Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 141



104 V 141

32. Urteil vom 4. August 1978 i.S. T. gegen Ausgleichskasse Basel-Stadt
und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen, Basel Regeste

    Beginn des Rentenanspruchs (Art. 29 Abs. 1 IVG). Bestimmung der
Wartezeit eines Versicherten, der seinen frühern Beruf nicht mehr ausüben
kann, im neuen Beruf weniger verdient und später in diesem Beruf eine
zusätzliche gesundheitlich bedingte Lohneinbusse erleidet.

Sachverhalt

    A.- Der 1918 geborene T. musste im Jahre 1966 seinen Dachdeckerberuf
anscheinend aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Anschliessend
betätigte er sich als Tankwart. Infolge einer schon seit Jahren
bestehenden Hypertonie kam es 1973 zu einem leichten Hirnschlag mit
vorübergehender rechtsseitiger Lähmung und Sprechstörungen. Seither
besteht eine generalisierte Arteriosklerose mit Wesensveränderungen
und Durchblutungsstörungen der Beinarterien. Dadurch wurde die
Leistungsfähigkeit zusätzlich beeinträchtigt. Am 3. Juli 1976
erlitt der Versicherte einen Herzinfarkt, der eine mehrwöchige
Hospitalisierung erforderte. Mitte Juli 1976 ersuchte er um eine Rente
der Invalidenversicherung.

    Mit Verfügung vom 20. Dezember 1976 eröffnete die Ausgleichskasse
Basel-Stadt dem Versicherten, dass der Rentenentscheid bis zum Juni
"ausgestellt" werde, da die Voraussetzung 360tägiger, durchschnittlich
hälftiger Arbeitsunfähigkeit noch nicht erfüllt sei.

    B.- Gegen die Kassenverfügung liess T. bei der Kantonalen
Rekurskommission für die Ausgleichskassen Beschwerde einreichen und
sinngemäss beantragen, es sei ihm unverzüglich eine Rente auszurichten.

    Die Vorinstanz vertrat die Auffassung, der Versicherte sei bis zu
seinem Herzinfarkt voll arbeitsfähig gewesen, wenn auch nicht auf seinem
Beruf als Dachdecker, sondern als Tankwart. Rentenleistungen kämen erst
in Betracht, wenn auch diese Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen
nicht mehr ausgeübt werden könne. Beim Versicherten liege eindeutig kein
stabilisierter Gesundheitszustand vor, weshalb in Anwendung der Variante
II von Art. 29 IVG erst im Juni 1977 abschliessend beurteilt werden könne,
ob eine durchschnittlich wenigstens hälftige Arbeitsunfähigkeit bestanden
habe und weiterhin bestehen werde. Sie wies deshalb die Beschwerde am
12. Mai 1977 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 11. Juli 1977 lässt T. erneut
Anspruch auf eine Rente erheben, und zwar auf eine halbe Rente ab 3. Juli
1976 und auf eine ganze ab 1. Januar 1977. Zur Begründung wird geltend
gemacht, die Arbeitsfähigkeit des Versicherten sei jedenfalls ab 1972 zu
mindestens 1/3 herabgesetzt gewesen. Damals habe aber - angesichts des
von ihm als Tankwart erzielten Erwerbseinkommens - noch kein Härtefall
(und somit kein Rentenanspruch) bestanden. Als er aber im Juli 1976
wegen des Infarktes seine Erwerbstätigkeit vollständig habe aufgeben
müssen, sei der Härtefall eingetreten. Da er indessen schon vorher
während 360 Tagen mindestens zu 1/3 arbeitsunfähig gewesen sei, habe mit
Eintritt des Herzinfarktes im Juli 1976 keine neue Wartezeit zu laufen
begonnen. Vielmehr sei bereits zu diesem Zeitpunkt der Anspruch auf eine
halbe Rente entstanden.

    Die Kasse ihrerseits vergleicht das Einkommen eines gesunden
Dachdeckers mit jenem Lohn, den der Versicherte als "gesundheitlich bereits
angeschlagener" Tankwart bezogen hat, und errechnet auf diese Weise für
1975 eine Einkommenseinbusse von rund 36% und für 1976 eine solche von
etwa 34%. Sie meint deshalb, dass auf den Zeitpunkt der Arbeitsaufgabe hin
(3. Juli 1976) geprüft werden müsste, ob nicht ein Härtefall vorliege.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Stellungnahme
zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Anspruch auf eine ganze Rente besteht, wenn der Versicherte
mindestens zu zwei Dritteln, derjenige auf eine halbe Rente, wenn
er mindestens zur Hälfte (in Härtefällen mindestens zu einem Drittel)
invalid ist. Für die Bemessung der Invalidität wird das Erwerbseinkommen,
das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung
allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit
bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt
zum Erwerbseinkommen, das er zu erzielen vermöchte, wenn er nicht invalid
geworden wäre (Art. 28 Abs. 1 und 2 IVG).

