Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 II 23



104 II 23

5. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 3. Januar 1978
i.S. Karrer gegen Idtensohn und Frei Regeste

    Art. 56 Abs. 1 OR. Haftung des Tierhalters.

    1. Entscheidend für den Begriff des Halters ist, dass dieser in einem
Gewaltverhältnis zum Tier steht und darüber verfügen kann (E. 2a).

    2. Umstände, die den Nutzniesser eines Pferdes als Tierhalter
erscheinen lassen und eine gleichzeitige Haftung des Eigentümers
ausschliessen (E. 2b und c).

    3. Eine erfahrene Reiterin haftet für den durch das Pferd angerichteten
Schaden, wenn sie sich schuldhaft verhält (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Am Nachmittag des 18. November 1967 unternahmen

    Diana Idtensohn, Mario Karrer und vier andere Herren vom Breitfeld
bei St. Gallen einen Geländeritt in Richtung Schloss Oberberg. Diana
Idtensohn ritt das 3 bis 4jährige Pferd "Globus", das sie schon seit
14 Tagen regelmässig von der Reitanstalt des Albert Frei gemietet und
teilweise auch selbst gepflegt hatte.

    Als die Reitergruppe sich unterwegs auf einer nahezu ebenen Wiese
befand, hielt Karrer sein Pferd 35-40 m vor einem Weidhag, den er als
Hindernis benutzen wollte, kurz an. Diana Idtensohn, die bis dahin aus
Vorsicht immer am Schlusse der Gruppe geritten war, wartete zu diesem
Zeitpunkt etwa 5 m schräg vor dem Pferd Karrers, dem sie vermutlich den
Vortritt lassen wollte. Plötzlich scheute ihr Pferd, wich einige Schritte
rückwärts und schlug aus. Es traf das rechte Bein Karrers, der durch den
Hufschlag einen offenen Unterschenkelbruch erlitt.

    B.- Im Februar 1972 belangte Karrer Diana Idtensohn und Albert Frei,
die er für solidarisch haftbar hielt.

    Das Bezirksgericht St. Gallen und auf Appellation hin am 11. Juni
1976 auch das Kantonsgericht St. Gallen erklärten die Beklagte Idtensohn
für haftbar und wiesen die Klage gegen Frei ab.

    C.- Die Beklagte und der Kläger haben Berufung eingelegt. Diana
Idtensohn beantragt, das Urteil des Kantonsgerichtes aufzuheben, ihre
Haftung zu verneinen und die Klage ganz abzuweisen. Karrer begehrt,
dass die Klage grundsätzlich auch gegen den Beklagten Frei geschützt werde.

    Das Bundesgericht weist die beiden Berufungen ab und bestätigt das
angefochtene Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 56 Abs. 1 OR haftet für den von einem Tier angerichteten
Schaden, wer dasselbe hält. Der Halter wird von der Haftung nur befreit,
wenn er beweist, dass er die nach den Umständen gebotene Sorgfalt
beobachtet habe oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt
eingetreten wäre (BGE 102 II 235 und 85 II 245 mit Hinweisen).

    Der Kläger macht geltend, die Vorinstanz habe die Haltereigenschaft
des Beklagten Frei zu Unrecht verneint. Dieser sei Eigentümer des Pferdes
"Globus" gewesen, habe es in seinem Reitstall verwahrt, füttern und pflegen
lassen und auch bestimmt, wer es reiten sollte. Die Beklagte Idtensohn
dagegen wirft dem Kantonsgericht vor, den Begriff des Tierhalters im Sinne
von Art. 56 OR verkannt zu haben, da es den Übergang der Haltereigenschaft
vom Eigentümer auf den Mieter von der nach den Umständen gebotenen
Sorgfalt, insbesondere von der Eigenart des Pferdes abhängig mache. Die
Eigenschaften des Tieres bestimmten wohl das Mass der Sorgfalt, seien
für die Frage, wer als Halter zu gelten habe, jedoch ohne Belang.

    a) Diesen Einwänden ist vorweg entgegenzuhalten, dass die Haftung des
Tierhalters auf gesetzlich überbundenen Sorgfaltspflichten beruht. Weil
ein Tier durch sein Verhalten gefährlich werden und andere schädigen kann,
folglich eine gewisse Sorgfalt erfordert, hat sein Halter für den Schaden,
den es anrichtet, aufzukommen. Ein weiterer Rechtfertigungsgrund seiner
Haftung ist darin zu erblicken, dass der Halter meistens aus dem Tier
einen Nutzen oder Vorteil zieht. Entscheidend für den Begriff des Halters
ist indessen, dass dieser in einem Gewaltverhältnis zum Tier steht,
darüber also verfügen kann; denn zu einer bestimmten Sorgfalt kann nur
verhalten werden, wer tatsächlich in der Lage ist, die Herrschaft oder
Gewalt über das Tier auszuüben (BGE 67 II 122 E. 2 64 II 375 E. 2, 58 II
374). In diesem Sinne erlaubt der Begriff denn auch festzustellen, wer
wegen Verletzung einer Sorgfaltspflicht, wie Art. 56 OR sie voraussetzt,
haftbar erklärt werden soll.

