Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IV 105



104 IV 105

28. Urteil des Kassationshofes vom 26. Mai 1978 i.S. N. gegen Gemeinde V.
Regeste

    Art. 1 und 5 SVG; Art. 1 Abs. 1 und 2 VRV.

    1. Ein privater Vorplatz, der einem unbestimmbaren Personenkreis zur
Benützung offen steht, kann nur durch ein signalisiertes Verbot oder durch
eine Abschrankung dem öffentlichen Verkehr und damit der Herrschaft des
SVG entzogen werden (E. 3).

    2. Keine Anwendung einer kommunalen Polizeiverordnung neben dem SVG,
soweit die verkehrsmässige Benützung einer öffentlichen Verkehrsfläche
in Frage steht (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Am Sonntag, den 13. Juni 1976, um 13.15 Uhr, parkierte Frau
N. ihren Personenwagen auf dem Areal der Firma A. an der Landenbergstrasse
im Gemeindegebiet V. Dieses Areal besteht aus einem ca. 20 m langen
und 10 m breiten Vorplatz, der sich im Geviert der Landenbergstrasse
und der rechtwinklig davon zum Schwimmbad führenden Strasse befindet,
diesen Strassen gegenüber um 10 bis 20 cm abgesenkt und durch ein ca.
10 cm hohes Steinbord umsäumt ist. Der Vorplatz weist einen andern Belag
als die Strassen auf. Seine Hauptzufahrt führt über einen zweiten, auch
zum Areal der genannten Firma gehörenden Platz, der niveaugleich mit dem
Trottoir ebenfalls an der Landenbergstrasse liegt und unmittelbar an den
andern Platz angrenzt.

    B.- Am 8. September 1976 büsste die Gemeinde V. Frau N. deswegen
in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Ziff. 112 der
Verordnung über Ordnungsbussen im Strassenverkehr (OBV; SR 741.031),
sowie Art. 48 der Polizeiverordnung der Gemeinde V. mit Fr. 20.-.

    Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirks H. sprach Frau N. dagegen
am 1. Juni 1977 frei.

    Auf kantonale Nichtigkeitsbeschwerde der Gemeinde V. hob die
I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich am 16. Februar 1978 den
Entscheid des Einzelrichters auf und büsste die Verzeigte wegen Übertretung
von Art. 23 der Polizeiverordnung der genannten Gemeinde mit Fr. 20.-.

    C.- Frau N. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem
Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zur
Freisprechung der Beschwerdeführerin an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Gemeinde V. beantragt Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie
einzutreten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz qualifizierte den von Frau N. zum Parken benützten
Platz nicht als öffentlichen im Sinne der VRV. Sie führt aus, der Platz
könne allenfalls während der Betriebszeit der Fabrik A. als öffentlicher
angesehen werden, da dann mit einer Vielzahl befugter Benützer des
Areals zu rechnen sei. Am Sonntag dagegen diene er ausschliesslich
privatem Gebrauch, deshalb finde das SVG auf das Frau N. zur Last
gelegte Verhalten keine Anwendung. Anzuwenden sei dagegen Art. 23 der
kommunalen Polizeiverordnung, der das unberechtigte Gehen, Fahren oder
Reiten über fremdes Grundeigentum verbiete. Diese Bestimmung schütze das
Eigentum gegen fremde Angriffe, und gemäss Art. 335 Ziff. 1 StGB seien
die Kantone befugt, gegen Angriffe auf das Vermögen zusätzlich zu den
eidgenössischen Straftatbeständen (Art. 137-172 StGB) auf dem Wege des
Übertretungsstrafrechts weitere Handlungen unter Strafe zu stellen. Das
in Art. 23 der Polizeiverordnung enthaltene Verbot halte vor Bundesrecht
stand, da das unbefugte Befahren eines fremden privaten Vorplatzes
und das Parkieren auf diesem keine nur unerhebliche Besitzesstörung
darstellten. Sogar wenn der Vorplatz als Werkplatz im Sinne von Art. 186
StGB betrachtet würde, wäre Art. 23 der Polizeiverordnung anwendbar,
da jene Bestimmung ein anderes Rechtsgut als das Eigentum, nämlich das
Hausrecht, schütze.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 269 Abs. 1 BStP kann die Nichtigkeitsbeschwerde nur
mit der Verletzung eidgenössischen Rechts begründet werden. Es muss
sich also, wie sich das auch aus Art. 12 BStP und der Überschrift des
III. Teils dieses Gesetzes ergibt, um eine Bundesstrafsache handeln. Eine
solche liegt vor, wenn die positive Anwendung von Bundesstrafrecht
den Hauptgegenstand des angefochtenen Urteils bildet, wenn zu Unrecht
kantonales statt Bundesrecht angewendet worden ist (BGE 101 IV 376),
ferner wenn zu entscheiden ist, ob ein bestimmter Tatbestand infolge
qualifizierten Schweigens des eidgenössischen Rechts auch nicht nach
kantonalem Übertretungsstrafrecht geahndet werden soll (BGE 89 IV 95 und
dort zitierte Entscheide), und schliesslich wenn es sich um eine an sich
nach kantonalem Recht zu beurteilende Sache handelt, die Anwendung dieses
Rechts aber durch die Entscheidung einer Vorfrage des eidgenössischen
Strafrechts autoritativ bestimmt wird (BGE 87 IV 167, BGE 73 IV 135).

