Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IB 358



104 Ib 358

56. Urteil vom 24. November 1978 i.S. Kravarik gegen Regierungsrat des
Kantons Thurgau Regeste

    Entzug des Führerausweises; Bedeutung eines Strafurteils für den
Entscheid über eine Administrativmassnahme, welcher der gleiche Sachverhalt
zugrunde liegt.

    1. Zurückhaltung der Verwaltungsbehörden hinsichtlich der tatsächlichen
Feststellungen durch die Strafbehörden (E. 1, 2).

    2. Bei der rechtlichen Würdigung des Sachverhaltes ist die
Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht an das Erkenntnis des Strafrichters
gebunden. In Fällen hingegen, in denen die rechtliche Beurteilung stark
von der Würdigung der Tatsachen abhängt, die der Strafrichter besser
kennt, rechtfertigt es sich, dass die Verwaltungsbehörde auch in bezug
auf die rechtliche Würdigung nur mit Zurückhaltung vom Standpunkt des
Strafrichters abweicht (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Juraj Kravarik fuhr am Morgen des 23. Mai 1977, ungefähr um
7.30 Uhr mit seinem Personenwagen auf der Zürcherstrasse in Frauenfeld
stadtauswärts in westlicher Richtung. Zur gleichen Zeit befand sich
die siebenjährige Corinne Eugster auf dem Gehweg am rechten Rand
der Zürcherstrasse (in Fahrtrichtung von Kravarik gesehen) auf dem
Schulweg. Unmittelbar westlich der Talbachstrasse beabsichtigte das
Mädchen, die Zürcherstrasse gegen Süden zu überqueren. Dabei trat es in
einer Art und Weise, die umstritten ist, auf die Fahrbahn, blieb in der
Strassenmitte stehen und ging, als es Kravarik herannahen sah, wieder
gegen den Gehweg zurück. Bei dieser Gelegenheit wurde Corinne Eugster vom
rechten vorderen Kotflügel des von Kravarik gesteuerten Personenwagens
erfasst, auf den Gehweg geschleudert und verletzt. Kravarik hatte kurz
zuvor bei einem Lichtsignal seine Geschwindigkeit herabgesetzt. Nach
seinen Aussagen beschleunigte er anschliessend wieder, bremste jedoch ab,
als er das Mädchen auf die Strasse springen sah. Weil er der Ansicht war,
das Mädchen werde die Strasse ganz überqueren und er könne hinter ihm
durchfahren, bremste er nicht voll. Er tat dies erst, als das Mädchen sich
umgedreht hatte und im Begriffe war, zum Gehweg zurückzugehen. Aufgrund
dieses Vorfalls büsste das Bezirksamt Frauenfeld Kravarik mit Fr. 50.-
(Strafverfügung vom 10. Juni 1977). Im Einspracheverfahren wurde die
Strafverfügung jedoch mit Entscheid vom 4. August 1977 aufgehoben. Bereits
am 21. Juni 1977 hatte das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau
Kravarik wegen des gleichen Vorfalls den Führerausweis für die Dauer
eines Monats entzogen. Dieser Entscheid wurde am 31. Januar 1978 vom
Regierungsrat des Kantons Thurgau bestätigt. Kravarik verlangt mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Aufhebung des regierungsrätlichen
Entscheides.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts hat die
Verwaltungsbehörde beim Entscheid über einen Führerausweisentzug
sämtliche feststehenden Tatsachen zu berücksichtigen. In diesem Rahmen
hat sie, wenn ein Strafurteil vorliegt, auch auf die im Strafverfahren
festgehaltenen tatsächlichen Feststellungen, soweit diese für den Entzug
des Führerausweises erheblich sind, Bezug zu nehmen, ohne dass sie dadurch
bereits an diese Feststellungen gebunden wäre. Erfolgte indessen die
Bestrafung durch ein Urteil, das in einem ordentlichen Strafverfahren
mit einer öffentlichen Gerichtsverhandlung unter Anhörung der Parteien
und Einvernahme der Zeugen ergangen ist, so erscheint angesichts der
unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Sachnähe des Strafrichters sowie
der strafprozessualen Garantien, auf denen das Strafurteil in dieser
Hinsicht beruht, eine Zurückhaltung der Verwaltungsbehörde grundsätzlich
als gerechtfertigt. Die Verwaltungsbehörde wird daher in diesem Fall
in aller Regel auf die Feststellung der Tatsachen im Strafurteil
abstellen können, es sei denn, es bestünden klare Anhaltspunkte für
die Unrichtigkeit dieser Tatsachenfeststellung. In diesem Fall hat
sie nötigenfalls selbständige Beweiserhebungen durchzuführen. Eine
entsprechende Zurückhaltung rechtfertigt sich auch gegenüber einem
Strafurteil, das zwar bloss im Strafbefehlsverfahren ergangen ist, für
das indessen die Strafbehörde eine eigene Untersuchung durchgeführt und
insbesondere die Parteien und Zeugen selber einvernommen hat. Hingegen
rechtfertigt sie sich nicht im selben Ausmass gegenüber einem Strafmandat,
bei dem die Strafbehörde lediglich auf den Polizeirapport abstellte. Soweit
aber der Polizeirapport auf Wahrnehmungen der Polizeibeamten an Ort und
Stelle beruht und sich auf unmittelbar nach dem für die Bestrafung bzw. den
Entzug des Führerausweises massgeblichen Vorfall protokollierte Aussagen
von Beteiligten und Augenzeugen stützt, hat dies die Verwaltungsbehörde
auch in diesem Fall entsprechend zu berücksichtigen (BGE 103 Ib 105
f. mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- a) Im vorliegenden Fall belegte das Bezirksamt Frauenfeld
den Beschwerdeführer aufgrund des Polizeirapports mit einer Busse
von Fr. 50.-. Als der Beschwerdeführer gegen diese Strafverfügung
Einsprache erhob, wurde er vom Statthalter hinsichtlich des strittigen
Verkehrsunfalls einvernommen. Nach dieser Einvernahme und der Einholung
von Vorstrafenberichten hob der Statthalter am 4. August 1977 seine
Strafverfügung gegen Kravarik auf. Im Einspracheentscheid wird ausgeführt,
die Darstellung des Sachverhaltes, welche der Einsprecher anlässlich der
Einvernahme gegeben habe, weiche in einigen Punkten von derjenigen des
Polizeirapports ab.

