Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 III 4



104 III 4

2. Entscheid vom 18. Januar 1978 i.S. X. Regeste

    Betreibungsfähigkeit.

    Die Betreibung gegen einen urteilsunfähigen Schuldner ist nichtig,
wenn nicht dessen gesetzlicher Vertreter bzw. die Vormundschaftsbehörde
mitwirkt. Die Frage der Urteilsfähigkeit des Betriebenen ist von Amtes
wegen zu prüfen, wenn berechtigte Zweifel an deren Vorhandensein bestehen.

Sachverhalt

    A.- In der Betreibung Nr. 4775 gegen X. verwertete das Betreibungsamt
Berikon am 30. Juni 1977 die beiden Grundstücke IR Berikon Nr.
407 und Nr. 408. Mit Beschwerde vom 20. Juli 1977 an den Präsidenten
des Bezirksgerichts Bremgarten als untere Aufsichtsbehörde über die
Betreibungsämter des Bezirkes Bremgarten verlangte der Schuldner die
Aufhebung der Zwangsverwertung. Er machte geltend, der Zuschlag sei
weit unter den bestehenden Grundpfandschulden zu einem "Schundpreis"
erfolgt. Ferner sei er zur Vorbereitung der Steigerung, zur Aufnahme
des Lastenverzeichnisses, zu dessen Bereinigung und zur Aufstellung des
Kollokationsplans nie begrüsst worden. Er habe auch keine Gelegenheit
gehabt, die Schätzung anzufechten. Mit Entscheid vom 30. August 1977 wies
der Gerichtspräsident die Beschwerde ab, soweit er darauf eintrat. Eine
Beschwerde gegen diesen Entscheid wurde von der Schuldbetreibungs-
und Konkurskommission des Obergerichts des Kantons Aargau als oberer
Aufsichtsbehörde am 3. November 1977 abgewiesen. Das Obergericht hielt
die Beschwerde an den Gerichtspräsidenten für verspätet, so dass dieser
überhaupt nicht darauf hätte eintreten sollen.

    B.- Mit dem vorliegenden Rekurs an die Schuldbetreibungs- und
Konkurskammer des Bundesgerichts beantragt der Schuldner, der Entscheid
des Obergerichts sei aufzuheben und die Zwangsverwertung seiner beiden
Grundstücke sei als nichtig zu erklären; ferner sei ihm die unentgeltliche
Prozessführung zuzubilligen und eine angemessene Entschädigung für seinen
Anwalt zuzusprechen. Der Gläubiger J. beantragt in seiner Vernehmlassung
die Abweisung des Rekurses, während sich die Ersteigerer der beiden
Grundstücke nicht vernehmen liessen, obschon ihnen hiezu Gelegenheit
geboten worden war.

Auszug aus den Erwägungen:

Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zur Begründung seines Begehrens auf Aufhebung der
Zwangsversteigerung seiner beiden Grundstücke IR Nr. 407 und Nr. 408
beruft sich der Rekurrent anders als im kantonalen Verfahren nicht mehr
auf Mängel bei der Anordnung und der Vornahme der einzelnen der Verwertung
vorausgegangenen Vollstreckungshandlungen. Er anerkennt nun auch - und das
mit Recht -, dass er sämtliche Beschwerdefristen verpasst hat. Er behauptet
vielmehr, der Grund für diese verpassten Fristen liege darin, dass er sich
während des ganzen Zwangsverwertungsverfahrens in einem Zustand völliger
geistiger Umnachtung befunden habe. Er, der sonst alles angefochten
habe, was ihm unrecht erschienen sei, habe aus Gründen seiner völligen
geistigen Unfähigkeit die Tragweite des Zwangsvollstreckungsverfahrens
nicht einsehen können.

    Er verlangt zum Beweis dafür die Einholung verschiedener Amtsberichte
sowie eines psychiatrischen Gutachtens, das sich über seinen Geisteszustand
während der Dauer des Zwangsverwertungsverfahrens auszusprechen hätte.

Erwägung 2

    2.- Mit diesem Vorbringen versucht der Rekurrent erstmals vor
Bundesgericht, die Nichtigkeit des Zwangsvollstreckungsverfahrens,
das mit der Versteigerung der beiden Grundstücke vorläufig sein Ende
gefunden hat, zu erreichen. Wäre er zur fraglichen Zeit tatsächlich
nicht urteilsfähig gewesen, so hätte die Betreibung gegen ihn ohne
Mitwirkung eines gesetzlichen Vertreters (Beistand, Vormund) bzw. der
Vormundschaftsbehörde (Art. 47 Abs. 2 SchKG in Verbindung mit Art. 386 ZGB)
nicht durchgeführt werden können, da im Betreibungsverfahren nur derjenige
als Schuldner seine Rechte selbst wahrnehmen kann, der nach Massgabe
des Zivilrechts handlungsfähig ist. Sie müsste in der Tat wegen Fehlens
der Betreibungsfähigkeit des betriebenen Schuldners von Amtes wegen als
nichtig erklärt werden (BGE 99 III 6, 66 III 27, 65 III 47; FRITZSCHE,
Schuldbetreibung und Konkurs, 2. Aufl., Bd. 1, S. 55), ungeachtet
dessen, ob der Steigerungszuschlag rechtzeitig angefochten wurde oder
nicht. Ausgeschlossen ist die Aufhebung einer nichtigen Betreibung nur
dann, wenn Tatsachen eingetreten sind, die nicht mehr rückgängig gemacht
werden können (BGE 98 III 61, 66, 97 III 96, 96 III 105, 94 III 71).

