Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 II 198



104 II 198

32. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 26. Juni 1978
i.S. Erben Eichenberger gegen Widmer Regeste

    Art. 97 Abs. 1 OR. Berechnung des Schadens bei Nichterfüllung.

    1. Art. 191 Abs. 2 und Abs. 3 OR verbieten dem Richter nicht, sich
bei der Schadensberechnung für einen Grundstückkauf auf ähnliche Kriterien
zu stützen.

    2. Die blosse Verwendung objektiver Elemente macht eine
Schadensberechnung zudem nicht zu einer abstrakten.

Sachverhalt

    A.- Mit öffentlich beurkundetem Vertrag vom 2. April 1971 verkaufte
Gottfried Eichenberger dem Arthur Widmer in Aeugst am Albis die Parzelle
Nr. 7'063, bestehend aus 7'600 m2 Wiesland. Die Parteien setzten den
Kaufpreis auf Fr. 326'800.- fest. Die Handänderung im Grundbuch wurde
für den 31. März 1972 vorgesehen, aber nicht vorgenommen.

    Am 10. Mai 1972 verkaufte Eichenberger, der später starb, die Parzelle
zum Preise von Fr. 456'000.- an einen Dritten.

    B.- Widmer klagte gegen die Erben Eichenberger auf Zahlung von
Fr. 178'770.30 Schadenersatz nebst Zins.

    Das Bezirksgericht Affoltern holte über den Wert der Parzelle
ein Gutachten ein und hiess gestützt darauf die Klage im Betrage von
Fr. 129'836.25 gut. Beide Parteien appellierten an das Obergericht des
Kantons Zürich. Dieses erblickte den Schaden im Unterschied zwischen dem
Verkehrswert der Parzelle am 10. Mai 1972 (Fr. 570'000.-) und dem mit
Eichenberger am 2. April 1971 vereinbarten Kaufpreis (Fr. 326'800.-). Da
die so ermittelte Ersatzforderung den eingeklagten Betrag überstieg,
schützte das Obergericht die Klage durch Urteil vom 8. November 1977 in
vollem Umfange.

    Die Beklagten haben gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, die vom
Bundesgericht abgewiesen worden ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Ob das Obergericht den Rechtsbegriff des Schadens verkannt, auf
unzulässige Berechnungsgrundsätze abgestellt oder das ihm zustehende
Ermessen überschritten habe, sind Rechtsfragen und daher vom Bundesgericht
überprüfbar (BGE 99 II 373, 95 II 265, 82 II 33 E. 6, 77 II 299).

    a) Schaden ist ungewollte Verminderung des Reinvermögens. Er kann in
einer Verminderung der Aktiven, einer Vermehrung der Passiven oder in
entgangenem Gewinn bestehen und entspricht nach allgemeiner Auffassung
der Differenz zwischen dem gegenwärtigen Vermögensstand und dem Stand,
den das Vermögen ohne das schädigende Ereignis hätte (BGE 97 II 176, 90
II 424; OFTINGER, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 4. Aufl. I S. 53 ff.;
VON TUHR/PETER, OR S. 84/5; GUHL/MERZ/KUMMER, OR S. 83 und 85). Davon
geht auch das Obergericht aus, was die Beklagten nicht beanstanden; sie
anerkennen vielmehr, dass der Kläger einen Schaden im genannten Sinne
erlitten hat und dass sie dafür grundsätzlich haften.

    Das Obergericht leitet die Haftpflicht der Beklagten aus Art. 97
Abs. 1 OR ab, weil ihr Rechtsvorgänger die Erfüllung des mit dem Kläger
abgeschlossenen Kaufvertrages schuldhaft verunmöglicht habe. Es fügt bei,
die besondern Bestimmungen der Art. 190 und 191 OR seien vorliegend nicht
direkt und wären ohnehin nur analog anwendbar, da sie den Fahrniskauf
beträfen. Sie handelten zudem vom Verzug des Verkäufers im kaufmännischen
Verkehr, wovon hier nicht die Rede sei. Art. 191 gelte ferner hauptsächlich
für den Verkauf vertretbarer Sachen; Liegenschaften zählten aber nicht
dazu. Die Bestimmung des dem Kläger erwachsenen Schadens richte sich daher
nach den allgemeinen Vorschriften der Art. 97 ff. sowie der Art. 42 und
43 OR.

    Auch dagegen haben die Beklagten grundsätzlich nichts einzuwenden. Sie
wollen aber klargestellt wissen, dass Art. 191 OR sich nicht bloss
hauptsächlich, sondern jedenfalls in den hier interessierenden Abs. 2
und 3 einzig auf vertretbare Sachen beziehe, weshalb diese Vorschriften
auf Grundstückkäufe überhaupt nicht anwendbar seien. Die vom Obergericht
angeführte Lehre ändere daran nichts; diese sei sich keineswegs darin
einig, dass die abstrakte Schadensberechnung allgemein Anwendung
finde. Wenn in der Lehre von "ähnlichen Kriterien" wie den in Art. 191
Abs. 2 und 3 OR für den Handelskauf genannten die Rede sei, auf welche
die Schadensberechnung beim bürgerlichen Kauf gestützt werden könne, so
setze eine derartige Verallgemeinerung doch einen Markt- oder Börsenpreis
bzw. einen Verkäuflichkeitspreis der vertretbaren Sache voraus, woran es
hier fehle. Nach den massgebenden Bestimmungen der Art. 97 ff., 42 und
43 OR habe der Kläger nicht bewiesen, dass sein Schaden die Differenz
zwischen den beiden Verkaufspreisen übersteige.