    Gemäss Art. 29 Abs. 1 IVG entsteht der Rentenanspruch, sobald der
Versicherte mindestens zur Hälfte bleibend erwerbsunfähig geworden
ist (Variante I) oder während 360 Tagen ohne wesentlichen Unterbruch
durchschnittlich zur Hälfte arbeitsunfähig war und weiterhin mindestens
zur Hälfte erwerbsunfähig ist (Variante II). Ist ein Rentengesuch nach
Variante II zu beurteilen, so ist in Härtefällen lediglich vorausgesetzt,
dass der durchschnittliche Grad der Arbeitsunfähigkeit während der
360tägigen Wartezeit und der Invaliditätsgrad bei Ablauf derselben einen
Drittel erreichen (BGE 99 V 97).

    Ob die Voraussetzungen für die Ausrichtung einer Rente gegeben sind,
beurteilt sich nach den Verhältnissen, die bis zum Erlass der streitigen
Verfügung, vorliegend somit bis Ende Dezember 1976, gegeben waren (BGE
99 V 102, ZAK 1975 S. 475).

Erwägung 2

    2.- a) Der Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass die Leiden des
Beschwerdeführers labiler Natur sind, weshalb sich der Beginn eines
allfälligen Rentenanspruchs nach der Variante II des Art. 29 Abs. 1
IVG richtet. Somit muss zunächst geprüft werden, wann eine allfällige
Wartezeit im Sinne dieser Variante zu laufen begonnen hat. Grundsätzlich
gilt die Wartezeit in dem Zeitpunkt als eröffnet, in welchem eine
deutliche Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit eingetreten ist. Unter
einem gewissen Mindestgrad ist die Verminderung der Arbeitsfähigkeit für
die Berechnung der durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit der II. Variante
unerheblich (BGE 96 V 39 i.S. Blumenstein). Zur Frage, welcher minimale
Grad bereits erheblich ist, hat das Eidg. Versicherungsgericht bisher
noch nie Stellung nehmen müssen, und es besteht auch im vorliegenden Fall
dazu kein Anlass. Immerhin hat das Gericht im Fall Blumenstein erklärt,
dass die Beeinträchtigung zu einem Viertel bereits als erheblich zu gelten
habe (S. 40).

    b) Im vorliegenden Falle ist zu beachten, dass der Beschwerdeführer den
Dachdeckerberuf aus gesundheitlichen Gründen überhaupt nicht mehr ausüben
kann, dass er als Tankwart weniger verdiente, als ihm dies als gesunder
Dachdecker möglich gewesen wäre, und dass er im Jahre 1973 infolge des
Insultes in seiner Leistungsfähigkeit zusätzlich beeinträchtigt wurde,
bis er sich schliesslich 1976 einen Herzinfarkt zuzog, was mit einer
neuen beträchtlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit verbunden war.

    Es stellt sich somit die Frage, wann die Wartezeit als eröffnet
gelten muss, wenn ein Versicherter zwar in seinem zuletzt ausgeübten
Beruf noch nicht erheblich behindert, wohl aber in dem Sinne bereits
teilinvalid ist, dass er seinen früheren, einkommensmässig höherwertigen
Beruf überhaupt nicht mehr ausüben kann. Sowenig für die Bestimmung der
durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit und damit für die Eröffnung der
Wartezeit lediglich auf die Arbeitsunfähigkeit in dem Beruf abgestellt
werden darf, den der Versicherte zuletzt im Zustande der Teilinvalidität
ausgeübt hat, sowenig darf die Arbeitsunfähigkeit im ursprünglichen, ohne
Gesundheitsschaden ausgeübten Beruf allein massgebend sein. Im Interesse
der rechtsgleichen Behandlung aller Versicherten muss jedenfalls dann,
wenn - wie im vorliegenden Fall - der Grad der Arbeitsunfähigkeit praktisch
der gesundheitlich bedingten Erwerbseinbusse entspricht, zur Bestimmung der
massgebenden durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit das Einkommen, das der
Versicherte ohne Gesundheitsschädigung in seinem ursprünglich ausgeübten
Beruf erzielen könnte, in Beziehung gesetzt werden zu jenem Einkommen,
das er nach Eintritt der zusätzlichen Behinderung im zuletzt ausgeübten
Beruf noch erreicht. Aus dem Vergleich dieser beiden Einkommen ergibt sich
die für die Wartezeit massgebende durchschnittliche Arbeitsunfähigkeit,
die nun die zeitliche Festlegung der 360tägigen Wartezeit erlaubt.

