hat notwendigerweise einen
Vorkurs zu besuchen. Die Absolventen, die diesen Vorkurs bestehen,
können anschliessend in die eigentliche Maturitätsschule aufgenommen
werden. Der Vorkurs dient also der Prüfung, ob sich der Aufnahmebewerber
für die Maturitätsschule eignet. Deshalb bezweckt nicht nur die eigentliche
Maturitätsschule, sondern auch der Vorkurs im Sinne der Rechtsprechung die
systematische Vorbereitung auf die künftige Erwerbstätigkeit. An dieser
Zweckbestimmung vermag der Umstand, dass der Vorkurs als Abendschule
organisiert ist, nichts zu ändern. Insofern kann der Vorinstanz, die den
Besuch von Abendkursen grundsätzlich nicht als Ausbildung im Sinne des
AHVG betrachtet, nicht beigepflichtet werden.

    Eine andere Frage ist es, ob Adrian sich im Vorkurs systematisch
auf die Maturitätsschule bzw. auf einen künftigen Beruf vorbereitet,
mit andern Worten, ob er mit dem notwendigen und ihm zumutbaren Einsatz
und Willen sich im Vorkurs dieser systematischen Vorbereitung gewidmet
hat. Die Vorinstanz verneint dies deshalb, weil Adrian wegen mangelnder
Leistung nicht schon im Herbst 1975, sondern erst ein Jahr später in
die Maturitätsschule aufgenommen worden ist. Sie schliesst also aus
dem schulischen Misserfolg im November 1975 und der dadurch bedingten
Verlängerung des Studiums auf unsystematische Berufsvorbereitung.

    Gewiss genügt es für die systematische Berufsvorbereitung nicht,
dass eine Person rein formell die dafür nötigen Schulen und Praktika
absolviert. Die systematische Vorbereitung im Sinne der Rechtsprechung
verlangt darüber hinaus, dass die betreffende Person die Ausbildung mit
dem ihr objektiv zumutbaren Einsatz betreibt, um sie innert nützlicher
Frist erfolgreich hinter sich zu bringen. Benötigt sie aber eine
überdurchschnittlich lange Ausbildungszeit oder kommt es gar zu einem
Misserfolg, so darf aus diesen Umständen allein nicht geschlossen
werden, die betreffende Person habe sich in der Ausbildung zu wenig
eingesetzt. Denn Misserfolg und lange Ausbildungszeit können auch auf
mangelnder Begabung beruhen und schliessen alsdann einen hinreichenden
Einsatz in der Ausbildung nicht aus. Sie können aber Indizien für die
Einsatzbereitschaft sein, die indessen zusammen mit dem gesamten übrigen
Sachverhalt gewürdigt werden müssen.

    Es fehlen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die um ein Jahr
verspätete Aufnahme in die Maturitätsschule auf mangelnden Einsatz
des Adrian im Vorbereitungskurs 1975 zurückzuführen wäre. Nach den
glaubwürdigen Darlegungen des Beschwerdeführers hat sein Sohn deshalb
nicht schon im Herbst 1975 in die Maturitätsschule übertreten können,
weil seine Sprachkenntnisse damals nicht genügten, ein Mangel, der
durch den Französischkurs vom Frühjahr 1976 offenbar behoben wurde,
so dass die Aufnahme in die Maturitätsschule im Herbst 1976 möglich
geworden ist. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Adrian schon die
Lehrabschlussprüfung erst beim zweiten Anlauf bestanden hat und dass der
Beschwerdeführer selber die Auffassung vertrat, sein Sohn sei für das
Studium nicht besonders geeignet. Alle diese Umstände weisen eher darauf
hin, dass nicht so sehr fehlender Fleiss als vielmehr mangelnde Begabung
den verspäteten Eintritt in die Maturitätsschule verursacht hat. Darum
könnte die Kinderrente allein deshalb, weil Adrian den Vorkurs wegen
ungenügender Leistung einmal wiederholen musste, nicht verweigert werden.

