Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 II 275



104 II 275

46. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. September 1978 i.S.
Bank X. gegen Aktiengesellschaft Z. Regeste

    Dokumenten-Akkreditiv.

    1. Nach den Akkreditivbestimmungen ist zu prüfen, ob die der Bank
vorgelegten Dokumente vollständig sind und dem Akkreditiv entsprechen. Die
Prüfung darf nicht durch eine solche der Ware ersetzt werden (E. 3).

    2. Die Bank hat Dokumente, die sie für ungenügend hält, dem
Begünstigten zur Verfügung zu halten oder ihm zurückzugeben (E. 5a).

    3. Händigt sie die Dokumente einem Dritten aus, so kann sie sich
ihrer Zahlungspflicht nicht mit den Einwänden entziehen, die Dokumente
hätten nicht dem Akkreditiv entsprochen oder seien nach Ablauf der Frist
vorgelegt worden (E. 5b und d).

Auszug aus den Erwägungen:

                         Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Klägerin behauptete im kantonalen Verfahren, sie habe
vollständige und dem Akkreditiv entsprechende Dokumente vorgelegt. Nach
dem angefochtenen Urteil traf das nicht zu, weil die Police der
Transportversicherung Haftung für "all risks" zusagte, gemäss Akkreditiv
aber Deckung "gegen alle Risiken inkl. Rost, Verbeulen, Verbiegen und
Verlust" auszuweisen war, und weil die Versicherung bis zum Bestimmungsort
in der Schweiz, statt bis zur deutschen Inlandstation galt. Die Klägerin
anerkennt auch vor Bundesgericht nur, dass bei Ablauf des Akkreditivs am
20. August 1976 die Versicherungspolice in den erwähnten Punkten mit dem
Wortlaut der Bedingungen nicht genau übereinstimmte; nach ihrer Ansicht
hätte die Police gleichwohl genügt, weil sie gemäss einer ausdrücklichen
Bestätigung der Versicherungsgesellschaft auch die besonderen Risiken
umfasste und die Deckung bis zum schweizerischen Bestimmungsort erheblich
über diejenige bis zur deutschen Inlandstation hinausging.

    Damit übergeht die Klägerin nicht nur die Pflicht aller Beteiligten,
auf den Wortlaut des Akkreditivs abzustellen, sondern verkennt auch
die Bedeutung der Dokumentenstrenge, die für das Institut als solches
gilt (J.C.D. ZAHN, Zahlung und Zahlungszusicherung im Aussenhandel,
5. Aufl. 1976, S. 103 ff.; F. EISEMANN, Recht und Praxis des
Dokumenten-Akkreditivs, 1963, S. 69 ff.). Die Auffassung der Klägerin
geht selbst über eine nach Treu und Glauben zulässige Auslegung
von Akkreditivbestimmungen hinaus (BGE 88 II 344/5). Die Problematik
allgemeiner Wendungen, wie "gegen alle Risiken versichert", ist längst
bekannt; die Internationale Handelskammer empfiehlt in ihren "Einheitlichen
Richtlinien und Gebräuchen für Dokumenten-Akkreditive" (ERG) von 1974
denn auch nähere Angaben (Art. 29 a und 30; ZAHN, aaO S. 140). Enthält
das Akkreditiv, wie hier, besondere Angaben über den Versicherungsschutz,
so müssen diese auch für die Dokumentenprüfung massgebend bleiben; es geht
nicht an, sie durch eine unklare Wendung ersetzen zu wollen. Unhaltbar
ist auch der Einwand, man habe ja nach Ankunft des Schiffes in Antwerpen
unschwer feststellen können, dass die Sendung unbeschädigt war. Damit
versucht die Klägerin, die Prüfung der Dokumente durch eine solche der Ware
zu ersetzen, was dem Begriff des Akkreditivs widerspricht. Sie übersieht
zudem, dass das Akkreditiv der Beklagten am 20. August ablaufen sollte,
das Schiff aber erst am 27. August eintraf.