    Nach den im Einvernahmeprotokoll des Bezirksamtes festgehaltenen
Aussagen hatte das Mädchen den Blick auf den Beschwerdeführer gerichtet,
als es auf die Strasse sprang. Im Polizeirapport wird hingegen gesagt,
das Mädchen habe in westlicher Richtung und somit nicht gegen den
Beschwerdeführer geschaut. Auch das Verhalten des Beschwerdeführers wird
im Einvernahmeprotokoll abweichend vom Polizeirapport geschildert. Nach
seinen eigenen Aussagen hat der Beschwerdeführer gebremst, als das Mädchen
auf die Strasse sprang. Weil er jedoch angenommen habe, das Mädchen werde
seinen Weg über die Strasse fortsetzen und er könne dann ohne Gefährdung
an ihm vorbeifahren, habe er nicht eine Vollbremsung eingeleitet. Erst
als das Kind sich umgedreht habe und zurückgesprungen sei, habe er
voll gebremst. Im Polizeirapport wird demgegenüber nur ausgeführt, der
Beschwerdeführer habe gebremst, nachdem das Mädchen wieder zum Gehweg
zurückgeschritten sei.

    Im Einvernahmeprotokoll wird im übrigen ausgeführt, Corinne Eugster
sei auf die Strasse "gesprungen"; auf der Leitlinie angelangt, habe
sie sich plötzlich umgedreht und sei wieder zum Gehweg zurück und dabei
genau vor das Auto des Beschwerdeführers "gesprungen". Im Polizeirapport
ist die Rede davon, dass das Mädchen auf die Fahrbahn "gegangen" und
anschliessend rasch rückwärts "geschritten" sei. Nach den Aussagen des
Beschwerdeführers spielte sich der ganze Vorgang möglicherweise etwas
rascher und unvorhergesehener ab, als er im Polizeirapport dargestellt
wurde.

    Im Einspracheentscheid wird nicht ausdrücklich begründet, warum die
ursprüngliche Strafverfügung aufgehoben werde. Der Statthalter weist,
wie erwähnt, nur auf die Unterschiede der Sachverhaltsdarstellungen
im Polizeirapport und im Einvernahmeprotokoll hin. Daraus kann
geschlossen werden, der Statthalter habe die durch die Einvernahme des
Beschwerdeführers bewirkte Änderung der Sachverhaltsdarstellung als
glaubhaft und massgebend betrachtet und sei aufgrund des veränderten
Sachverhaltes zu einer Aufhebung der Strafverfügung gelangt.

    b) Der Regierungsrat war demgegenüber in seinem Entscheid der
Ansicht, die im Polizeirapport und im Einvernahmeprotokoll enthaltenen
Sachverhaltsdarstellungen wichen nur unwesentlich voneinander ab.
Der Regierungsrat legte darum sowohl den Polizeirapport als auch das
Einvernahmeprotokoll seinem Entscheid zugrunde. Er betrachtete aber
die Darstellung des Einvernahmeprotokolls, insbesondere in bezug auf das
Verhalten von Corinne Eugster kaum. Er machte sich vielmehr die Darstellung
des Polizeirapports zu eigen, wonach das Mädchen den Beschwerdeführer
nicht gesehen hatte, als es auf die Fahrbahn trat.

