Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IV 64



104 IV 64

21. Urteil der Anklagekammer vom 16. August 1978 i.S. Generalprokurator
des Kantons Bern gegen Obergericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 49 Ziff. 4 Abs. 1 und Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB.

    Der Richter, der eine bedingt vorzeitig löschbare Busse ausgesprochen
hat, ist in jedem Fall auch für den Widerruf der bedingten vorzeitigen
Löschbarkeit zuständig.

Sachverhalt

    A.- Am 17. November 1975 bestrafte das Obergericht (I.  Strafkammer)
des Kantons Zürich den X. wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln
sowie wegen pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall mit einer Busse von
Fr. 600.-. Gestützt auf Art. 49 Ziff. 4 Abs. 1 StGB erklärte es die
Busse als im Strafregister vorzeitig löschbar, wobei es die Probezeit
auf zwei Jahre ansetzte. In der Folge wurde X. erneut straffällig. Der
Gerichtspräsident II von Interlaken verurteilte ihn am 21. Juli 1976
wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand, Vereitelung einer Blutprobe,
pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall usw., begangen am 4. Juni 1976,
zu 14 Tagen Gefängnis und Fr. 400.- Busse.

    B.- Am 18. Februar 1978 wurde das Obergericht (I. Strafkammer)
des Kantons Zürich von der Strafregisterbehörde ersucht, die Frage zu
prüfen, ob X. sich in der ihm vom Obergericht angesetzten Probezeit
bewährt habe und ob die ihm damals auferlegte Busse im Strafregister zu
löschen sei. Das Gericht hielt sich indes nicht für zuständig, diesen
Entscheid zu fällen, und überwies mit Beschluss vom 5. Mai 1978 die Akten
dem Gerichtspräsidenten II von Interlaken, der jedoch seine Zuständigkeit
ebenfalls verneinte.

    C.- Mit Schreiben vom 2. Juni 1978 ersuchte der Generalprokurator des
Kantons Bern die Anklagekammer des Bundesgerichts, die Gerichtsbehörden
des Kantons Zürich für zuständig zu erklären "zum Entscheid über die
Verweigerung der Löschung des Strafregistereintrages betreffend das Urteil
der I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 17. November
1975". Das Obergericht (I. Strafkammer) des Kantons Zürich schliesst
auf Abweisung des Gesuches.

Auszug aus den Erwägungen:

             Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Sind die Voraussetzungen für die Gewährung des bedingten
Strafvollzuges gegeben, so kann der Richter, der eine Busse ausfällt,
nach Art. 49 Ziff. 4 Abs. 1 StGB anordnen, dass der diesbezügliche
Strafregistereintrag gelöscht werde, wenn der Verurteilte während der
anzusetzenden Probezeit "nicht wegen einer während dieser Zeit begangenen
strafbaren Handlung verurteilt wird und wenn die Busse bezahlt, abverdient
oder erlassen ist". Art. 41 Ziff. 2 und 3 StGB werden als in diesem
Zusammenhang "sinngemäss" anwendbar erklärt.

    Nach Art. 49 Ziff. 4 Abs. 2 StGB hat die zuständige Behörde des
mit dem Vollzug betrauten Kantones den Strafregistereintrag betreffend
eine Busse von Amtes wegen zu löschen. Vorliegend steht aber nicht das
in Frage; streitig ist vielmehr, welcher Richter für den Widerruf der
bedingten vorzeitigen Löschbarkeit einer Busse zuständig sei, wenn der
Verurteilte während der ihm angesetzten Probezeit erneut straffällig
geworden ist. Kraft der Verweisung in Art. 49 Ziff. 4 Abs. 1 StGB ist
das auf Grund von Art. 41 Ziff. 3 StGB zu beantworten.

Erwägung 2

    2.- Bei Verbrechen oder Vergehen während der Probezeit hat nach
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 Satz 1 StGB der dafür zuständige Richter auch
über den Vollzug der bedingt aufgeschobenen Freiheitsstrafe oder über
deren Ersatz durch andere Massnahmen zu befinden. Für die "übrigen Fälle"
erklärt Satz 2 derselben Bestimmung den Richter für zuständig, der den
bedingten Strafvollzug angeordnet hat. Zu entscheiden ist nun, ob die
sinngemässe Anwendung von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB auf den Widerruf
der bedingten vorzeitigen Löschbarkeit einer Busse zur Zuständigkeit nach
Satz 1 oder Satz 2 dieser Bestimmung führt.