    Nicht anders verhält es sich mit dem Bestimmungsort, gleichviel aus
welchen Gründen die Versicherungspolice in diesem Punkte vom Akkreditiv
abwich und wer den Mangel zu beheben versprach. Die in der Berufungsantwort
erhobene Behauptung, die Abweichung sei unerheblich gewesen, steht der
Klägerin umsoweniger an, als diese bei Einreichung der Dokumente am
16. August 1976 selber davon ausging, der Versicherungsschutz sei durch
einen Zusatz für die Bundesrepublik zu ergänzen. Gegen ihre Behauptung
spricht ferner, dass die Ergänzung mit einer Mehrprämie von Fr. 2'921.67
verbunden war.

    (4.- Ausführungen darüber, ob die Beklagte die ihr eingereichten
Dokumente ausdrücklich genehmigt oder zumindest nicht rechtzeitig
beanstandet habe.)

Erwägung 5

    5.- Das Handelsgericht hat die Klage unabhängig vom Vorhalt der
Verspätung auch gutgeheissen, weil die Beklagte die Dokumente nicht zur
Verfügung der Klägerin gehalten, sondern sie ohne deren Einverständnis
am 25. August 1976 einer Speditionsfirma ausgehändigt hat. Es ist der
Auffassung, dass die Beklagte wegen dieser eigenmächtigen Verfügung über
die Dokumente gemäss BGE 90 II 307 verpflichtet ist, der Klägerin die
Akkreditivsumme zu bezahlen.

    a) Im zitierten Urteil führte das Bundesgericht zum Sinn und Zweck des
Akkreditivs und zu Art. 10 Abs. 1 ERG (Fassung 1951) insbesondere aus,
der Verkäufer müsse sich auf die vollständige und unbeschwerte Rückgabe
der Dokumente verlassen können, damit ihm die Verfügungsgewalt über die
Ware erhalten bleibe, wenn die Akkreditivbank die eingereichten Papiere
aus irgendwelchen Gründen nicht aufnehme; nur dann erfülle das Akkreditiv
seinen Sicherungszweck zum Schutze des Verkäufers. Dieser Zweck verlange
auch, dass jedes Verhalten der Bank, die dem Verkäufer die Verfügungsgewalt
über die Ware nehme, die gleichen Folgen habe wie die vorbehaltlose
Aufnahme der Dokumente. Die Akkreditivbank widerspreche sich selbst,
wenn sie die Dokumente als ungenügend bezeichne, aber gleichzeitig über
sie und damit über die Ware in irgendeiner Weise verfüge; sie sei auch
diesfalls zur Zahlung verpflichtet.

    Diese Erwägungen haben grundsätzliche Bedeutung und gelten auch für
die Richtlinien der Internationalen Handelskammer in der 1974 revidierten
Fassung, insbesondere für Art. 3 und 8 ERG. Sie decken sich zudem mit der
herrschenden Lehre, wonach die Akkreditivbank zur Zahlung verpflichtet
ist, wenn sie die eingesandten Dokumente mangels Übereinstimmung mit dem
Akkreditiv nicht aufnehmen will, aber darüber zum Nachteil des Einsenders
anderweitig verfügt (ZAHN, aaO S. 143 und 146; EISEMANN, aaO S. 79;
H. REICHWEIN, in SJZ 61/1965 S. 56).

    Die Beklagte hält dem unter Berufung auf ein Rechtsgutachten entgegen,
dass die in BGE 90 II 306 ff. enthaltenen Grundsätze sowie Art. 8 lit. b-g
ERG nur im Verhältnis zwischen zwei Banken, nicht aber für die Beziehungen
des Begünstigten zur Akkreditivbank gälten. Darin ist dem Gutachten indes
nicht zu folgen. Gewiss beziehen sich diese Richtlinien teilweise nur auf
den Verkehr unter Banken; das gilt z.B. für die in Art. 8 lit. enthaltene
Regel, dass Reklamationen unter Angabe der Gründe auf schnellstem Wege
mitzuteilen sind. Andere Bestimmungen, so Art. 8 lit. d, enthalten dagegen
zu Recht keine solchen Einschränkungen. Es versteht sich schon nach
dem Zweck des Akkreditivs, dass sich der Begünstigte ebenfalls auf den
Grundsatz berufen kann, wonach nicht aufgenommene Dokumente zur Verfügung
gehalten oder zurückgegeben werden müssen (Art. 8 lit. e in fine); wenn
eine Akkreditivbank weder das eine noch das andere tut, braucht er sich
folglich auch die in Art. 8 lit. f erwähnten Einreden nicht gefallen zu
lassen (ZAHN, aaO S. 143 und 145/6; EISEMANN, aaO S. 79). Was nach BGE 90
II 307 schon früher allgemein anerkannt war, wurde 1974 in Art. 8 lit. f
ERG für das Verhältnis unter Banken ausdrücklich bestätigt, aber nicht
auf deren Beziehungen beschränkt, weil dies der Funktion des Akkreditivs
stracks zuwiderliefe.

