Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 II 255



104 II 255

42. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Oktober 1978 i.S.
Bissig gegen Bissig und Mitbeteiligte Regeste

    Bäuerliches Erbrecht: Ungeteilte Zuweisung eines landwirtschaftlichen
Gewerbes zum Ertragswert (Art. 620 ZGB).

    Die ungeteilte Zuweisung eines landwirtschaftlichen Gewerbes, das
keine Wohnstätte umfasst, an einen geeigneten Erben, der Miteigentümer
des von ihm bewohnten, unter dem Gesichtspunkt der Bewirtschaftung des
Gewerbes günstig gelegenen Hauses ist, ist zulässig.

Sachverhalt

    A.- Zum Nachlass des am 27. Dezember 1973 verstorbenen Josef Bissig
gehört das landwirtschaftliche Grundstück Geissmattli/Rütheliweid
(Grundbuch Wolfenschiessen Nr. 558) mit einer Gesamtfläche von rund 9
Hektaren, auf dem eine Scheune mit Stall, jedoch kein Wohnhaus steht.

    Am 23. Januar 1976 reichte Franz Bissig-Feierabend, ein gesetzlicher
Erbe des Josef Bissig, beim Kantonsgericht von Nidwalden gestützt
auf Art. 620 ZGB Klage ein auf ungeteilte Zuweisung der Liegenschaft
Geissmattli/Rütheliweid zum Ertragswert von Fr. 33'500.-. Diesem Begehren
schlossen sich siebzehn seiner neunzehn Miterben an. Alfred Bissig-Mathis,
ebenfalls gesetzlicher Erbe des Josef Bissig, erhob Widerklage mit dem
Antrag, die Liegenschaft sei zu den gleichen Bedingungen ihm zuzuweisen. Er
wurde darin vom Miterben Walter Bissig-Töngi unterstützt.

    Mit Urteilen vom 16. Februar/2. März 1977 bzw. vom 1. Dezember 1977
hiessen das Kantons- und das Obergericht von Nidwalden die Klage gut.

    Gegen den zweitinstanzlichen Entscheid hat Alfred Bissig unter
Erneuerung der im kantonalen Verfahren gestellten Anträge Berufung erhoben.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Dass die streitige Liegenschaft unter dem Gesichtspunkt der
Betriebsgrösse und der Ertragsfähigkeit des Landes eine ausreichende
landwirtschaftliche Existenz zu bieten vermag, hat der Berufungskläger
schon im kantonalen Verfahren anerkannt. Hingegen macht er geltend, das
Grundstück könne wegen des Fehlens einer dazugehörenden Wohngelegenheit
für den Betriebsinhaber nicht als wirtschaftliche Einheit im Sinne von
Art. 620 Abs. 1 ZGB bezeichnet werden; sollte dem Übernehmer zugestanden
werden müssen, dass er diese Voraussetzung nachträglich noch schaffe,
müssten bei der Ermittlung des Ertrages, den die Liegenschaft abwerfe,
die Kosten für den Bau eines geeigneten Wohnhauses oder für die Miete
einer angemessenen Wohnung mitberücksichtigt werden, was dann die Annahme
nicht mehr zulassen würde, es sei eine ausreichende landwirtschaftliche
Existenz gewährleistet.

    Es trifft zu, dass in Rechtsprechung und Lehre allgemein dafür gehalten
wird, die ungeteilte Zuweisung eines landwirtschaftlichen Gewerbes
zum Ertragswert setze grundsätzlich voraus, dass dieses nicht nur die
notwendigen Ökonomiegebäude, sondern auch eine geeignete Wohnstätte für
den Betriebsinhaber aufweise (vgl. BGE 89 II 20 E. 1b; 82 II 7 f.; 50 II
328; SCHER, N. 23 zu Art. 620 ZGB; TUOR/PICENONI, N. 6 zu Art. 620 ZGB;
KAUFMANN, Das neue ländliche Bodenrecht der Schweiz, S. 115; COMMENT,
Le droit successoral paysan, in ZBJV 90/1954, S. 333; STEIGER, Zur
Frage des Anwendungsbereiches und der Geltungskraft des bäuerlichen
Erbrechts sowie der allgemeinen Voraussetzungen der Integralzuweisung
eines landwirtschaftlichen Gewerbes, Berner Diss. 1966, S. 54 und 69;
STUDER, Die Integralzuweisung landwirtschaftlicher Gewerbe nach der
Revision des bäuerlichen Zivilrechts von 1972, Freiburger Diss. 1975, S.
97). BOREL/NEUKOMM (Das bäuerliche Erbrecht, 4. A., S. 31) sind immerhin
der Ansicht, es sei nicht zu schematisch vorzugehen und das Vorhandensein
einer Wohnung nicht zur unumstösslichen Bedingung zu machen.

    Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der
Vorinstanz hat der Berufungsbeklagte Nr. 1 das streitige Grundstück,
auf dem ein Wohnhaus fehlt, seit zehn Jahren gepachtet und während
dieser Zeit stets in einer Wohnung des Parketteriegebäudes gelebt, das
100 bis 150 Meter vom Stall entfernt steht und in dem auch schon der
Erblasser gewohnt hatte. Der Berufungsbeklagte Nr. 1 ist Miteigentümer
des erwähnten Hauses. Es drängt sich bei dieser Sachlage die Frage auf,
ob die objektiven Voraussetzungen einer Zuweisung gemäss Art. 620 ZGB unter
Umständen auch dann als erfüllt zu betrachten seien, wenn die notwendigen
Elemente (genügende Landfläche, Ökonomiegebäude und Wohnstätte) zwar nicht
alle zur Erbschaft gehören aber durch die Integralzuweisung eigentumsmässig
zusammenkämen.

    Die am 15. Februar 1973 in Kraft getretene Neufassung des Art. 620
Abs. 2 ZGB sieht vor, dass bei der Beurteilung, ob eine ausreichende
landwirtschaftliche Existenz gegeben sei, auch Anteile an Liegenschaften
und für längere Dauer mitbewirtschaftete Liegenschaften berücksichtigt
werden können, wobei zum Beispiel an Fälle gedacht wurde, da der Erblasser
eine Liegenschaft seit langem und noch für lange Zeit zum fraglichen
Gewerbe hinzugepachtet hatte (vgl. Amtl. Bull. S 1971 S. 403). Durch
die Novelle wurden also nachlassfremde Kriterien eingeführt. Gewiss
liegen diese auf seiten des Erblassers, wogegen es hier darum geht,
ob ein objektiver Umstand auf seiten des möglichen Übernehmers in
Betracht gezogen werden könne. Der wirtschaftliche Effekt ist indessen
in beiden Fällen der gleiche (vgl. ESCHER, Ergänzungslieferung zum
landwirtschaftlichen Erbrecht, N. 6 zu Art. 620 ZGB), so dass auch aus
der Sicht des Zwecks der Bestimmungen über das bäuerliche Erbrecht, einen
gesunden und leistungsfähigen Bauernstand zu erhalten und bestehende
landwirtschaftliche Betriebe vor der Zersplitterung zu bewahren (BGE 95
II 395 mit Hinweisen), kein Unterschied besteht. Eine unterschiedliche
Behandlung wäre hier um so weniger angebracht, als die durch den neuen
Art. 620 Abs. 2 ZGB zugelassenen Entscheidungsfaktoren sehr oft auf
obligatorischen Rechtsgeschäften beruhen und insofern - wegen der
allfälligen Einflüsse Dritter - eine Ungewissheit in sich bergen,
was bei der Tatsache, dass der mögliche Übernehmer Eigentümer bzw.
Miteigentümer einer geeigneten Wohnstätte ist, nicht zutrifft.

    Die Annahme der Vorinstanz, die objektiven Voraussetzungen für eine
Integralzuweisung seien unter Berücksichtigung der dem Berufungsbeklagten
Nr. 1 zur Verfügung stehenden Wohnung erfüllt, verstösst nach dem Gesagten
nicht gegen Bundesrecht, zumal bei den gegebenen Entfernungen das Land
ohne weiteres von einem Zentrum aus durch die gleichen Arbeitskräfte
zweckmässig bewirtschaftet werden kann (vgl. BGE 89 II 19). Bei dieser
Sachlage waren von vornherein keine Kosten für den Bau eines Wohnhauses
bzw. für die Miete einer geeigneten Wohnung zu berücksichtigen, so dass
der Entschluss des Obergerichts, trotz Antrag des Berufungsklägers kein
entsprechendes Gutachten einzuholen, nicht zu beanstanden ist.