Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 II 216



104 II 216

36. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. Juni 1978 i.S.
Gaberell gegen Teron AG Regeste

    Art. 48 Abs. 1 OG; Begriff des Endentscheids.

    Gegen einstweilige Verfügungen im Sinne von Art. 326 der bernischen
Zivilprozessordnung (im vorliegenden Fall Ausweisung eines Mieters)
ist die Berufung nicht zulässig.

Sachverhalt

    A.- Mit Kaufvertrag vom 4. März 1969 veräusserte Hans Gaberell
seine Liegenschaft Grundbuch Nr. 207 in der Gemeinde Nidau, bestehend
aus einem Wohnhaus, einer Werkstatt und Umschwung von 14,98 Aren, an die
Teron AG. Die Werkstatt nebst Zugehör wurde nicht mitverkauft, sondern
sollte als Fahrnisbaute im Eigentum des Verkäufers bleiben. Nutzen und
Schaden sollten am 1. November 1969 auf die Käuferin übergehen. Durch
mündliche Abrede wurde in der Folge der Antritt des Kaufobjektes durch
die Käuferin auf unbestimmte Zeit aufgeschoben und dem Verkäufer auf diese
Weise ermöglicht, weiterhin die Werkstatt zu benutzen und im Wohnhaus zu
verbleiben. Die Käuferin wurde im Grundbuch als Eigentümerin eingetragen.

    Am 2. April 1977 kündigte die Käuferin das Mietverhältnis. Als
der Kündigungstermin verstrichen war, ohne dass der Verkäufer auszog,
reichte sie ein Exmissionsgesuch gegen diesen ein. Der Gerichtspräsident
des Amtsbezirkes Nidau entsprach dem Gesuch und wies den Gesuchsgegner an,
die Werkstatt auf der veräusserten Liegenschaft bis spätestens 30. April
1978 abzubrechen sowie das gesamte Areal bis zum gleichen Zeitpunkt zu
räumen und ordnungsgemäss zu verlassen. Der Appellationshof des Kantons
Bern wies die vom Gesuchsgegner gegen diesen Entscheid eingereichte
Appellation ab und bestätigte am 9. Februar 1978 die vom erstinstanzlichen
Richter getroffene Ausweisungsverfügung.

    Gegen das Urteil des Appellationshofs erhob der Gesuchsgegner Berufung
ans Bundesgericht. Das Bundesgericht tritt nicht auf die Berufung ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Im Vordergrund steht die Frage, ob es sich beim angefochtenen
Entscheid um einen Endentscheid im Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG handle,
gegen welchen die Berufung an das Bundesgericht zulässig ist. Ein solcher
liegt nach der Rechtsprechung nur vor, wenn der kantonale Richter über
den streitigen Anspruch materiell entschieden oder dessen Beurteilung aus
einem Grunde abgelehnt hat, der endgültig verbietet, dass der gleiche
Anspruch zwischen den gleichen Parteien nochmals geltend gemacht wird
(BGE 103 II 251; 102 II 61; 101 II 362; 100 II 287, 429; 98 II 154/155
mit Hinweisen). Ein Endentscheid liegt unter anderem dann nicht vor, wenn
nur um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht wurde, der streitige Anspruch
mithin zum Gegenstand eines neuen Verfahrens gemacht werden kann (BGE 103
II 251; 101 II 362; 97 II 187 E. 1). Keinen endgültigen Charakter haben
daher die einstweiligen Verfügungen, mit denen vorsorgliche Massnahmen
angeordnet werden (BGE 101 II 65; 96 II 427; 94 II 59 E. 3; 86 II 294;
85 II 195; 75 II 95 E. 1; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht,
2. Aufl., S. 559; BIRCHMEIER, Handbuch des OG, S. 165/166; WURZBURGER,
Les conditions objectives du recours au Tribunal fédéral, S. 191
ff.; A. STÄHELIN, Die objektiven Voraussetzungen der Berufung an das
Bundesgericht, ZSR 94/1975, II, S. 23 f.).

    a) Der angefochtene Entscheid erging in Anwendung von Art. 326 Ziffer
2 ZPO/BE, der seinen Platz im Titel über die einstweiligen Verfügungen
hat und folgendermassen lautet:

    "Der Richter kann auf Gesuch eines Beteiligten als vorsorgliche

    Massnahme eine einstweilige Verfügung treffen, sofern ihm glaubhaft
   gemacht wird, dass der Erlass einer solchen sich aus einem der folgenden

    Gründen rechtfertigt:
   ...