    Die Beschwerdeführerin macht geltend, der fragliche Vorplatz der
Firma A. sei entgegen der Auffassung der Vorinstanz eine öffentliche
Strasse im Sinne der eidgenössischen Strassenverkehrsordnung, weshalb
diese und nicht kantonales Übertretungsstrafrecht hätte angewendet
werden sollen. Eventuell sei die Anwendung von Art. 23 der kommunalen
Polizeiverordnung deswegen bundesrechtswidrig, weil diese Vorschrift
denselben Tatbestand wie Art. 186 StGB ordne und danach das Betreten oder
Befahren eines nicht mit einer privatrechtlichen Verbotstafel versehenen
oder abgeschrankten Vorplatzes nicht unter Strafe habe gestellt werden
wollen. Dass es sich aber um einen Werkplatz gehandelt habe, sei von der
Vorinstanz selber nicht angenommen worden.

    Diese Rügen können nach dem Gesagten mit der Nichtigkeitsbeschwerde
vorgebracht werden, weshalb auf diese einzutreten ist.

Erwägung 3

    3.- Das Bundesgesetz über den Strassenverkehr ordnet (u.a.)  den
Verkehr auf den öffentlichen Strassen (Art. 1 Abs. 1 SVG). Strassen sind
die von Motorfahrzeugen, motorlosen Fahrzeugen oder Fussgängern benützten
Verkehrsflächen und öffentlich sind sie, wenn sie nicht ausschliesslich
privatem Gebrauch dienen (Art. 1 Abs. 1 und 2 VRV). Massgeblich ist
dabei nicht, ob die Strasse in privatem oder öffentlichem Eigentum steht,
sondern ob sie dem allgemeinen Verkehr dient. Letzteres trifft zu, wenn
sie einem unbestimmbaren Personenkreis zur Verfügung steht, selbst wenn
die Benutzung nach Art oder Zweck eingeschränkt ist (BGE 101 IV 175).

    Die Vorinstanz nimmt an, dass der Vorplatz während der Betriebszeit
der Firma A. einem unbestimmbaren Personenkreis zur Benützung offen
steht. Insoweit ist die genannte Fläche zweifelsfrei eine öffentliche
Strasse und fällt der Verkehr auf ihr gemäss Art. 1 SVG unter die
Bestimmungen dieses Gesetzes. Dasselbe gilt entgegen der Meinung des
Obergerichtes weiter auch für die Nichtbetriebszeiten der genannten
Firma, insbesondere für den Sonntag. Zwar ist es durchaus denkbar und
rechtlich auch möglich, die Benützung eines beispielsweise während den
Arbeitszeiten dem öffentlichen Verkehr offenstehenden Areals am Sonntag
oder an Feiertagen oder auch nachts auf einen ausschliesslich privaten
Gebrauch einzuschränken. Dieser Wille des Verfügungsberechtigten muss aber
für Dritte durch ein signalisiertes Verbot oder durch eine Abschrankung
kenntlich gemacht sein (s. BGE 101 IV 176). Gebricht es daran, dann bleibt
die besagte Verkehrsfläche weiterhin eine öffentliche im Sinne von Art. 1
Abs. 2 VRV.

