Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 II 314



104 II 314

55. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 28. November 1978 i.S.
Consorzio Galleria San Bernardino, bestehend aus sechs Bauunternehmungen,
gegen Kanton Graubünden Regeste

    Art. 373 Abs. 2 OR und Art. 5 Ziff. 1 der Bedingungen für den Bau
von Nationalstrassen.

    1. Sinn und Zweck dieser Bestimmungen (E. a).

    2. Eine Erhöhung des Werklohnes durch den Richter setzt voraus, dass
zum voraus bestimmte oder bestimmbare Preise vereinbart worden sind,
ausserordentliche Umstände die Ausführung des Werkes aber übermässig
erschwert haben und dies nicht einem Verhalten des Unternehmers
zuzuschreiben ist (E. b).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Die Kläger berufen sich insbesondere auf Art. 373 Abs. 2 OR sowie
auf Art. 5 Ziff. 1 der 1960 vom Bund aufgestellten Bedingungen für den
Bau von Nationalstrassen (BBN), um ihre Nachforderungen zu rechtfertigen.

    Nach Art. 373 OR hat der Unternehmer das Werk zum vereinbarten Preis
fertigzustellen, wenn dieser zum voraus genau bestimmt worden ist; er darf
keine Erhöhung fordern, selbst wenn er mehr Arbeit oder grössere Auslagen
gehabt hat, als vorgesehen war (Abs. 1). Anders verhält es sich nur, wenn
die Fertigstellung des Werkes durch ausserordentliche Umstände, die nicht
voraussehbar oder nach den von beiden Parteien angenommenen Voraussetzungen
ausgeschlossen waren, gehindert oder übermässig erschwert wurde; diesfalls
kann der Richter den vereinbarten Preis nach seinem Ermessen erhöhen
oder die Auflösung des Vertrages bewilligen (Abs. 2). Art. 5 Ziff. 1
BBN sodann bestimmt: "Die Pauschal- und Einheitspreise enthalten alle
Kosten für die fachmännische Ausführung des Baues, für die Fertigstellung
innerhalb der vorgeschriebenen Frist und für den Unterhalt des Werkes bis
zur vorläufigen Abnahme. Besondere Umstände, welche die Ausführung der
Arbeiten erschweren können, sind darin berücksichtigt, so insbesondere
Erschwernisse durch Ungunst der Witterung, Unterbrechung des Betriebes
in den Wintermonaten, Übergang vom ein- zum mehrschichtigen Betrieb,
Nachtarbeit. Vorbehalten bleiben ausserordentliche Umstände, die nicht
vorausgesehen werden konnten."

    a) Art. 373 Abs. 2 OR enthält einen gesetzlich geregelten Fall der
clausula rebus sic stantibus und damit eine Ausnahme vom allgemeinen
Rechtssatz, dass ein Vertrag so zu halten ist, wie er abgeschlossen worden
ist. Grundsätzlich hat jede Partei die Risiken zu tragen, die sich für sie
aus der versprochenen Leistung ergeben; sie hat selbst bei langfristigen
Verträgen mit folgenschweren Verpflichtungen keinen Anspruch darauf,
dass die Erfüllung sich für sie zu einem "guten Geschäft" gestalte und
der Vertrag aufgehoben oder angepasst werde, wenn die Verhältnisse sich
während der Vertragsdauer zu ihrem Nachteil ändern oder nicht mehr ihren
Erwartungen entsprechen.

    Dieser Grundsatz wird sinngemäss in Art. 373 Abs. 1 für den Unternehmer
und in Abs. 3 auch für den Besteller wiederholt.

    Er ist aber bereits in Art. 364 Abs. 2 a OR für den Fall
ausserordentlicher, unvoraussehbarer Umstände zugunsten des Unternehmers
gelockert worden, wenn dieser nicht ausdrücklich auch eine solche Gefahr
übernommen hat. Die geltende Regel geht noch etwas weiter, da sie von der
negativen Voraussetzung der Gefahrübernahme absieht und von den Parteien
übereinstimmend für ausgeschlossen gehaltene Umstände nicht voraussehbaren
gleichsetzt. Solche Umstände können das Vertragsverhältnis so stören,
dass die Bindung an den zum voraus festgesetzten Preis Treu und Glauben
widerspricht und der richterliche Eingriff gerechtfertigt ist (BGE 59 II
377 E. 3; OSER/SCHÖNENBERGER, N. 6 zu Art. 373 OR; EGGER, Richterliche
Aufhebung oder Änderung eines Werkvertrages, in Ausgewählte Schriften,
Bd. 2, S. 178 ff.).

