Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 II 166



104 II 166

28. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. August 1978 i.S.
Bleiker gegen Seligmann Regeste

    Vorübergehende Benützung des Nachbargrundstücks im Zusammenhang
mit Bauarbeiten.

    Das in § 115 des zürcherischen Baugesetzes vom 23. April 1893
verankerte Recht zu vorübergehender Benützung des Nachbargrundstücks ist
nur soweit gewährleistet, als sich diese in den Schranken des Art. 695
ZGB hält.

Sachverhalt

    A.- Werner Bleiker und Paul Seligmann sind Eigentümer
aneinandergrenzender Grundstücke in Zürich-Wollishofen. Jener ist im
Begriffe, auf seinem Grundstück ein Terrassenwohnhaus zu erstellen. Für
die Sicherung der Baugrube beansprucht er zu vorübergehender Benützung
einen Streifen des Grundstücks von Seligmann. Umfang und Bedingungen dieser
Landbenützung bildeten Gegenstand längerer Verhandlungen, in deren Verlauf
Bleiker mit der Ausführung von Arbeiten auf dem Nachbargrundstück begann.

    Mit Eingabe vom 20. Oktober 1977 stellte Paul Seligmann beim
Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirkes Zürich das Begehren,
es sei Werner Bleiker mit sofortiger Wirkung zu verbieten, auf seiner
Liegenschaft weitere Bau-, Ramm- oder Aushubarbeiten auszuführen,
und der Beklagte überdies zu verpflichten, den früheren Zustand sofort
wiederherzustellen. Mit Verfügung vom 15. November 1977 entschied der
Einzelrichter, auf das Begehren nicht einzutreten.

    Diesen Entscheid focht der Kläger beim Obergericht des Kantons
Zürich an, das den Rekurs mit Beschluss vom 9. Februar 1978 guthiess
und dem Beklagten befahl, ab sofort die Bau-, Ramm- und Aushubarbeiten
auf der Liegenschaft des Klägers einzustellen, unter Androhung der
Ungehorsamsstrafe von Art. 292 StGB; gleichzeitig wurde der Beklagte
angewiesen, innert 20 Tagen nach Zustellung des Beschlusses die auf dem
klägerischen Grundstück erstellten Installationen abzubrechen und den
früheren Zustand wiederherzustellen, unter Androhung von Zwangsvollzug
im Säumnisfall.

    Der Beklagte hat gegen den obergerichtlichen Entscheid sowohl
Nichtigkeitsbeschwerde an das Kassationsgericht des Kantons Zürich als
auch Berufung an das Bundesgericht erhoben. Mit der Berufung verlangt er,
das klägerische Begehren sei abzuweisen. Der Kläger beantragt die Abweisung
der Berufung und die Bestätigung des angefochtenen Entscheids.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 641 Abs. 2 ZGB hat der Eigentümer einer Sache das Recht,
jede ungerechtfertigte Einwirkung abzuwehren. Ungerechtfertigt ist eine
Einwirkung immer dann, wenn sie eine unmittelbare ist und somit einer
Besitzesstörung im Sinne von Art. 928 ZGB gleichkommt, wie dies beim
Betreten oder bei anderweitiger Benützung eines fremden Grundstücks der
Fall ist. Gerechtfertigt ist ein solcher Eingriff in fremdes Eigentum
lediglich dann, wenn sich der Störer hiefür auf eine besondere gesetzliche
Vorschrift oder auf ein dingliches oder obligatorisches Recht berufen kann
(BGE 100 II 309; 99 II 32/33 mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- Der Beklagte leitet das Recht zur Benützung eines Teils des
klägerischen Grundstücks in erster Linie aus § 115 des zürcherischen
Baugesetzes vom 23. April 1893 (BauG) ab. Diese im siebenten Abschnitt
("Privatrechtliche Bestimmungen") enthaltene Bestimmung hat folgenden
Wortlaut:

    "Soweit die Erstellung, bauliche Wiederherstellung oder Reinigung
   eines Gebäudes oder Abzugskanales, die Reinigung oder Wiederherstellung
   einer bereits bestehenden Abtrittgrube oder eines Brunnens das

    Betreten oder die vorübergehende Benutzung des nachbarlichen Bodens
   notwendig macht, muss sich der Nachbar dies gefallen lassen.

