Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 193



104 V 193

48. Urteil vom 9. November 1978 i.S. S. gegen Ausgleichskasse des
Kantons St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Kinderrenten für Pflegekinder (Art. 49 AHVV). Bei der Frage, ob ein
Pflegeverhältnis unentgeltlich sei, sind die tatsächlich realisierbaren
Unterhaltsbeiträge zu berücksichtigen.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 10. September 1975 wurde Eugen S. eine ab
1. März 1975 laufende ganze einfache Invalidenrente samt Zusatzrente
für seine Ehefrau zugesprochen. Weil der Versicherte in der Anmeldung
zum Leistungsbezug Mario S. (geb. 25. Juli 1960) als eheliches Kind
bezeichnet hatte, wurde auch eine Kinderrente ausgerichtet. Nachdem die
Ehefrau des Versicherten am 30. März 1976 das 60. Altersjahr vollendet
hatte, sprach ihm die Ausgleichskasse mit Wirkung ab 1. März 1976 eine
Ehepaar-Invalidenrente sowie eine Doppel-Kinderrente zu (Verfügung vom
21. Mai 1976).

    Anlässlich der Anmeldung zum Bezuge der die Invalidenrente
ablösenden Altersrente stellte die Ausgleichskasse fest, dass es sich
bei Mario S. nicht um ein eheliches Kind des Versicherten, sondern
um ein aussereheliches Kind seiner Tochter handelt, welches seit der
Geburt in seinem Haushalt lebt. Mit Verfügung vom 9. Juni 1976 teilte
die Ausgleichskasse Eugen S. mit, er könne keine Kinderrente der AHV
beanspruchen, weil das Pflegeverhältnis wegen Unterhaltsleistungen der
leiblichen Mutter und des Kindsvaters nicht unentgeltlich sei. Ebensowenig
habe aber ein Anspruch auf eine Kinderrente der Invalidenversicherung
bestanden, weshalb die von Mai 1975 bis Mai 1976 zu Unrecht ausgerichteten
Kinderrenten im Betrage von Fr. 5'214.- zurückzubezahlen seien.

    B.- Beschwerdeweise beantragte die Amtsvormundschaft, in Aufhebung der
Verfügung vom 9. Juni 1976 sei die Kinderrente der AHV auszurichten und
die Rückforderung von Fr. 5'214.- als gegenstandslos zu erklären; sollte
die Beschwerde abgewiesen werden, so sei die Eingabe als Erlassgesuch
zu behandeln. Es wurde im wesentlichen geltend gemacht, das Mündel Mario
S. habe sich seit seiner Geburt praktisch ununterbrochen im Haushalt seiner
Grosseltern aufgehalten, nachdem seine Mutter nie in der Lage gewesen
sei, ihm Pflege und Erziehung angedeihen zu lassen. Der Kindsvater sei
verpflichtet worden, an den Unterhalt von Mario S. bis zum 6. Lebensjahr
Fr. 90.- monatlich, vom 7. bis 13. Lebensjahr Fr. 120.- und vom 14. bis
18. Jahr Fr. 140.- zu bezahlen. Trotz Strafklage wegen Vernachlässigung
von Unterstützungspflichten und Betreibungen hätten die Unterhaltsbeiträge
kaum eingebracht werden können; die letzte Zahlung im Betrage von Fr. 78.50
sei am 2. Oktober 1974 erfolgt. Auch die Mutter habe zwangsmässig an die
Unterstützungspflicht gebunden werden müssen; sie habe sich verpflichtet,
monatlich Fr. 120.- bis zum 9. Altersjahr ihres Sohnes und anschliessend
Fr. 150.- bis zu dessen Eintritt ins Erwerbsleben zu leisten. Seither
seien im Durchschnitt Fr. 100.- im Monat eingegangen, wovon noch die
Kostenvorschüsse für die Betreibungen gegenüber dem Kindsvater hätten
abgezogen werden müssen. Da dieser Betrag weniger als einen Viertel der
Unterhaltskosten ausmache, sei nach der Rechtsprechung Unentgeltlichkeit
des Pflegeverhältnisses anzunehmen, weshalb die Kinderrente geschuldet sei.