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer hat sich im Juli 1976 bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug gemeldet. Somit könnte ihm gemäss
Art. 48 Abs. 2 IVG frühestens vom Juli 1975 hinweg eine Rente nachbezahlt
werden; dies allerdings unter der Voraussetzung, dass bis zu diesem
Zeitpunkt nach Art. 29 Abs. 1 Variante II IVG überhaupt ein Rentenanspruch
entstanden war.

    Der Beschwerdeantwort der Kasse zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist
zu entnehmen, dass T. als gesunder Dachdecker im Jahre 1975 einen Lohn
von Fr. 33'516. - hätte erzielen können. Demgegenüber erreichte er im
gleichen Jahr als Tankwart, in welchem Beruf er seit 1973 zusätzlich
beeinträchtigt war, lediglich ein Einkommen von Fr. 21'156.-. Aus
dem Vergleich dieser beiden Einkommen (siehe Erw. 2b) resultiert eine
gesundheitlich bedingte Einkommenseinbusse von rund 37%, was vorliegend
einer durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit von etwas mehr als einem
Drittel gleichzustellen ist. Es darf ohne weiteres angenommen werden,
dass die Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers bereits im Jahre 1974
mindestens in diesem Umfang eingeschränkt war. Somit ist davon auszugehen,
dass T. spätestens im Juli 1975 360 Tage zurückgelegt hatte, während denen
er durchschnittlich zu einem Drittel arbeitsunfähig war. Vom Juli 1975
hinweg war er weiterhin mindestens zu einem Drittel erwerbsunfähig. In
Anwendung von Art. 48 Abs. 2 IVG käme also eine Härtefallrente schon ab
Juli 1975 in Betracht, vorausgesetzt, es habe tatsächlich schon damals
ein wirtschaftlicher Härtefall bestanden. Ob dies zutrifft, lässt sich
den Akten nicht zuverlässig entnehmen und bedarf noch der Abklärung durch
die Verwaltung.

    b) Sollte die Verwaltung zur Verneinung des Härtefalles ab Juli 1975
gelangen, so wäre weiter zu prüfen, ob allenfalls ab Juli 1976 von einem
Härtefall gesprochen werden müsste. Das scheint nicht ausgeschlossen,
da dem Beschwerdeführer auf den 30. Juni 1976, also auf einen Zeitpunkt
unmittelbar vor dem Herzinfarkt, die Tankwartstelle gekündigt worden
ist und die Familie T. seit Herbst 1976 von der Gemeinde unterstützt
werden muss.

    c) Hätte auch vom Juli 1976 hinweg kein Härtefall bestanden, so
müsste ferner abgeklärt werden, wann zu einem spätern Zeitpunkt die
Wartezeit von 360 Tagen durchschnittlich hälftiger Arbeitsunfähigkeit
abgelaufen ist. Bei Bejahung des Anspruchs auf eine halbe Rente wegen
mindestens hälftiger Invalidität hätte man sich auch noch zu fragen, ob
zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht die Voraussetzungen erfüllt waren,
um die halbe Rente durch eine ganze zu ersetzen (vgl. Art. 88a Abs. 2 IVV).

    Es wird Sache der Verwaltung sein, die nötigen Erhebungen vorzunehmen
und alsdann über den Rentenanspruch neu zu befinden...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid der Kantonalen Rekurskommission Basel für die Ausgleichskassen
vom 12. Mai 1977 sowie die angefochtene Kassenverfügung vom 20. Dezember
1976 aufgehoben, und es wird die Sache an die Ausgleichskasse Basel-Stadt
zurückgewiesen, damit diese nach Abklärung im Sinne der Erwägungen über
den Rentenanspruch neu verfüge.