Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 209



104 V 209

52. Auszug aus dem Urteil vom 4. Dezember 1978 i.S. Stähli gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des
Kantons Bern Regeste

    Art. 71 und 121 Abs. 1 KUVG, Art. 12 und 13 VwVG.

    - Umfang der Pflicht zur Beweisabnahme.

    - Bedeutung der von der SUVA während des Administrativverfahrens
eingeholten Gutachten für den Sozialversicherungsprozess.

Sachverhalt

    A.- Walter Stähli ... wurde am 2. März 1975 bei einer Frontalkollision
auf der Hauptstrasse Lausanne-Bern in Faoug VD verletzt ...

    Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), bei der Walter
Stähli auch für Nichtbetriebsunfall versichert war, erbrachte die vollen
gesetzlichen Leistungen. Mit dem Hinweis, dass unfallfremde, vorbestehende
Faktoren vorliegen, kürzte die SUVA ihre Geldleistungen mit Ausnahme der
Heilungskosten in ihrer Verfügung vom 4. Mai 1976 im Sinne von Art. 91
KUVG um 50% rückwirkend auf den 5. Februar 1976. Am 15. Juni 1976 verfügte
sie die Einstellung der Versicherungsleistungen auf den 14. Mai 1976,
weil keine Unfallfolgen mehr feststellbar seien.

    B.- Gegen diese Verfügungen liess Walter Stähli beim
Versicherungsgericht des Kantons Bern Beschwerde einreichen
und beantragen, die SUVA habe ihm die gesetzlichen Leistungen
(Heilungskosten, Krankengeld, Invalidenrente) zu erbringen. Er leide
nach wie vor an unfallbedingten Beschwerden und sei nicht mehr in der
Lage, normal seiner Erwerbstätigkeit nachzugehen. Weil die bei den
Akten liegenden Arztberichte sich widersprächen, sei Dr. med. B. als
Zeuge einzuvernehmen und eine chirurgisch-neurologische Fachexpertise
einzuholen. Mit Zwischenverfügung vom 15. Juni 1977 wies der Präsident
der I. Kammer des Versicherungsgerichts die Beweisanträge ab. - In seinem
Entscheid vom 22. November 1977 führte das Versicherungsgericht aus, die
Berichte des Dr. med. H. seien schlüssig und stimmten mit der Beurteilung
des Kreisarztes der SUVA überein. Ein Widerspruch mit der Auffassung des
Hausarztes Dr. S. bestehe nicht, weil Dr. S. seinen Patienten selber
an den Spezialisten Dr. H. zur Begutachtung überwiesen habe und sich
sein objektiver Befund auf eine Nackensperre beschränkt habe, die von
Dr. H. manuell gelöst worden sei. Bei Würdigung aller Umstände habe die
SUVA ihre Leistungen zu Recht gekürzt und dann eingestellt, so dass die
Beschwerde abzuweisen sei.

    C.- Walter Stähli lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und sein
erstinstanzliches Rechtsbegehren erneuern. Durch die Nichtabnahme der
beantragten Beweise habe die Vorinstanz Recht verweigert. Dr. med. H. sei
als behandelnder Arzt befangen, seine Berichte über den Erfolg eigener
Massnahmen seien zum Beweis untauglich. Im Gegensatz zu Dr. H. erkläre
Dr. B., der Walter Stähli seit Mai 1976 behandle, dass es sich bei
den Veränderungen an der Halswirbelsäule um typische Spätfolgen von
Schleuderverletzungen handle. Nur ein gerichtliches Gutachten könne diesen
Widerspruch beseitigen.

    Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz Rechtsverweigerung vor,
weil sie die von ihm beantragten Beweise, d.h. die Zeugeneinvernahme des
Dr. med. B. sowie die Einholung eines Obergutachtens, nicht abgenommen
habe.

    a) Der aus Art. 4 BV fliessende Anspruch auf rechtliches Gehör
umfasst auch die Pflicht zur Beweisabnahme. Beweise sind im Rahmen
dieses verfassungsmässigen Anspruchs indessen nur über jene Tatsachen
abzunehmen, die für die Entscheidung der Streitsache erheblich sind. Auf
ein beantragtes Beweismittel kann verzichtet werden, wenn der Sachverhalt,
den eine Partei beweisen will, nicht rechtserheblich ist, wenn bereits
Feststehendes bewiesen werden soll, wenn von vorneherein gewiss ist,
dass der angebotene Beweis keine Abklärungen herbeizuführen vermag, oder
wenn die Behörde den Sachverhalt gestützt auf ihre eigene Sachkenntnis
bzw. jene ihrer fachkundigen Beamten zu würdigen vermag (IMBODEN/RHINOW,
Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Band 1, Nr. 82 B IV, S. 509 ff.; nicht
veröffentlichtes Urteil Siegrist vom 5. Juni 1978). An diesem Grundsatz
hat sich die Auslegung der entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen über
die Beweisabnahme im Einzelfall zu orientieren.

