Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 162



104 V 162

39. Auszug aus dem Urteil vom 5. September 1978 i.S. P. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des
Kantons Bern Regeste

    Art. 5 Abs. 1 VwVG. Rechtliche Bedeutung einer
vergleichsweisen Vereinbarung zwischen einem Versicherten und einem
Sozialversicherungsträger. Erforderlichkeit einer formellen Verfügung
(Erw. 1).

    Art. 107 Abs. 3 OG und 38 VwVG. Ein mit mangelhafter
Rechtsmittelbelehrung versehener Verwaltungsakt kann nur innerhalb einer
vernünftigen Frist an den Richter weitergezogen werden. Ebenso kann der
Rechtsuchende nur innerhalb vernünftiger Frist von der Verwaltung eine
beschwerdefähige Verfügung über einen öffentlich-rechtlichen Anspruch
verlangen (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- P. sprang am 24. März 1969 aus dem Fenster seiner im zweiten Stock
eines Mietshauses gelegenen Wohnung. Er zog sich dabei eine doppelseitige
Calcaneus-Trümmerfraktur zu. Im Bezirksspital, wo er zuerst behandelt
wurde, stellte man fest, dass er chronischer Äthyliker war. Nach Verordnung
einer Antabuskur wurde er am 29. März 1969 in eine psychiatrische Klinik
verlegt. Der dortige Oberarzt stellte folgende Diagnose:

    "Alkoholhalluzinose bei chronischem Alkoholismus und haltloser

    Psychopathie. Der Unfall ist auf diese Alkoholhalluzinose
zurückzuführen."

    Auf Grund dieser Feststellung legte die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) dem Versicherten folgenden
Vergleichsentwurf vor:

    "1. Herr P. und die Fürsorgekommission A. sind über die Gründe,
   die im Nichtbetriebsunfall vom 24. März 1969 zu diesem Vergleich
   geführt haben, eingehend orientiert worden.

    2. Die Anstalt erklärt sich demnach vergleichsweise zu folgenden

    Leistungen bereit:

    2.1. Sie übernimmt die Heilungskosten (einschliesslich den Aufenthalt
   in der Psychiatrischen Klinik).

    2.2. Sie gewährt die halben Geldleistungen (Krankengeld und allfällige

    Invalidenrente).

    3. Damit sind die Parteien auseinandergesetzt. Herr P. verzichtet auf
   weitergehende Leistungen."
Der Vergleich wurde mit dem Datum des 30. Oktober 1969 versehen und
von P. im Bezirksspital unterzeichnet. Am 7. November 1969 wurde der
Versicherte wegen eines akuten schizophrenen Schubes wieder in die
psychiatrische Klinik eingeliefert.

    Mit Schreiben vom 30. August 1971 stellte die SUVA die Leistungen
für Heilungskosten und Krankengeld ein. In einer zweiten Verfügung vom
27. Oktober 1971 gewährte sie dem Versicherten ab 1. September 1971 eine
Rente wegen 50prozentiger Erwerbsunfähigkeit. Auf Grund des Vergleiches vom
30. Oktober 1969 wurde die Leistung um die Hälfte gekürzt und betrug damit
noch Fr. 255.- monatlich. Die Verfügungen waren dem damaligen Vormund des
Versicherten, Fürsorger K., zugestellt worden und blieben unangefochten.

    Am 26. November 1973 übernahm ein Bruder des Versicherten
dessen Vormundschaft. Ihm stellte die SUVA am 4. Februar 1974 eine
Revisionsverfügung zu, womit die Rente wegen Verminderung der Invalidität
auf Fr. 153.- herabgesetzt wurde. Dies entspricht einer Erwerbsunfähigkeit
von 30%. Der neue Vormund ging mit dieser Verfügung nicht einig und
verlangte mit Schreiben vom 18. Februar 1974 deren Wiedererwägung. In einem
weiteren Schreiben nahm er Stellung zum Vergleich vom 30. Oktober 1969. Er
bezeichnete diesen als rechtsmissbräuchlich und verlangte dessen Aufhebung
oder eine beschwerdefähige Verfügung zu diesem Gegenstand. Letztere erliess
die SUVA am 29. Mai 1974. Dabei hielt sie dem Sinne nach vollumfänglich
sowohl am seinerzeitigen Vergleich als auch an der Rentenrevision fest.

    B.- In der Folge reichte der Vormund für sein Mündel beim
Versicherungsgericht des Kantons Bern zwei "Klagen" ein, die sich gegen
den Revisionsentscheid der SUVA vom 4. Februar 1974 und gegen den Vergleich
vom 30. Oktober 1969 richteten.

    Das Versicherungsgericht betrachtete die Beschwerde als gegen die
Verfügungen vom 4. Februar 1974 und 29. Mai 1974 gerichtet und wies sie
mit Entscheid vom 18. Dezember 1975 ab.