    Von jedem beabsichtigten Gebrauch dieser Befugnis ist dem Nachbarn
   rechtzeitig Kenntnis zu geben. Die Ausübung soll in möglichst wenig
   lästiger Weise geschehen, und es ist überdies für jeden Schaden voller
   Ersatz zu leisten."

    a) Das Obergericht ist der Ansicht, die in § 115 BauG vorgesehene
Duldungspflicht halte nur soweit vor dem Bundesrecht stand, als sie
Art. 685 Abs. 1 ZGB nicht widerspreche. Es räumt ein, dass Art. 685
ZGB den Nachbarn nicht schlechthin vor jeder Unannehmlichkeit schütze,
sondern nur verhindern wolle, dass durch Grabungen und Bauten erhebliche
Senkungen oder Rutschungen auf den Nachbargrundstücken verursacht würden,
nimmt aber dennoch an, im vorliegenden Fall stehe ausser Zweifel, dass
die Bautätigkeit des Beklagten mit Art. 685 Abs. 1 ZGB nicht vereinbar
sei. Das ergebe sich aus der von diesem selber zugestandenen Tatsache,
dass es bei einer Entfernung der bestehenden Installationen angesichts
der in einem grossen Steilhang ausgehobenen mächtigen Baugrube zu einer
Katastrophe käme, wobei insbesondere auch das Terrain des Klägers ins
Rutschen geriete und den dort befindlichen Gebäuden unmittelbar die
Zerstörung drohte. Ein Eingriff, der ohne besondere Sicherungsmassnahmen
derart verheerende Folgen bewirken würde, halte sich nicht mehr im Rahmen
von Art. 685 Abs. 1 ZGB. Der Kläger habe daher trotz § 115 BauG einen
Beseitigungs- bzw. Unterlassungsanspruch.

    b) Der Beklagte vertritt demgegenüber die Auffassung, § 115 BauG könne
Art. 685 Abs. 1 ZGB gar nicht widersprechen, denn durch die Ausübung der
in jener Bestimmung vorgesehenen Befugnisse solle ja eine Gefährdung des
klägerischen Grundstücks und damit eine Verletzung von Art. 685 Abs. 1 ZGB
verhindert werden. § 115 BauG könne sich sowohl auf den in Art. 686 Abs. 2
ZGB enthaltenen Vorbehalt kantonaler Bauvorschriften als auch auf Art. 695
ZGB stützen, der die Kantone unter anderem ausdrücklich ermächtige, über
die Befugnisse des Grundeigentümers, das nachbarliche Grundstück zum Zwecke
der Erstellung von Bauten zu betreten, nähere Vorschriften zu erlassen.

    c) Es ist selbstverständlich, dass die Kantone nicht berechtigt
sind, auf Grund der Vorbehalte in Art. 686 Abs. 2 und Art. 695 ZGB
Bauvorschriften privatrechtlicher Natur aufzustellen, die über diese
gesetzlichen Ermächtigungen hinausgehen. § 115 BauG hält somit vor
dem Bundesrecht nur stand, soweit er sich auf einen der erwähnten
Vorbehalte stützen kann und seine Anwendung nicht zu einem Eingriff
in das Grundeigentum führt, der mit dem Bundesrecht nicht vereinbar
ist. Da Art. 695 ZGB die Kantone ermächtigt, nebst anderem insbesondere
die Befugnis des Grundeigentümers zum Betreten des Nachbargrundstücks
zu regeln, ist darin und nicht im viel allgemeiner gefassten Vorbehalt
des Art. 686 Abs. 2 ZGB die Rechtsgrundlage für § 115 BauG zu erblicken.