    Im vorliegenden Fall war das während den Arbeitszeiten der Firma
A. einem unbestimmbaren Personenkreis geöffnete Areal am Sonntag, an
welchem die Beschwerdeführerin den Platz befuhr und auf ihm parkierte,
weder in für sie erkennbarer Weise abgeschrankt noch mit einer
Verbotstafel versehen. Der fragliche Vorplatz war daher auch an diesem
Tag eine öffentliche Strasse mit der Folge, dass sich das Verhalten der
Beschwerdeführerin als Motorfahrzeugführerin gemäss Art. 1 SVG nach den
Vorschriften dieses Gesetzes beurteilt. Die eidgenössische Verkehrsordnung
schreibt nämlich vor, dass Beschränkungen und Anordnungen für den
Motorfahrzeugverkehr durch Signale und Markierungen angezeigt werden
müssen, sofern sie nicht für das ganze Gebiet der Schweiz gelten und
sofern es sich nicht um Strassen und Plätze handelt, die offensichtlich
privater Benützung oder besonderen Zwecken vorbehalten sind (Art. 5
Abs. 1 und 2 SVG). Sie verpflichtet zudem die Strassenbenützer in Art.
27 SVG Signale und Markierungen zu befolgen und stellt Widerhandlungen
gegen diese Vorschrift in Art. 90 SVG unter Strafe. Damit ordnet das
Bundesrecht die verkehrsrechtliche Frage der Signalisation von Fahrverboten
und der Strafbarkeit ihrer Missachtung abschliessend, und steht es deshalb
den Kantonen (und Gemeinden; Art. 3 Abs. 2 SVG) nicht zu, das Benützen
öffentlicher Verkehrsflächen auf dem Weg des Übertretungsstrafrechtes
verkehrspolizeilich anders zu regeln (Art. 2 ÜbBest. BV).

Erwägung 4

    4.- Damit ist indessen noch nicht entschieden, ob die Kantone das
unbefugte Benützen fremden Grundeigentums durch Begehen, Befahren oder
Parkieren nicht doch zum Schutze eines andern Rechtsgutes als desjenigen
der Verkehrsordnung und der Verkehrssicherheit der Übertretungsstrafe
unterstellen dürfen, bleibt ihnen doch gemäss Art. 335 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten,
als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist.

    Was Art. 23 der Polizeiverordnung der Gemeinde V. anbelangt,
so stellt die Vorinstanz verbindlich fest, dass diese Bestimmung das
Grundeigentum gegen unbefugtes Betreten und Befahren durch Dritte schützen
will. Das geschützte Rechtsgut ist somit ein anderes als dasjenige der
eidgenössischen Strassenverkehrsordnung. Das allein berechtigt jedoch nicht
zur Annahme, es bleibe neben dem SVG noch Raum für eine solche kantonale
bzw. kommunale Regelung. Aus der Tatsache, dass privates Grundeigentum
öffentlicher Verkehrsraum sein kann, ergibt sich, dass in dem Umfang und
für so lange, als der Grundeigentümer gegen die verkehrsmässige Benützung
seines Grund und Bodens durch einen unbestimmbaren Personenkreis nichts
Erkennbares vorkehrt, sich vielmehr ausdrücklich oder stillschweigend
mit einem solchen Gebrauch einverstanden erklärt, er auf die aus seinem
Eigentum folgende Befugnis verzichtet, allein über eine Benützung der
genannten Art zu bestimmen. An die Stelle seines Willens tritt insoweit
die im SVG getroffene Ordnung, zumal den Kantonen die Strassenhoheit nur
im Rahmen des Bundesrechts zusteht (Art. 3 Abs. 1 SVG) und im übrigen
in Fällen wie dem vorliegenden auch keine Befugnis des Grundeigentümers
mehr besteht, die durch eine das Eigentum betreffende kantonale Vorschrift
geschützt werden könnte. Der auf Art. 23 der Polizeiverordnung der Gemeinde
V. gestützte Entscheid der Vorinstanz hält demnach nicht.

    Ist er aber schon aus dem genannten Grunde aufzuheben, kann
dahingestellt bleiben, ob die Anwendung von Art. 23 der genannten
Polizeiverordnung nicht auch durch Art. 186 StGB ausgeschlossen werde.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zur Freisprechung der Beschwerdeführerin an die
Vorinstanz zurückgewiesen.