    Haftbar ist, wer zur Zeit der Schädigung Halter ist. Das ist meistens
der Eigentümer, kann aber auch der Nutzniesser sein, wenn jener das Tier
diesem überlassen und letzterer dadurch die Möglichkeit erhalten hat, nicht
nur seine Gewalt über das Tier auszuüben, sondern auch die vom Tierhalter
geforderte Sorgfalt anzuwenden. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so ist
als Halter auch anzusehen, wer das Tier bloss vorübergehend in Gewahrsam
hat. Fragen kann sich diesfalls bloss, ob er allein oder zusammen mit
dem Eigentümer als Halter zu gelten habe oder ob seine Haltereigenschaft
durch eine Unsorgfalt, die der Eigentümer zu vertreten hat, aufgehoben
werde. Das entscheidet sich nicht allgemein, sondern hängt von den
Umständen des Einzelfalles, namentlich von der Art des Tieres sowie den
Befugnissen und dem Verhalten der Beteiligten ab. Allgemein zu beachten
ist immerhin, dass die Verfügungsmacht des Nutzniessers über das Tier zum
vorneherein beschränkt ist, seine Gewaltausübung sich folglich nicht mit
den Rechten eines Eigentümers zu decken braucht (Oftinger, Schweizerisches
Haftpflichtrecht, 3. Aufl. II/1 S. 193/4 und 202 ff.).

    b) Das Kantonsgericht hält die Behauptung des Klägers nicht für
bewiesen, dass das Pferd "Globus" zur Zeit des Unfalles ein "böser
Schläger" gewesen sei. Es stellt fest, der Zeuge Hungerbühler, der
am Geländeritt vom 18. November 1967 teilnahm, habe eine derartige
Charakterisierung des Pferdes ausdrücklich zurückgewiesen und bloss
erklärt, dass die Beklagte Idtensohn ihm vor dem Ritt sagte, ihr Pferd
schlage; er sei aber trotz ihrer Äusserung damit einverstanden gewesen,
dass sie sich der Reitergesellschaft anschloss. Das Kantonsgericht nimmt
sodann in Würdigung des Beweises an, dass es sich um ein noch junges,
übermütiges Tier handelte und dass solche Pferde erfahrungsgemäss
gelegentlich auszuschlagen pflegten, deswegen jedoch nicht als
bösartig gälten. Es stützt seine Annahme mit der Übung der ehemaligen
Eidgenössischen Pferdeanstalt in Thun, solche Pferde für den Unterricht
an Offiziersschulen abzugeben und sie schon nach kurzer Zeit von den
Reitschülern selber satteln zu lassen.

    Die Beklagte Idtensohn wusste um den jugendlichen Übermut des Tieres
und dass es hin und wieder gegen andere Pferde ausschlug. Sie hatte
es, wie das Kantonsgericht weiter feststellt, in den zwei Wochen vor
dem Unfall regelmässig geritten, gepflegt und sich mit seiner Eigenart
vertraut gemacht. Sie bezeichnete es in der Klageantwort als ein durchaus
braves, ja geradezu harmloses Tier ohne böse Eigenschaften. Die Pflege
bestand darin, dass sie das Pferd vor und nach dem Ausreiten putzte und es
auch selber sattelte und säumte. Dazu kommt, dass die Beklagte mit dem
Eigentümer ein Pauschalentgelt von Fr. 150.- im Monat vereinbarte, die
sog. A-Lizenz besass und als gute Durchschnittsreiterin galt. Nach diesen
Umständen muss sie für die Zeit, in der sie das Pferd in Gewahrsam hatte,
als Tierhalterin betrachtet werden. Sie verfügte nicht nur selbständig
über das Pferd, sondern war als erfahrene Reiterin auch in der Lage,
die von einem Tierhalter verlangte Sorgfalt anzuwenden.

    Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte das Pferd angeblich nicht
auswählen konnte, ihre Verfügungsmacht sich auf die Befugnisse eines
Reiters beschränkte und dass "Globus" auch anderen Personen zum Ausreiten
überlassen wurde. Es genügt, dass die Beklagte jeweils während ein paar
Stunden die faktische Gewalt über "Globus" hatte und diese auch ausüben
konnte, zumal der Eigentümer ihr nach eigenen Angaben bereits seit 14
Tagen das gleiche Pferd zuteilen liess, auf ihre Vertrautheit mit dem Tier
also bewusst Rücksicht nahm. Es lässt sich im Ernst auch nicht sagen,
die Verfügungsgewalt eines erfahrenen Reiters werde durch allgemeine
Weisungen des Vermieters, wie z.B. ein Pferd zu schonen oder müde zu
reiten, entscheidend beeinflusst oder gar aufgehoben. Solche Weisungen,
für die dem angefochtenen Urteil übrigens nichts zu entnehmen ist, können
nur heissen, dass der Mieter seine Reitweise dem jeweiligen Zustand des
Pferdes anzupassen hat, was sich schon von selbst versteht.

    c) Nach dem, was in tatsächlicher Hinsicht feststeht, hatte der
Beklagte Frei bis zum Unfall keinen Anlass, das Pferd "Globus" wegen
dessen jugendlichen Übermutes oder weil es gelegentlich gegen andere Pferde
ausschlug, nicht zum Ausreiten herzugeben. Was der Kläger zur Begründung
seiner gegenteiligen Auffassung vorbringt, scheitert an den Feststellungen
der Vorinstanz über die Eigenart des Pferdes und ist daher als unzulässige
Kritik an der Beweiswürdigung des Kantonsgerichtes nicht zu hören. Da die
Beklagte Idtensohn mit der Eigenart des Tieres bereits vertraut war und
als gute Reiterin galt, brauchte der Vermieter ihr auch keine besonderen
Weisungen zu erteilen oder sie gar vor dem Pferd zu warnen. Er durfte nach
Treu und Glauben vielmehr davon ausgehen, dass die Beklagte im Umgang mit
"Globus" die wegen dessen Alters gebotene Vorsicht beachten werde.

    Bei dieser Sachlage geht es nicht an, den Beklagten Frei für die
Zeit des Unfalles als Tierhalter bezeichnen zu wollen, weil er Eigentümer
des Pferdes war, es in seinem Reitstall verwahren und pflegen liess, es
bestimmten Reitern zuteilte und damit Geld verdiente. Entscheidend für
die Tierhalterschaft ist, dass das Pferd, wenn jeweils auch nur für einige
Stunden, in den Gewahrsam einer erfahrenen Reiterin überging und diese in
der Lage war, andere vor einer Schädigung durch das Tier zu bewahren. Die
Halterschaft muss nicht durch eine längere Dauer der Beziehung zum Tier
"ersessen" werden (OFTINGER, aaO, S. 203/4). Als Tierhalter während der
Reitstunden, folglich auch zur Zeit des Unfalles, ist daher im vorliegenden
Fall nur die Beklagte Idtensohn anzusehen. Damit ist der Berufung des
Klägers, der auch den Beklagten Frei als Halter behandelt wissen will,
die Grundlage entzogen.

Erwägung 3

    3.- Die Beklagte Idtensohn versucht ihrer Haftung vor allem mit
dem Einwand zu entgehen, dass nach einer Grundregel im Reitsport der
nachfolgende Reiter auf vorangehende Pferde Rücksicht nehmen müsse.

    Der Einwand geht schon deshalb fehl, weil sie gerade wegen des Alters
und der Eigenart ihres Pferdes bis zur Unfallstelle am Schlusse der Gruppe
neben Hungerbühler geritten sein will. Das kann nur heissen, dass sie sich
der Gefahr, die ihr Pferd in einer vorderen Position für andere schuf,
durchaus bewusst war. Das entspricht nicht nur ihren eigenen Angaben
im kantonalen Verfahren, wonach es sich bei jungen Pferden empfehle, am
Schlusse der Gruppe zu reiten. Ihr Verhalten bis zur Unfallstelle deckt
sich auch mit den Aussagen Hungerbühlers, der trotz ihrer negativen
Äusserung über "Globus" damit einverstanden war, dass sie sich der
Reitergesellschaft anschloss, also hinten Platz nahm. Umsoweniger ist zu
verstehen, dass sie auf der offenen Wiese, wo der Unfall sich ereignete,
ihr Pferd vor dasjenige des Klägers lenkte und anhielt, statt ihren Platz
zu behalten oder seitlich auszuscheren.

    Das Kantonsgericht macht ihr wegen dieses Verhaltens mit Recht den
Vorwurf, unüberlegt gehandelt zu haben. Bei diesem Ergebnis kann offen
bleiben, ob sie auf das Scheuen des Pferdes richtig reagiert habe, um zu
vermeiden, dass es gegen dasjenige des Klägers zurückwich. So oder anders
hat sie den ihr nach Art. 56 Abs. 1 OR obliegenden Entlastungsbeweis nicht
erbracht. Es muss ihr vielmehr, wie das Kantonsgericht beifügt, eine für
den Unfall kausale Pflichtverletzung in der Beaufsichtigung des Pferdes
vorgeworfen werden, weshalb sie für den Schaden auch nach den Vorschriften
über die Verschuldenshaftung aufzukommen hätte (vgl. BGE 102 II 260 E. 2a).