    C.- Der Versicherte lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben und die
Ausrichtung der ungekürzten gesetzlichen Leistungen sowie die Aufhebung
der Revisionsverfügung vom 4. Februar 1974 beantragen. Es gehe nicht
an, die Verfügung vom 27. Oktober 1971 als Bestätigung des Vergleiches
anzusehen. Diese stelle nur eine Rentenverfügung dar, der die Kürzung
zwar zugrunde gelegt werde, worin diese aber nicht begründet werde. Da
die Verfügung vom 29. Mai 1974 fristgerecht angefochten worden sei,
müsse auch der Bestand der Kürzungsverfügung materiell überprüft werden.

    Die SUVA beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Im Mittelpunkt des Prozesses steht die Frage der Anfechtbarkeit
des am 30. Oktober 1969 abgeschlossenen Vergleichs. Am 6. Mai 1974 hat der
Vormund des Versicherten verlangt, dass jener Vergleich aufgehoben oder
durch eine "klagefähige" Verfügung ersetzt werde. Die SUVA weigerte sich
aber am 29. Mai 1974 verfügungsmässig, auf den Vergleich zurückzukommen.

    In EVGE 1969 S. 21 hat das Gericht erklärt, dass die
Verwaltungsorgane, welche das Sozialversicherungsrecht des Bundes
anwenden, die öffentlich-rechtliche Kompetenz haben, "über die Rechte
und Pflichten zu verfügen". Zwar sei es ihnen nicht verwehrt, im Rahmen
des Legalitätsprinzips sich im Einzelfall mit den Versicherten zu
verständigen. Es sei aber erforderlich, dass die Verwaltung die aus der
Verständigung resultierende Vereinbarung in Verfügungsform bestätige, so
dass der Versicherte die notwendige Bedenkzeit erhalte. Nach Ablauf der
Beschwerdefrist wisse die Verwaltung, ob es bei der getroffenen Lösung
bleibe oder ob der Richter darüber zu befinden habe.

    Diese Argumentation bedarf in zweifacher Hinsicht der
Präzisierung. Eine Verfügung lässt sich nicht durch einen Vergleich
ersetzen. Durch einen von einem Verwaltungsorgan abgeschlossenen Vergleich
werden lediglich übereinstimmende Parteimeinungen festgestellt. Entschieden
werden muss durch Verfügung. Der Entscheid durch Verfügung hat losgelöst
vom Vergleich zu erfolgen. Die Verfügung ist nicht blosse Bestätigung
des Vergleichs in der für Verfügungen vorgeschriebenen Form, sondern
ein eigenständiger Verwaltungsakt, mit dem über öffentlich-rechtliche,
der Privatwillkür und damit der Parteivereinbarung entzogene Ansprüche
entschieden wird. Will also die Verwaltung solche Rechte oder Pflichten
von Versicherten in verbindlicher Weise festhalten, so hat sie dies in
Form einer Verfügung zu tun. Somit ist die auf einen Vergleich folgende
Verfügung nicht bloss zum prozessualen Schutz des Versicherten notwendig,
wie aus dem zitierten Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts geschlossen
werden könnte.

Erwägung 2

    2.- Die SUVA ist der Auffassung, am 27. Oktober 1971 habe sie den
Vergleich vom 30. Oktober 1969 in Verfügungsform bestätigt. Demgegenüber
macht der Beschwerdeführer geltend, dass diese Verfügung den
Formerfordernissen des Art. 35 Abs. 1 VwVG nicht genüge. Nach dieser
Vorschrift müsse die Verfügung begründet werden. Dies sei bei der
Verfügung vom 27. Oktober 1971 nur in bezug auf die Zusprechung der
Rente geschehen; deren Kürzung sei aber nicht begründet worden. Somit
entfalte sie auch keine Rechtswirkungen. Dieser Auffassung kann nicht
beigepflichtet werden. Die Kürzung der Rente in der Verfügung vom 27.
Oktober 1971 erfolgte "gemäss Vergleich vom 30. Oktober 1969". Da der
Vergleich das Ergebnis eines beidseitigen Entgegenkommens war, liessen
sich die Beweggründe hierfür kaum in einer Verfügung einzeln aufführen. Der
Hinweis auf den Vergleich genügte, da dieser und die Gründe, die zu seinem
Abschluss geführt hatten, dem Beschwerdeführer und seinem damaligen Vormund
hinreichend bekannt waren. Im übrigen schreibt Art. 35 Abs. 1 VwVG nicht
vor, was die Begründung zu enthalten hat. Es genügt, die Grundlage der
Verfügung anzugeben. Dies war im vorliegenden Fall der Vergleich vom
30. Oktober 1969. Daraus ergibt sich, dass die Verfügung vom 27. Oktober
1971 formell nicht zu beanstanden ist und auch hinsichtlich der Eröffnung
den Anforderungen des Art. 35 VwVG genügt.

    Richtig ist allerdings, dass diese Verfügung nur die Rentenfestsetzung
sowie die Rentenkürzung und nicht auch das ebenfalls im Vergleich
erwähnte Krankengeld betraf. Bezüglich der Rente ist sie aber seinerzeit
unangefochten geblieben und daher in Rechtskraft erwachsen.