    Die Ausgleichskasse führte in ihrer Vernehmlassung aus, dass sie
mangels Richtlinien zur Berechnung des Unterhaltsbedarfs von Pflegekindern
bis zu 16 Jahren ermessensweise von einem Notbedarf von Fr. 12.- im Tage
ausgehe. Somit würden die von der Mutter erbrachten monatlichen Beiträge
mehr als einen Viertel betragen, weshalb das Pflegeverhältnis nicht als
unentgeltlich bezeichnet werden könne.

    Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen stellte fest, dass
Mario S. von seinen Grosseltern lange vor dem Eintritt der Invalidität von
Eugen S. zu dauernder Pflege und Erziehung aufgenommen worden sei. Die
Verwaltung habe im Rahmen des ihr zustehenden Ermessensspielraums
gehandelt, wenn sie die monatlichen Pflegekosten auf Fr. 365.- geschätzt
habe. Die erhaltenen Beiträge von durchschnittlich Fr. 100.- im Monat lägen
demnach über der von der Rechtsprechung festgelegten Toleranzgrenze von
25%. Durch Entscheid vom 1. April 1977 wies das Versicherungsgericht daher
die Beschwerde ab und überwies die Akten zur Prüfung des Erlassgesuchs
an die Ausgleichskasse.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt die
Amtsvormundschaft die Anträge, in Aufhebung des kantonalen Urteils
sei das Pflegeverhältnis als unentgeltlich anzuerkennen und daher die
Rückzahlungspflicht zu verneinen; eventuell sei der Anspruch auf eine
einfache Kinderrente bzw. eine Doppel-Kinderrente vom 1. März 1975 bis
31. März 1976 (Beginn der Lehre von Mario S.) zu bejahen und die darüber
hinaus geleisteten Zahlungen seien zu erstatten.

    Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 35 Abs. 1 IVG und Art. 22ter Abs. 1, 1.  Satz,
AHVG haben Rentenberechtigte für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine
Waisenrente beziehen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente. Dies gilt
insbesondere für Adoptivkinder bis zur Vollendung des 18. Altersjahres,
längstens aber bis zur Vollendung des 25. Altersjahres, wenn die
Kinder noch in Ausbildung begriffen sind (Art. 28 Abs. 1 und Art. 25
Abs. 2 AHVG). Laut Art. 28 Abs. 3 AHVG ist der Bundesrat unter
bestimmten Voraussetzungen befugt, die Pflegekinder den Adoptivkindern
gleichzustellen. Der Bundesrat hat von dieser Befugnis in Art. 49 Abs. 1
AHVV Gebrauch gemacht, dessen erster Satz wie folgt lautet:

    "Pflegekinder haben beim Tode der Pflegeeltern Anspruch auf eine

    Waisenrente, wenn sie unentgeltlich zu dauernder Pflege und Erziehung
   aufgenommen worden sind."

    b) Laut ständiger Rechtsprechung sind die Voraussetzungen der
Unentgeltlichkeit der Pflege und Erziehung eines Pflegekindes erfüllt,
wenn die von Dritten geleisteten Unterhaltsbeiträge nicht mehr als einen
Viertel der tatsächlichen Unterhaltskosten ausmachen (BGE 103 V 57 Erw. 1b
mit Hinweisen). In diesem Urteil hat das Eidg. Versicherungsgericht
zudem eine neue, einheitliche Methode zur Bemessung des Unterhaltsbedarfs
von Kindern eingeführt und stützt sich auf die von HANS WINZELER in
Zusammenarbeit mit dem Jugendamt des Kantons Zürich ermittelten und um
einen Viertel reduzierten Ansätze (BGE 103 V 57 Erw. 1b; HANS WINZELER,
Die Bemessung der Unterhaltsbeiträge für Kinder, Diss. Zürich 1974;
vgl. dazu auch ZAK 1978 S. 295 ff.). Massgebend zur Bestimmung des
Unterhaltsbedarfs ist grundsätzlich der Zeitpunkt des Eintritts des
Versicherungsfalles, wobei aber die voraussichtliche Entwicklung auf
lange Sicht mit zu berücksichtigen ist (BGE 103 V 58 Erw. 1c).