    a) Literatur und Rechtsprechung nehmen ohne weiteres an, dass es
Sache des Erstrichters sei, über den Widerruf der bedingten vorzeitigen
Löschbarkeit einer Busse und über eine allfällige Ersatzmassnahme zu
befinden. So erklärt SCHULTZ (Einführung in den allgemeinen Teil des
Strafrechts, 2. Band, 3. Auflage, Bern 1977, S. 111) unter Hinweis
auf die Rechtsprechung, dass der Richter, der die Busse verhängt habe,
gegebenenfalls auch ihre Löschung zu verweigern habe. Diese Auffassung
stimmt nicht nur mit der Rechtsprechung des Berner Obergerichts überein
(ZBJV 111/1975, S. 233), sondern auch mit der bisher veröffentlichten
Praxis des Zürcher Obergerichts (Kreisschreiben der Verwaltungskommission
an die zürcherischen Strafgerichte, in: ZR 73/1974, Nr. 41; Urteil der
II. Strafkammer, in: SJZ 68/1972, S. 43 Nr. 16). Schliesslich ist zu
vermerken, dass auch das Bundesstrafgericht in einem derartigen Fall
seine Zuständigkeit stillschweigend voraussetzte (BGE 101 IV 18).

    b) Die Verweisung in Art. 49 Ziff. 4 Abs. 1 Satz 2 StGB ergibt
hinsichtlich der Zuständigkeitsordnung keine eindeutige Lösung. Sie
bezweckt in erster Linie, dem Richter die Möglichkeit zu geben, selbst
in Fällen, wo die Strafe aus einer blossen Busse besteht, Massnahmen
nach Art. 41 Ziff. 2 und 3 StGB anzuordnen (vgl. SCHULTZ, ZStrR 89/1973,
S. 73 mit Hinweis auf die Materialien). Ist über eine solche Massnahme
im Zusammenhang mit einem allfälligen Widerruf der bedingten vorzeitigen
Löschbarkeit einer Busse zu entscheiden, so mag sich der Zweitrichter
hiefür zwar besser eignen, weil er die Entwicklung des Verurteilten im
Zeitpunkt der Entscheidung besser kennt als der Erstrichter. Solche
Überlegungen haben den Gesetzgeber hinsichtlich des Widerrufes des
bedingten Vollzuges einer Freiheitsstrafe zur Zuständigkeitsordnung
von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 Satz 1 StGB geführt (vgl. BGE 101 Ia
285). Hinsichtlich des Widerrufs der bedingten vorzeitigen Löschbarkeit
einer Busse können sie indes von vornherein nicht dasselbe Gewicht
haben. Die Zuständigkeit des Zweitrichters nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3
Satz 1 setzt nämlich das Vorliegen eines Verbrechens oder Vergehens
voraus. Damit tritt aber die Bedeutung der Verweigerung der bedingten
vorzeitigen Löschbarkeit einer früheren Busse sowie die Anordnung
allfälliger diesbezüglicher Ersatzmassnahmen im Vergleich zu den dem
Richter auf Grund des neuen Deliktes zur Verfügung stehenden Sanktionen
stark zurück. Auch kann ohne Schaden mit dem Entscheid betreffend den
Widerruf der bedingten vorzeitigen Löschbarkeit bis nach Ablauf der
höchstens dreijährigen Probezeit (Art. 49 Ziff. 4 in Verbindung mit
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB) zugewartet werden. Um so mehr darf der
Erstrichter aber ganz allgemein als für den Widerruf der bedingten
vorzeitigen Löschbarkeit von Bussen zuständig erachtet werden, als
er auf Grund von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 Satz 2 StGB selbst für den
Widerruf des bedingten Vollzuges von Freiheitsstrafen zuständig ist,
so wenn sich der Verurteilte z.B. während der Probezeit lediglich einer
Übertretung schuldig gemacht hat. Ohne besondere Gründe soll ohnehin nicht
die Regel durchbrochen werden, dass der Kanton, der im Rahmen seiner
Zuständigkeit eine Strafe ausgesprochen hat, auch zuständig bleibt,
die notwendig werdenden nachträglichen Entscheidungen zu treffen (vgl.
BGE 101 Ia 281). Eine sinngemässe Anwendung der Vorschrift von Art. 41
Ziff. 3 Abs. 3 StGB führt somit dazu, dass der Richter, der eine bedingt
vorzeitig löschbare Busse ausgesprochen hat, in jedem Fall auch als
für den Widerruf dieser bedingten vorzeitigen Löschbarkeit zuständig
anzusehen ist. Verhält es sich aber so, dann ist das Gesuch gutzuheissen
und die Gerichte des Kantons Zürich sind als berechtigt und verpflichtet
zu erklären, die fragliche Entscheidung zu treffen.

Entscheid:

              Demnach erkennt die Anklagekammer:

    In Gutheissung des Gesuches werden die Gerichte des Kantons Zürich
als berechtigt und verpflichtet erklärt, über den Widerruf der bedingten
vorzeitigen Löschbarkeit der vom Obergericht (I. Strafkammer) des Kantons
Zürich i.S. X. am 17. November 1975 ausgefällten Busse zu befinden.