    Aus den Akten und aus den eingeholten Amtsberichten ergibt sich nun,
dass ernsthafte Zweifel an der Betreibungsfähigkeit des Rekurrenten am
Platze sind. So schreibt das Bezirksamt Bremgarten in seinem Bericht vom
9. Dezember 1977, es sei richtig, dass der Rekurrent "in einem gewissen
Grad als unzurechnungsfähig" angesehen werden müsse; es sei jedoch Sache
des Arztes, dies zu untersuchen. Der Gerichtspräsident von Bremgarten führt
anderseits in seinem Schreiben vom 16. Dezember 1977 aus, die Eingaben des
Rekurrenten - in einer Art "Michael-Kohlhaas-Psychose" verfasst - machten
zeitweise einen ungeordneten, unklaren und verwirrten Eindruck; diese
Verwirrtheit habe sich in den letzten Jahren zusehends verstärkt. In ihrem
Entscheid vom 23. Oktober 1974 erklärt die Beschwerdekammer in Strafsachen
des Obergerichts des Kantons Aargau sogar ausdrücklich, vom Rekurrenten
könne "wegen seiner psychischen Krankheit nicht erwartet werden, dass
er die Sach- und Rechtslage sachgemäss beurteilen" könne. Zweifel am
Geisteszustand des Rekurrenten erwecken schliesslich auch verschiedene,
von ihm eigenhändig geschriebene Schriftstücke, die bei den Akten liegen,
so etwa der Brief an den Gemeinderat Berikon vom 5. Juli 1977. Unter diesen
Umständen besteht hinreichender Anlass, die Frage der Urteilsfähigkeit
und damit der Betreibungsfähigkeit des Rekurrenten näher abzuklären.

    Freilich hat sich der Rechtsvertreter des Rekurrenten, der diesen
offensichtlich bereits im kantonalen Verfahren zumindest beraten, wenn
nicht vertreten hat, weder vor der unteren noch der oberen Instanz auf
die Urteilsunfähigkeit seines Mandanten berufen.

    Doch ist die Frage der Urteilsfähigkeit jedenfalls dann, wenn wie
hier berechtigte Zweifel an deren Vorhandensein bestehen, von Amtes wegen
zu prüfen, so dass der erstmals vor Bundesgericht erhobenen Einrede das
Novenverbot (Art. 79 Abs. 1 OG) nicht entgegensteht (BGE 91 III 45).

    Es ist allerdings nicht Aufgabe des Bundesgerichts, die zur Prüfung
der Urteilsfähigkeit des Rekurrenten erforderlichen Abklärungen selbst
vorzunehmen. Die Sache ist daher an die kantonale Aufsichtsbehörde
zurückzuweisen, damit diese die entsprechenden Feststellungen treffen
und daraus die sich aufdrängenden rechtlichen Konsequenzen ziehen kann
(vgl. BGE 65 III 47). Nicht mehr rückgängig zu machende Tatsachen stehen
einer allfälligen Aufhebung des Steigerungszuschlags nicht entgegen. Aus
dem Bericht des Grundbuchamtes Bremgarten vom 12. Dezember 1977 ergibt sich
nämlich, dass der Eigentumsübergang nach der Versteigerung vom 30. Juni
1977 im Grundbuch weder eingetragen noch angemeldet worden ist. Gemäss
der Vernehmlassung des Betreibungsamtes Berikon vom 16. Dezember 1977
wurde sodann auch der Verwertungserlös noch nicht verteilt.

Erwägung 3

    3.- Dem Antrag auf Erteilung des Armenrechts kann nach ständiger
bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht entsprochen werden. Im
grundsätzlich gebühren- und entschädigungsfreien Rekursverfahren gemäss
Art. 78 ff. OG besteht weder für die Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege noch für die Beiordnung eines Armenanwalts eine gesetzliche
Grundlage (BGE 102 III 13).

Entscheid:

                     Demnach erkennt die
            Schuldbetreibungs- und Konkurskammer:

    Der Rekurs wird teilweise gutgeheissen und der angefochtene Entscheid
aufgehoben; die Sache wird zur Feststellung der Betreibungsfähigkeit des
Rekurrenten und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.