    b) Gemäss Art. 121 Abs. 1 KUVG haben die Kantone für die Erledigung
von SUVA-Streitigkeiten einen möglichst einfachen und raschen Prozessweg
vorzusehen und dafür zu sorgen, dass einer bedürftigen Partei auf ihr
Verlangen die unentgeltliche Rechtspflege gewährt wird. In diesem Rahmen
richtet sich das Verfahren vor den kantonalen Versicherungsgerichten
nach kantonalem Recht. Bei der Anwendung des kantonalen Prozessrechts ist
aber den bundesrechtlichen Vorschriften und den allgemeinen Grundsätzen
des Sozialversicherungsprozesses Rechnung zu tragen. Neben den unter
lit. a dargelegten Regeln muss der erstinstanzliche Richter insbesondere
die Untersuchungsmaxime beachten (GYGI, Verwaltungsrechtspflege und
Verwaltungsverfahren im Bund, 2. Aufl., S. 61). Die Untersuchungsmaxime
verlangt, dass der Sozialversicherungsrichter - unter Vorbehalt
der Mitwirkungspflicht der Parteien (vgl. dazu: BGE 97 V 173, nicht
veröffentlichte Urteile Robyr vom 31. März 1977 sowie Stöckli vom 18. Mai
1973) - den Sachverhalt von Amtes wegen, also aus eigener Initiative,
feststellt. Er hat nach Recht und Billigkeit zu bestimmen, was alles
abzuklären ist; er muss für die Beschaffung der notwendigen Beweise sorgen
und hernach das Ergebnis des Beweisverfahrens pflichtgemäss würdigen
(BGE 96 V 95, 100 V 62 Erw. 4).

    c) Nach ständiger Rechtsprechung handelt die SUVA nicht als Partei,
solange sie in einem konkreten Fall noch nicht Prozesspartei ist,
sondern als dem Gesetzesvollzug dienendes Verwaltungsorgan (nicht
veröffentlichte Urteile Zwahlen vom 24. Mai 1976 und Hartmann vom 10. Mai
1963). Als autonome eidgenössische Anstalt im Sinne von Art. 1 Abs. 2
lit. c VwVG hat sie den Sachverhalt nach Massgabe der Art. 12 ff. VwVG
und Art. 71 KUVG festzustellen. Aus diesem Grunde darf die SUVA im
Interesse einer objektiven Schadenserledigung nötigenfalls nicht davon
absehen, im Administrativverfahren auch Gutachten anstaltsfremder Ärzte
einzuholen. Werden solche Expertisen der Anstalt vor ihrem Entscheid
über den fraglichen Leistungsanspruch durch anerkannte Spezialärzte auf
Grund eingehender Beobachtungen und Untersuchungen sowie nach Einsicht
in die Akten erstattet und gelangen diese Ärzte bei der Erörterung der
Befunde zu schlüssigen Ergebnissen, so darf auch der Richter in seiner
Beweiswürdigung solchen Gutachten volle Beweiskraft zuerkennen, solange
nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen
(nicht veröffentlichte Urteile Zwahlen vom 24. Mai 1976 und Del Zoppo vom
24. März 1970; MAURER, Recht und Praxis der Schweizerischen obligatorischen
Unfallversicherung, 2. Aufl., S. 178 Fussnote 32). Die Tatsache allein,
dass ein von der Anstalt beigezogener Spezialarzt auch an der Behandlung
des Versicherten mitgewirkt hat, bildet an sich noch kein Indiz für die
Unglaubwürdigkeit eines Gutachtens.

    d) Im Lichte dieser Grundsätze kann von einer Rechtsverweigerung
der Vorinstanz keine Rede sein; es ist nicht zu beanstanden, dass
sie ihre Beurteilung auf die Arztberichte des Dr. H. stützte. Dr. H.,
dessen Qualifikation und Kompetenz nicht bestritten werden, hat den
Beschwerdeführer schon im Jahre 1959 begutachtet und im Zusammenhang
mit dem Unfall vom März 1975 mehrmals untersucht. Für seine Beurteilung
standen ihm Berichte des Röntgeninstituts des Prof. Dr. Z. vom Dezember
1959, des Röntgeninstituts Dr. R. vom 14. Mai 1975, der Bäderheilstätte
"zum Schiff" vom 1. August 1975, des Neurologen Dr. E. vom 22. August
1975, des Dr. S. vom 12. Juni, 17. Juni, 19. August, 26. September
und 3. Dezember 1975 sowie die gesamten SUVA-Akten zur Verfügung. Der
Vorinstanz durften die Berichte des Dr. H. umso eher schlüssig erscheinen,
als der Kreisarzt der SUVA auf Grund einer eigenen Untersuchung im
einlässlichen, zusammenfassenden Bericht vom 14. Mai 1976 zum gleichen
Ergebnis gelangte. Bei dieser Beweislage handelte die Vorinstanz im Rahmen
ihres pflichtgemässen Ermessens, wenn sie die Notwendigkeit weiterer
Beweismassnahmen verneinte.