    b) Ob und inwieweit die Bestimmungen der Art. 190 und 191 OR als
solche nur im kaufmännischen Verkehr oder allgemein anwendbar seien, ist
in der Lehre umstritten (vgl. CAVIN, in Schweizerisches Privatrecht VII/1
S. 46/47; VON TUHR, in SJZ 18/1921/1922 S. 367; GUHL/MERZ/KUMMER, OR S. 90;
OSER/SCHÖNENBERGER, N. 1/2 zu Art. 191 OR; GIGER, N. 42/43 zu Art. 191
OR). Darauf braucht hier indes nicht näher eingegangen zu werden. Das
Obergericht hat den Schaden nach den Grundsätzen der Art. 97 ff. in
Verbindung mit Art. 42 und 43 OR beurteilt, auf die übrigens sinngemäss
Art. 191 Abs. 1 OR mit Geltung auch für den kaufmännischen Verkehr
verweist (CAVIN, aaO S. 46; BECKER, N. 3 und OSER/SCHÖNENBERGER, N. 2 zu
Art. 191 OR). Das hindert den Richter nach der Auffassung der Vorinstanz
freilich nicht, in diesem Rahmen auch Gedanken mitzuberücksichtigen,
die insbesondere dem Art. 191 OR zugrunde liegen. Das ist entgegen den
Einwänden der Beklagten ebenfalls nicht zu beanstanden, zumal der Richter
gemäss Art. 42 Abs. 2 OR nicht ziffermässig nachweisbaren Schaden nach
pflichtgemässem Ermessen zu schätzen hat. BGE 89 II 214 steht dem nicht
entgegen. Was dort über Eigenart und Preis chinesischer Rollbilder gesagt
worden ist, trifft in keinem Belange zu für die Liegenschaft in einem zur
Überbauung bestimmten Gebiet, um die es hier geht. Die übrigen Erwägungen
jenes Entscheides, der ein kaufmännisches Geschäft betraf, sind nicht
dahin zu verstehen, dass der Richter sich bei der Schadensberechnung für
einen bürgerlichen Kauf nicht auf ähnliche Kriterien wie Art. 191 Abs. 2
und 3 OR stützen dürfe (CAVIN, aaO S. 47; vgl. VON BÜREN, OR Bes. Teil
S. 15 Anm. 55).

    Es geht nicht an, jede an anderen objektiven Gegebenheiten orientierte
Schadensberechnung mangels ausdrücklichen gesetzlichen Vorbehaltes
allein deshalb als unzulässig zu verwerfen, weil Art. 191 Abs. 3 OR
für den Fahrniskauf eine abstrakte Berechnung eigens regelt. Anhand
objektiver Kriterien kann der Schaden namentlich dort nach Art. 42
OR konkret bestimmt werden, wo solche Kriterien als Anhalt für
richterliches Ermessen dienen. Das gilt insbesondere für die Ermittlung
entgangenen Gewinns, die hypothetischen Charakter hat und vorab auf den
gewöhnlichen Lauf der Dinge ausgerichtet ist (VON TUHR/PETER, OR S. 100;
GUHL/MERZ/KUMMER, OR S. 86). Die blosse Verwendung objektiver Elemente
macht eine Schadensberechnung noch nicht zur abstrakten im Sinne von
Art. 191 Abs. 3 OR. Das scheint auch das Obergericht andeuten zu wollen,
wenn es beifügt, dass "sogenannte" abstrakte Schadensberechnungen gestützt
auf allgemeine Vorschriften des Haftpflichtrechtes längst anerkannt seien.

    c) Hätte Eichenberger den Kaufvertrag vom 2. April 1971 erfüllt, so
wäre die Parzelle Nr. 7'063 in das Vermögen des Klägers übergegangen. Als
Teil dieses Vermögens musste ihr Wert nach dem Schadensbegriff ermittelt
werden, da der Kläger die Parzelle als Bauland verwenden wollte und keinen
vergleichbaren Ersatz erhielt. Dass das Obergericht dabei von dem durch
Expertise festgestellten Verkehrswert ausging, der nach den Erläuterungen
des Experten dem Landwert entspricht und unabhängig davon ist, ob der
Kläger das Grundstück selber überbauen lassen oder wieder veräussern
wollte, ist nicht zu beanstanden. Grundbesitz wird im Vermögensstand
üblicherweise mit dem Verkehrswert eingesetzt. Dieser lag hier, wie die
Expertise ergab, schon im April 1971 über dem vertraglichen Kaufpreis
und stieg bis zum 10. Mai 1972 auf Fr. 570'000.-. Entsprechend hätte sich
bis zu diesem Zeitpunkt auch das Vermögen des Klägers vergrössert. Es ist
nicht zu ersehen, weshalb ihm der entgangene Zuwachs, soweit dieser durch
sein Klagebegehren gedeckt ist, nicht als Schaden ersetzt werden sollte.