Erwägung 3

    3.- Bezüglich der Krankengeldansprüche des Beschwerdeführers ist
folgendes zu beachten:

    Diese Ansprüche bildeten - wie gesagt - ebenfalls Gegenstand des
Vergleichs vom 30. Oktober 1969, doch wurden sie nicht in Verfügungsform
festgehalten. Am 6. Mai 1974 verlangte dann allerdings der neu ernannte
Vormund des Versicherten eine entsprechende beschwerdefähige Verfügung
oder aber die Aufhebung des Vergleichs, worauf die SUVA am 29. Mai 1974
verfügte, dass sie auf den Vergleich nicht zurückkomme. Damit stellt
sich die Frage, ob die SUVA im Jahre 1974 verpflichtet gewesen wäre, die
verlangte Verfügung über den Krankengeldanspruch noch zu erlassen, um damit
dem Vormund die Möglichkeit zu geben, sie gemäss Art. 9 Abs. 1 lit. a Vo
II über die Unfallversicherung innerhalb von 6 Monaten beschwerdeweise
anzufechten. Diese Frage ist zu verneinen, wie nachstehend darzutun
sein wird.

    Art. 107 Abs. 3 OG und Art. 38 VwVG schreiben vor, dass den Parteien
aus mangelhafter Eröffnung einer Verfügung kein Nachteil erwachsen
darf. Daraus hat das Eidg. Versicherungsgericht geschlossen, dass nicht
jede mangelhafte Eröffnung, insbesondere auch nicht die Eröffnung
ohne Rechtsmittelbelehrung oder mit falscher Rechtsmittelbelehrung,
schlechthin nichtig ist mit der Konsequenz, dass die Rechtsmittelfrist
nicht zu laufen beginnen könnte. Vielmehr sei dem beabsichtigten
Rechtsschutz schon dann Genüge getan, wenn eine objektiv mangelhafte
Eröffnung trotz ihres Mangels ihren Zweck erreiche. Somit müsse nach den
konkreten Umständen des Einzelfalles geprüft werden, ob die betroffene
Partei durch den gerügten Eröffnungsmangel tatsächlich irregeführt und
dadurch benachteiligt worden sei. Das Gericht hat aber nachdrücklich
darauf hingewiesen, dass Richtschnur für die Beurteilung dieser Frage
der Grundsatz von Treu und Glauben sei, an welchem die Berufung auf
Formmängel in jedem Fall ihre Grenze finde (BGE 98 V 278). Im nicht
veröffentlichten Urteil vom 8. Februar 1977 i.S. Rey hat es insbesondere
erklärt, es lasse sich mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und
der Rechtssicherheit nicht vereinbaren, dass ein Verwaltungsakt wegen
mangelhafter Rechtsmittelbelehrung jederzeit an den Richter weitergezogen
werden könne. Ein solcher Verwaltungsakt müsse innerhalb einer vernünftigen
Frist in Frage gestellt werden.

    Dies gilt sinngemäss in Fällen wie dem vorliegenden. Ein Versicherter,
der feststellt, dass die Verwaltung zu Unrecht nicht in Verfügungsform
über den geltend gemachten öffentlich-rechtlichen Anspruch befunden hat,
kann nicht jederzeit den nachträglichen Erlass eines solchen anfechtbaren
Verwaltungsaktes verlangen, um ihn dann beschwerdeweise an den Richter
weiterzuziehen. Dies hat vielmehr innerhalb einer zeitlichen Befristung zu
geschehen, die nach den konkreten Umständen als vernünftig erscheint und
gleichzeitig den Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit
Rechnung trägt.

    Die SUVA richtete seit Frühjahr 1969 das gekürzte Krankengeld
aus. Den Akten ist ferner zu entnehmen, dass P. seit November 1970
bevormundet ist. Sein erster Vormund unterrichtete am 14. Mai 1971
die Krankenkasse von der erwähnten Krankengeldkürzung. Am 30. August
1971 teilte die SUVA dem Vormund mit, dass die Krankengeld- und
Heilungskostenleistungen mit dem folgenden Tag eingestellt würden und dass
sie das bis dahin noch geschuldete Krankengeld der Vormundschaftsbehörde
A. überweisen werde. Diese Zahlungen und Mitteilungen wurden von der
Vormundschaftsbehörde und vom Vormund, welche ja die Interessen des
Versicherten zu wahren hatten, widerspruchslos entgegengenommen,
obschon sie die Möglichkeit gehabt hätten, die Leistungskürzung
anzufechten bzw. anfechten zu lassen. Da sie dies unterlassen haben,
obwohl die Vormundschaftsbehörde bereits seit dem 20. November 1969
von der Krankengeldkürzung Kenntnis hatte, verstösst es gegen Treu und
Glauben, wenn der im November 1973 neu bestellte Vormund am 6. Mai 1974
eine beschwerdefähige Verfügung verlangte über die fast 5 Jahre früher mit
Wissen der Vormundschaftsbehörde vereinbarte Kürzung des Krankengeldes,
das zudem bereits im Sommer 1971 eingestellt worden war.