    b) Die Beklagte bestreitet nicht, dass sie die von der Klägerin
vorgelegten Seekonnossemente am 25. August 1976 einer Speditionsfirma
zugestellt und dafür von dieser eine "Spediteur-Übernahmebescheinigung"
erhalten hat. Sie hält dagegen daran fest, dass sie dadurch ihre Pflichten
aus dem Besitz der Dokumente nicht mehr habe verletzen können, da ihr
Akkreditiv bereits am 20. August abgelaufen sei. Dieser Standpunkt ist
schon von der Vorinstanz zu Recht als unhaltbar bezeichnet worden. Die
Beklagte blieb auch nach Ablauf des Akkreditivs verpflichtet, die als
ungenügend erachteten Dokumente zurückzugeben. Sie verkennt erneut, dass
die Dokumente die Ware repräsentieren und der Anspruchsberechtigte sich
damit auszuweisen hat, eine pflichtwidrige Abtretung der Dokumente an einen
Dritten folglich einer unzulässigen Verfügung über die Ware gleichkommt.

    Dank der Konnossemente konnte die Speditionsfirma das am 27. August in
Antwerpen eintreffende Schiff denn auch löschen lassen, was die Beklagte
nicht zu widerlegen sucht; sie anerkennt vielmehr, die Dokumente gerade zu
diesem Zweck hingegeben zu haben. Streitig ist, ob die Speditionsfirma
hierauf die Ware zur eigenen oder zur Verfügung des Zweitkäufers
gehalten hat. Das ist jedoch unerheblich, da die Sendung nach der
Übernahmebescheinigung des Spediteurs nicht nur zuhanden des Zweitkäufers
entgegengenommen, sondern vom Erstkäufer auch übergeben worden ist. Damit
war die Ware der Verfügungsgewalt der Beklagten und der Klägerin entzogen,
was dieser am 7. September 1976 von der Speditionsfirma bestätigt, aber
nur gestützt auf die zu Unrecht ausgehändigten Konnossemente möglich wurde.
   c) ...

    d) Es bleibt daher beim Vorwurf des Handelsgerichtes, dass
die Beklagte die ihr vorgelegten Seekonnossemente ohne Zustimmung
der Klägerin weitergegeben hat, wie wenn sie alle Dokumente als
ordnungsgemäss aufgenommen hätte. Unter diesen Umständen konnte sie
die Aufnahme nicht nachträglich mit der Begründung ablehnen, dass ihr
innert der vorgesehenen Frist keine einwandfreien Dokumente eingereicht
worden seien. Als Akkreditivbank hätte sie sich auf die ihr zukommenden
Aufgaben beschränken sollen, statt sich mit Rücksicht auf Interessen und
das Verhalten anderer Beteiligter um Einzelheiten des Grundgeschäftes zu
kümmern, die aus dem Akkreditiv begünstigte Klägerin dagegen unbedacht
zu übergehen. Dass die Formstrenge des Akkreditivrechts keiner Partei
unredliche Vorteile verschaffen darf, hilft der Beklagten nicht, da
solche Wirkungen jedenfalls zugunsten der Klägerin nicht zu ersehen
sind. Diese hatte Anspruch darauf, entweder aus dem Akkreditiv bezahlt
zu werden oder alle Dokumente unverändert zurückzubekommen und damit
die Verfügungsgewalt über die Ware zu behalten. Letzteres aber hat die
Beklagte durch ihr eigenmächtiges Vorgehen vereitelt, weshalb die Klägerin
die Akkreditivsumme beanspruchen kann.