    2. zum Schutze eines bedrohten Besitzstandes sowie zur Wiedererlangung
   eines widerrechtlich entzogenen oder vorenthaltenen Besitzes; ..."
Art. 330 ZPO/BE bestimmt sodann, dass dem Gesuchsteller beim Zuspruch der
einstweiligen Verfügung gegebenenfalls eine angemessene Frist zur Anhebung
des Hauptprozesses anzusetzen sei, ansonst die einstweilige Verfügung
dahinfalle; die Entscheidung über die einstweilige Verfügung falle im
übrigen dahin, sobald über die Sache selbst ein rechtskräftiges Urteil
ergangen sei. Und Art. 332 Abs. 1 ZPO/BE sieht schliesslich vor, dass eine
Partei, welcher durch eine einstweilige Verfügung Schaden verursacht wurde,
auf dem Wege des ordentlichen Prozesses Klage auf Ersatz dieses Schadens
erheben könne, "sofern die Massnahmen unbegründet waren oder ihnen ein
materiell-rechtlicher Anspruch nicht zugrunde lag".

    b) Der angefochtene Entscheid hat somit insofern bloss vorläufigen
Charakter, als ein ordentlicher Prozess vorbehalten bleibt. Allerdings ist
zur Anhebung eines solchen Prozesses keine Frist angesetzt worden; dies
offenbar deshalb, weil damit eine Änderung der durch die einstweilige
Verfügung geschaffenen Sachlage nicht erreicht, sondern nurmehr über
einen Schadenersatzanspruch des unterlegenen Gesuchsgegners und heutigen
Berufungsklägers verhandelt werden könnte (in diesem Sinne LEUCH, Die
ZPO für den Kanton Bern, 3. Aufl., N. 1 zu Art. 330, S. 308 oben). Der
Berufungskläger muss daher trotz des einstweiligen Charakters der ihm
gegenüber getroffenen Massnahme hinnehmen, dass er die von ihm benützte
Werkstatt abbrechen und das Areal räumen muss, bevor er in einem
ordentlichen Verfahren sein allfälliges besseres Recht geltend machen
und Wiedergutmachung verlangen kann. Es fragt sich, ob die Berufung nicht
mit Rücksicht darauf als zulässig zu betrachten sei.

    c) Der Begriff des Endentscheids hat in der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Befehlsverfahren des
zürcherischen Prozessrechts eine gewisse Wandlung erfahren, indem
die Weiterzugsmöglichkeit im Vergleich zu früher erweitert worden
ist. Obwohl Entscheide, die im zürcherischen Befehlsverfahren ergingen,
früher (d.h. bis zu der am 1. Januar 1977 in Kraft getretenen neuen ZPO)
keine Rechtskraftwirkung gegenüber Urteilen im ordentlichen Verfahren
entfalteten und somit keinen endgültigen Charakter aufwiesen, hat das
Bundesgericht die Berufung dagegen in neuerer Zeit zugelassen, soweit eine
gegenüber dem Beklagten angeordnete Massnahme während längerer Zeit ihre
Wirkungen entfalten und sogar Gegenstand der Vollstreckung bilden konnte
(BGE 102 II 62 E. 2; 100 II 287 ff.). In diesem Zusammenhang wurde unter
anderm folgendes ausgeführt:

    "So muss sich der im Befehlsverfahren aus seiner Wohnung ausgewiesene

    Mieter gefallen lassen, ausgeschafft zu werden, auch wenn er die

    Möglichkeit behält, beim ordentlichen Richter auf Rückerstattung der

    Wohnung oder auf Schadenersatz zu klagen...

    Mit Rücksicht auf diese Auswirkungen der ein Befehlsbegehren
   gutheissenden Entscheidung lässt es sich verantworten, die

    Berufungsfähigkeit solcher Entscheide jedenfalls dann zu bejahen,
   wenn diese nicht zwangsläufig zu einem ordentlichen Verfahren

    Anlass geben (wie dies bei den vorsorglichen Massnahmen der Fall ist),
   sondern in der Regel für längere Zeit oder sogar endgültig Recht
   schaffen" (BGE 100 II 289).
Angesichts dieser Entwicklung der Rechtsprechung stellt sich die Frage,
ob nicht auch die hier angefochtene Ausweisung des Berufungsklägers auf
Grund der soeben zitierten Erwägung Gegenstand einer Berufung bilden
könne. Dem steht indessen folgender Umstand entgegen:

    Der provisorische Charakter der einstweiligen Verfügungen gemäss
Art. 326 ZPO/BE zeigt sich auch darin, dass die anspruchsbegründenden
Tatsachen nicht bewiesen, sondern nur glaubhaft gemacht werden
müssen. Der Entscheid beruht somit in tatsächlicher Hinsicht nicht auf
einer abschliessenden Prüfung des Streitfalles; diese bleibt vielmehr
dem ordentlichen Prozess vorbehalten (LEUCH, aaO, N. 3 zu Art. 326;
KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 2. Aufl. S. 233). Hierin
besteht ein grundlegender Unterschied zum zürcherischen Befehlsverfahren,
das zur schnellen Handhabung klaren Rechts nur zulässig ist, sofern die
tatsächlichen Verhältnisse nicht streitig oder sofort beweisbar sind (alt §
292 Ziff. 1 und neu § 222 Ziff. 2 ZPO/ZH). Die Überprüfung eines Entscheids
im Berufungsverfahren vor Bundesgericht setzt aber notwendigerweise voraus,
dass die tatsächlichen Verhältnisse im kantonalen Verfahren nicht nur
provisorisch, sondern in endgültiger Weise geklärt wurden. Das ergibt
sich einmal aus der in Art. 63 Abs. 2 OG vorgeschriebenen Bindung des
Bundesgerichts an die Feststellungen der letzten kantonalen Instanz über
tatsächliche Verhältnisse und sodann aus der Ausgestaltung der Verletzung
bundesrechtlicher Beweisregeln zum Berufungsgrund (Art. 43 Abs. 3 und 63
Abs. 2 OG); Art. 8 ZGB als wichtigste Regel dieser Art lässt es nicht
zu, dass der Richter zugunsten der beweisbelasteten Partei auf bloss
glaubhaft gemachte (mithin nicht bewiesene) Tatsachen abstellt (KUMMER,
N. 84 zu Art. 8 ZGB). Aber auch mit der Beschränkung der Berufungsfähigkeit
auf Entscheide endgültigen Charakters ist es nicht vereinbar, dass das
Bundesgericht als Berufungsinstanz auf Grund eines nicht näher abgeklärten
Sachverhaltes urteilt. Das Fehlen einer zuverlässigen Urteilsgrundlage in
tatsächlicher Hinsicht muss daher zu Folge haben, dass das Bundesgericht
auf die Berufung gegen einstweilige Verfügungen gemäss Art. 326 ZPO/BE
nicht eintreten kann.