    Gegenstand dieser kantonalen Vorschrift ist das sogenannte
Hammerschlags- oder Leiterrecht. Dieses an eine alte Überlieferung
anknüpfende Recht verleiht dem Grundeigentümer die Befugnis, zum Zwecke
der Erstellung, Reinigung oder Reparatur eines Gebäudes oder einer
andern Anlage das Nachbargrundstück zu betreten oder vorübergehend
zu benützen (M. JAGMETTI, Vorbehaltenes kantonales Privatrecht, in:
Schweizerisches Privatrecht, Bd. I, S. 312; HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL,
N. 35 zu Art. 694-696 ZGB; MEIER-HAYOZ, N. 22/23 zu Art. 695 ZGB;
A. WALDIS, Das Nachbarrecht, 4. Aufl., S. 185; zum deutschen Recht
vgl. MEISNER/STERN/HODES, Nachbarrecht, 4. Aufl., S. 504 ff.). Obwohl
Art. 695 ZGB nur von der Befugnis, das Nachbargrundstück zu betreten,
spricht, ist ohne weiteres anzunehmen, dass sich eine kantonale Regelung
auch insoweit auf diese Bestimmung stützen kann, als sie - wie § 115 BauG
- ein Recht zur vorübergehenden Benützung der nachbarlichen Liegenschaft
vorsieht. Es ist dabei in erster Linie an die Ablagerung von Baumaterialien
oder an das Errichten eines Baugerüstes zu denken. Naturgemäss kann es
sich bei der Fläche, deren Inanspruchnahme dem Nachbarn des baulustigen
Grundeigentümers zugemutet werden darf, nur um einen verhältnismässig
schmalen Streifen handeln. Mit dem bundesrechtlichen Anspruch auf möglichst
ungeschmälerten Genuss des Eigentums und der einschränkenden Formulierung
von Art. 695 ZGB unvereinbar wäre es sodann, wenn das kantonale Recht
erhebliche Veränderungen des nachbarlichen Grundstücks, wie insbesondere
Abgrabungen oder die Zerstörung darauf befindlicher Vorrichtungen,
zulassen würde.

    Aus dem angefochtenen Entscheid und den Akten ergibt sich, dass der
Beklagte das klägerische Grundstück in einem Umfang in Anspruch nehmen
will, der erheblich über den Rahmen des Hammerschlagsrechts hinausgeht. So
beansprucht er nicht nur eine mehrere Meter breite Fläche des klägerischen
Grundstücks für die Ausführung von Bauarbeiten, sondern will er einen
Teil dieser Fläche in die Abgrabungsarbeiten auf seinem Grundstück
miteinbeziehen. Eine derart weitgehende Benützung des nachbarlichen
Grundes lässt sich mit Art. 695 ZGB nicht vereinbaren; sie verletzt
den Anspruch des Klägers auf möglichst ungeschmälerte Respektierung
seines Eigentums. Widerspricht aber der Gebrauch, den der Beklagte unter
Berufung auf § 115 BauG von einer Teilfläche des klägerischen Grundstücks
machen will und zum Teil bereits gemacht hat, dem Bundesrecht, hat das
Obergericht diese Benützung zu Recht als unzulässig erklärt. Entgegen der
Auffassung der Vorinstanz besteht die Unvereinbarkeit mit dem Bundesrecht
allerdings nicht darin, dass der nachbarliche Grund für Sicherungsarbeiten
in Anspruch genommen wird, mit denen eine Gefährdung des Grundstücks
des Klägers im Sinne von Art. 685 Abs. 1 ZGB abgewendet werden soll. Das
Vorgehen des Beklagten widerspricht dem Bundesrecht vielmehr deshalb, weil
das klägerische Grundstück in einer Weise benützt wird, die sich mit der
nach Art. 695 ZGB zulässigen Einschränkung der Grundeigentümerbefugnisse
des Nachbarn nicht verträgt, sondern weit darüber hinausgeht.