Erwägung 4

    4.- Der Kinderrentenanspruch setzt nach der Rechtsprechung aber nicht
nur die systematische Vorbereitung auf die künftige Erwerbstätigkeit
voraus. Kumulativ wird verlangt, dass der Sohn oder die Tochter, für die
eine Kinderrente verlangt wird, "mit Rücksicht auf den vorherrschenden
Ausbildungscharakter" ein um mehr als 25% geringeres Arbeitsentgelt erhält,
als eine voll ausgebildete Person orts- und branchenüblich erreichen
würde. Das bedeutet, dass die Ausbildung die Ursache für den wesentlich
geringeren Verdienst sein muss.

    Der Sinn der Abendschulen besteht in erster Linie darin, Erwerbstätigen
Gelegenheit zu geben, sich ohne oder mindestens ohne vollständige Aufgabe
ihrer Tätigkeit beruflich zu bilden. Für eine Person, die - wie Adrian -
überhaupt noch nie erwerbstätig gewesen ist, stellt sich angesichts der
oben dargelegten Rechtsprechung zum Kinderrentenanspruch die Frage,
ob ihr zugemutet werden muss, während der Dauer der Abendschule eine
Tätigkeit aufzunehmen, die ihr erlauben würde, ein rentenausschliessendes
Erwerbseinkommen zu erzielen. Alsdann wäre nämlich klargestellt,
dass die Zeit der Abendkurse trotz deren Ausbildungscharakter nicht als
Ausbildungszeit im Sinne der Rechtsprechung gelten könnte. So weit geht
im vorliegenden Fall sogar die Ausgleichskasse nicht. Diese mutet Adrian
lediglich die Aufnahme einer Halbtagsbeschäftigung zu, wie ihrem Schreiben
vom 6. Juli 1976 an den Beschwerdeführer und ihrer vorinstanzlichen
Beschwerdeantwort zu entnehmen ist. Dabei übersieht sie aber, dass Adrian
bei Aufnahme einer halbtägigen Erwerbstätigkeit aller Wahrscheinlichkeit
nach keinen rentenausschliessenden Verdienst erzielen würde. Indessen kann
die Frage nach der Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit im vorliegenden
Fall aus den nachstehenden Überlegungen offen bleiben.

    In dem in ZAK 1967 S. 550 publizierten Urteil hat das Eidg.
Versicherungsgericht die Ausbildung als nicht rechtserheblich unterbrochen
erachtet, weil zwischen Matura und Hochschulstudium volle zwei Semester
lagen, während denen der Sohn teils obligatorischen Militärdienst leistete,
teils deshalb zwischen zwei Militärdiensten die Hochschule nicht besuchte,
weil der Militärdienst ihm den Besuch während des ganzen Semesters
ohnehin nicht erlaubt hätte. Dabei liess das Gericht dahingestellt, ob
in der Zwischenzeit möglicherweise eine bescheidene Erwerbstätigkeit
ausgeübt worden ist. In analoger Weise rechtfertigt es sich heute,
die relativ kurze Zeitspanne zwischen der Lehrabschlussprüfung im April
1975 und dem Beginn des Französischkurses bei der Alliance française im
November 1975, der von Verwaltung und Vorinstanz als Ausbildung im Sinne
der Rechtsprechung anerkannt wird, nicht als erheblichen Unterbruch der
Ausbildung zu betrachten. Dasselbe gilt für die Zeit nach Beendigung des
Französischkurses im April 1976, da feststeht, dass Adrian im Herbst 1976
nach bestandenem Vorkurs in die eigentliche Maturitätsschule aufgenommen
worden ist.

    Der Anspruch auf Kinderrente bestand somit auch während der Monate
Mai bis November 1975 und wiederum ab Mai 1976, weshalb die am 22. Juli
1976 verfügte Rentenaufhebung und Rentenrückforderung aufzuheben sind.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Obergerichts des Kantons Aargau vom 19. November 1976 sowie die
Kassenverfügung vom 22. Juli 1976 aufgehoben.