Erwägung 3

    3.- In BGE 101 II 359/360 hat die I. Zivilabteilung des Bundesgerichts
den in einem summarischen Verfahren gefällten Entscheid über die
Ausweisung eines Mieters als nicht berufungsfähig bezeichnet. Soweit
dort das Nichteintreten damit begründet wurde, es handle sich bei
einer solchen Ausweisung um ein blosses Vollstreckungsverfahren, das
vom kantonalen Prozessrecht beherrscht werde und daher der Berufung
an das Bundesgericht nicht unterliege, könnte daran nicht festgehalten
werden. Die I. Zivilabteilung ist denn auch in einem neueren Entscheid,
der sich auf einen Zürcher Fall bezog, von dieser Auffassung abgerückt
und hat entschieden, dass ein Ausweisungsverfahren, in dem über den
Rückgabeanspruch des Vermieters geurteilt werde, ein Erkenntnisverfahren
darstelle, bei dem es um den materiellen Bestand des geltend gemachten
Anspruchs gehe und nicht um seine Vollstreckbarkeit (BGE 103 II 250/251
E. 1a). Wenn in diesem neueren Urteil auf die Berufung gegen den kantonalen
Entscheid eingetreten wurde, so deshalb, weil es sich dabei um einen
solchen im Befehlsverfahren zur schnellen Handhabung klaren Rechts nach
der neuen Zürcher Zivilprozessordnung handelte. Da diesem Entscheid eine
unbeschränkte Rechtskraftwirkung zukam, konnte kein Zweifel daran bestehen,
dass er als Endentscheid im Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG zu betrachten war
(vgl. BGE 103 II 251/252 E. 1b).

    Wird jedoch über die Ausweisung eines Mieters im Unterschied zum
soeben erwähnten Fall im Verfahren der einstweiligen Verfügungen oder
vorsorglichen Massnahmen entschieden, in dem die blosse Glaubhaftmachung
der anspruchsbegründenden Tatsachen genügt, kann es sich aus den in
Erwägung 2 c dargelegten Gründen nicht um einen Endentscheid handeln,
der mit Berufung an das Bundesgericht weitergezogen werden kann. Daran
ändert auch der Hinweis auf den Besitzesschutz in Art. 326 Ziff. 2
ZPO/BE nichts. Nach der Auffassung von KUMMER müsste die Geltendmachung
des Besitzesschutzanspruches im Unterschied zur Rechtsprechung des
Bundesgerichts (vgl. BGE 94 II 348 ff.; 85 II 275 ff.) zwar nicht
notwendigerweise zu einem nicht berufungsfähigen Entscheid führen
(vgl. die Kritik dieses Autors an BGE 94 II 353 f.E. 3 in ZBJV 106/1970, S.
130/131). Im vorliegenden Fall war jedoch nicht über eine bundesrechtliche
Besitzesklage zu entscheiden. KUMMER weist in seinem Grundriss des
Zivilprozessrechts selber darauf hin, dass es sich bei der einstweiligen
Verfügung gemäss Art. 326 Ziff. 2 ZPO/BE nicht um den bundesrechtlichen
Besitzesschutz handeln könne, da dieser ein ordentliches Verfahren
voraussetze, das sich nicht mit einer bloss summarischen Kognition begnüge
(aaO, S. 235).

    Man mag es unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzes als
unbefriedigend empfinden, dass ein Mieter oder Pächter durch eine
vorsorgliche Massnahme aus- oder weggewiesen werden kann, ohne dass ihm
dagegen der Weg der Berufung an das Bundesgericht offen steht. Dies ist
jedoch eine Folge der kantonalen Prozesshoheit und kann nicht dadurch
korrigiert werden, dass der Begriff des Endentscheids im Sinne von Art. 48
Abs. 1 OG noch extensiver ausgelegt und auf einstweilige Verfügungen
ausgedehnt wird.