    Art. 5 Ziff. 1 BBN hat keine selbständige oder gar von Art. 373 OR
abweichende Bedeutung. Die Bestimmung stellt bloss klar, welche Kosten
von den Pauschal- und Einheitspreisen des Angebotes erfasst werden (Satz
1) und welche erschwerenden Umstände nach den angeführten Beispielen
darin berücksichtigt sind (Satz 2); mit dem anschliessenden Vorbehalt
ausserordentlicher, unvoraussehbarer Umstände (Satz 3) sodann kann nur
die Regelung des Art. 373 Abs. 2 OR gemeint sein, weshalb die Rechtsfolgen
solcher Umstände nach den Voraussetzungen und Gesichtspunkten des Gesetzes
zu beurteilen sind.

    b) In Fällen wie dem vorliegenden setzt Art. 373 Abs. 2 OR voraus,
dass zum voraus genau bestimmte oder bestimmbare Preise vereinbart
worden sind, ausserordentliche Umstände die Ausführung des Werkes aber
übermässig erschwert haben und dies nicht einem Verhalten des Unternehmers
zuzuschreiben ist.

    Nach dem Werkvertrag verpflichtete sich das Konsortium, das Los Süd "im
Umfang und zu den Pauschal- und Einheitspreisen des bereinigten Angebotes
(Vertragsbeilage I) im Betrag von Fr. 36'319'445.50" auszuführen. Das
Angebot enthält auf rund 240 Seiten zu zahlreichen Positionen solche
Preise, auf deren Grundlage für jede Arbeitskategorie abgerechnet und
der geschuldete Werklohn ermittelt werden sollte. Die vereinbarte Summe
wurde weder ganz noch teilweise vom Aufwand des Konsortiums oder vom Wert
der Arbeit abhängig gemacht. Es handelte sich vielmehr um eine zum voraus
genau bestimmbare Vergütung, die sich insbesondere aus den vorgesehenen
Preisen und dem Ausmass der ausgeführten Arbeiten ergab. Damit ist die
erste Voraussetzung für die Anwendung des Art. 373 Abs. 2 OR erfüllt
(OSER/SCHÖNENBERGER, N. 2 zu Art. 373 OR; GAUTSCHI, N. 6 zu Art. 373 OR),
was der Beklagte denn auch nicht zu widerlegen sucht.

    Als ausserordentlich im Sinne dieser Bestimmung gelten Umstände,
mit denen der Unternehmer nicht zu rechnen braucht, weil sie nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht voraussehbar sind, oder mit denen beide
Parteien nach gemeinsamer Vorstellung nicht gerechnet haben. Sie können
bereits bei Vertragsabschluss bestehen (z.B. geologische Verhältnisse)
oder erst nachträglich eintreten (z.B. aussergewöhnliches Ansteigen von
Löhnen, Zinsen oder Materialpreisen), nach diesen Beispielen also nicht
bloss natürlicher, sondern auch wirtschaftlicher Art sein. Das Erfordernis
der Unvoraussehbarkeit ist vom Standpunkt des sachkundigen und sorgfältigen
Unternehmers aus und nach eher strengen Massstäben zu beurteilen, da jede
Werkausführung zu festen Pauschal- oder Einheitspreisen ein spekulatives
Element enthält, das auch als Risiko zu berücksichtigen ist (BGE 59 II 380,
58 II 423). Mit welchen Schwierigkeiten ein Unternehmer bei der Ausführung
eines Baues nach der Erfahrung rechnen muss, hängt im übrigen weitgehend
von den Besonderheiten des einzelnen Falles, insbesondere der Art und
Dauer des Werkvertrages ab (GAUTSCHI, N. 15a und c zu Art. 373 OR).

    Dies gilt auch von der Voraussetzung der übermässigen Erschwerung, die
in den höheren Herstellungskosten des Werkes zum Ausdruck kommt und daher
vor allem nach den gegenseitigen Leistungen zu beurteilen ist. Erforderlich
ist ein krasses, offenbares Missverhältnis zwischen dem Wert der
erbrachten Leistung des Unternehmers und der versprochenen Gegenleistung
des Bestellers (BGE 58 II 423; vgl. ferner BGE 93 II 188 und 68 II 173
mit Zitaten). Die Mehrkosten sind beim Vergleich mit der vereinbarten
Vergütung ohne Gewinn einzusetzen, denn Art. 373 Abs. 2 OR gibt dem
Unternehmer keinen Anspruch darauf, dass die Erfüllung des Vertrages zu
einem verlustfreien Geschäft, das Missverhältnis also ganz ausgeglichen
werde (BGE 50 II 167, 47 II 457). Der Ausgleich hat sich vielmehr auf
ein Mass zu beschränken, das zwar nicht von der Leistungsfähigkeit des
Unternehmers abhängig gemacht werden darf, aber die Werkausführung als
objektiv zumutbar erscheinen lässt (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 9 und 14 zu
Art. 373 OR; GAUCH, Der Unternehmer im Werkvertrag, 2. Aufl., Nr. 165-169;
MERZ, in ZSR 61/1942, S. 500a und N. 188 zu Art. 2 ZGB).