Erwägung 2

    2.- a) Im vorliegenden Fall ist streitig, ob das zwischen Mario
S. und seinen Grosseltern bestehende Pflegeverhältnis unentgeltlich
sei. Verwaltung und Vorinstanz sind davon ausgegangen, dass bei
der entsprechenden Berechnung auf den bisher von der Mutter von Mario
S. tatsächlich erhältlich gemachten Beitrag von durchschnittlich Fr. 100.-
im Monat abzustellen sei und nicht auf die von ihr und vom Kindsvater
geschuldeten Unterhaltsbeiträge, welche im Zeitpunkt des Beginns der
Invalidenrente von Eugen S. zusammen Fr. 290.- ausmachten. Es fragt sich
mithin, ob die effektiv geleisteten bzw. tatsächlich realisierbaren
oder die mit Dritten vereinbarten bzw. richterlich festgesetzten
Unterhaltsbeiträge in Rechnung zu stellen sind.

    Auf Grund eines Beschlusses des Gesamtgerichts sind der Frage
nach der Unentgeltlichkeit des Pflegeverhältnisses die effektiv
geleisteten Unterhaltsbeiträge zugrunde zu legen. Insoweit ein
höherer Unterhaltsbeitrag geschuldet ist, muss feststehen, dass der
nicht bezahlte Teil des Beitrages objektiv nicht einbringlich ist. Die
rechtlich geschuldeten Beiträge sind nur insoweit zu berücksichtigen,
als die begründete Annahme besteht, dass sie in Zukunft tatsächlich
bezahlt bzw. nachbezahlt werden.

    b) Mario S. war im Zeitpunkt der Entstehung der Invalidenrente seines
Grossvaters (1. März 1975) knapp 15jährig. Gemäss den in Erw. 1 erwähnten,
auf den vorliegenden Fall anwendbaren Empfehlungen des Jugendamtes des
Kantons Zürich belief sich der Unterhaltsbedarf eines 13- bis 16jährigen
Einzelkindes damals auf Fr. 710.- (Landesindex der Konsumentenpreise,
Stand Dezember 1975). Nach Herabsetzung um einen Viertel ergibt sich
ein massgebender Ansatz von Fr. 533.- (vgl. ZAK 1978 S. 297). Laut den
Angaben der Amtsvormundschaft konnte vom Kindsvater trotz Strafklage wegen
Vernachlässigung von Unterstützungspflichten und Betreibungen letztmals
am 2. Oktober 1974 Fr. 78.50 erhältlich gemacht werden; und von der
Mutter seien im Durchschnitt Fr. 100.- monatlich eingegangen.

    Würde auf diese Angaben abgestellt, so würden die für Mario
S. geleisteten Unterhaltsbeiträge weniger als einen Viertel seines
Unterhaltsbedarfes ausmachen, weshalb das Pflegeverhältnis als
unentgeltlich angesehen werden müsste und die entsprechenden Kinderrenten
nicht zu Unrecht ausgerichtet worden wären. Indessen haben Verwaltung
und Vorinstanz die Angaben der Amtsvormundschaft über die eingegangenen
Unterhaltsbeiträge nicht überprüft. Zudem kann auf Grund der Akten
die Frage nicht beantwortet werden, ob die begründete Aussicht besteht,
dass in Zukunft trotz Ausnützung sämtlicher rechtlicher Möglichkeiten
weder vom Kindsvater noch von der Mutter des Mario S. die geschuldeten
Beiträge von zusammen Fr. 290.- monatlich erhältlich gemacht werden
könnten. Die Ausgleichskasse, an welche die Sache zurückgewiesen wird,
hat diese Abklärungen vorzunehmen und gestützt darauf über den Anspruch
auf die Kinderrente sowohl der Invalidenversicherung als auch der AHV
bzw. über eine eventuelle Rückforderung neu zu verfügen. Sie wird dabei
zu beachten haben, dass entgegen der angefochtenen Verfügung vom 9. Juni
1976 eine allfällige Rückforderung auch die Monate März und April 1975
zu umfassen hätte.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen,
dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom
1. April 1977 sowie die angefochtene Kassenverfügung vom 9. Juni 1976
aufgehoben werden. Die Sache wird an die Ausgleichskasse des Kantons
St. Gallen zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.