    Die Feststellung, die beiden Sachverhaltsdarstellungen wichen nur
unwesentlich voneinander ab, ist nicht in jeder Hinsicht zutreffend. Wie
dargelegt, entstehen in einzelnen Punkten nicht unbedeutende
Widersprüche, wenn die beiden Darstellungen verglichen werden. Nachdem
der Statthalter nach einer einlässlichen Einvernahme offenbar die
Darstellung des Beschwerdeführers als massgebend betrachtet hat, hätte
der Regierungsrat sich nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
auf diese Sachverhaltsdarstellung stützen sollen, sofern keine klaren
Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit bestanden haben. Solche macht
der Regierungsrat keine geltend. Somit hat er die bundesgerichtlichen
Grundsätze, die in diesen Fällen für die Sachverhaltsfeststellung gelten,
in dem Masse verletzt, indem er in seinem Entscheid nicht eindeutig von
dem im Einvernahmeprotokoll geschilderten Sachverhalt ausgegangen ist.

Erwägung 3

    3.- In reinen Rechtsfragen ist die Verwaltungsbehörde nicht an die
Beurteilung durch den Strafrichter gebunden, da sonst die Verwaltung
in ihrer freien Rechtsanwendung beschränkt würde (BGE 103 Ib 106). Eine
andere Lösung ist höchstens gerechtfertigt, wenn die rechtliche Würdigung
eines Falles sehr stark von der Würdigung von Tatsachen abhängt, die
der Strafrichter besser kennt als die Verwaltungsbehörde (BGE 102 Ib 196
mit Hinweisen).

    Der Regierungsrat hat dem Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 26
Abs. 2 SVG (ungenügende Vorsicht gegenüber einem Kind) und von Art. 32
Abs. 1 SVG (Nichtanpassen der Geschwindigkeit an die gegebenen Umstände)
vorgeworfen. Die Beurteilung der Frage, ob die Vorsichtspflicht gegenüber
einem Kind verletzt und ob die Geschwindigkeit den gegebenen Umständen
angepasst worden ist, hängt stark von der Würdigung der Tatsachen ab. Je
günstiger die Feststellung des Sachverhaltes für den Beschwerdeführer
ausfällt, desto geringer wird die Verletzung der Sorgfaltspflicht gegenüber
einem Kind zu beurteilen sein und desto weniger wird ein Nichtanpassen der
Geschwindigkeit an die Umstände vorliegen. Je ungünstiger der Strafrichter
hingegen den Sachverhalt einschätzt, desto eher wird sich ein Schuldspruch
in den genannten Punkten aufdrängen.

    Ist in solchen Fällen ein Entscheid so kurz begründet wie der
angefochtene, kann oft nicht zwischen der Sachverhaltsfeststellung und
der rechtlichen Würdigung unterschieden werden. Diese beiden Vorgänge
spielen sich zwar im Überlegungsprozess des Richters ab, fliessen aber
zum Teil ineinander über. Fest steht am Schluss, in Form eines Frei-
oder Schuldspruchs, nur das Resultat, das gewisse Rückschlüsse auf den
Sachverhalt und die rechtliche Würdigung zulässt. Auch unter diesem
Gesichtspunkt ist hier die Sachverhaltsfeststellung kaum von der
rechtlichen Würdigung zu trennen.

    Es wäre allerdings wünschbar, dass Straferkenntnisse, die von
Administrativbehörden bei der Auflage von Massnahmen mitberücksichtigt
werden müssen, eine etwas ausführlichere Würdigung der Tatsachen
enthielten, als es beim Einspracheentscheid des Bezirksamtes Frauenfeld
der Fall ist.

    Bei den geschilderten Fällen, wo die Feststellung des Sachverhaltes und
deren rechtliche Würdigung so eng zusammenhängen, rechtfertigt es sich,
dass die Verwaltungsbehörden auch in bezug auf die rechtliche Würdigung
nur mit grosser Zurückhaltung vom Standpunkt des Strafrichters abweichen,
sofern dieser den Sachverhalt besser kennt als die Verwaltungsbehörde. Dies
trifft im vorliegenden Fall zu, da der Statthalter den Beschwerdeführer
persönlich einvernommen hat.

    Im übrigen muss berücksichtigt werden, dass Corinne Eugster nach
den vom Strafrichter offenbar als glaubhaft betrachteten Aussagen den
Beschwerdeführer gesehen hat, als sie auf die Strasse sprang. Nichts liess
zudem darauf schliessen, dass sie sich plötzlich umdrehen würde, als sie im
Begriffe war, scheinbar zielbewusst die Strasse zu überqueren. Das Mädchen
war nicht im Spiel begriffen. Es herrschte auch kein Gegenverkehr, der
es hätte veranlassen können, auf das soeben durchschrittene Strassenstück
zurückzuspringen.

    Art. 26 Abs. 2 SVG schreibt vor, dass gegenüber Kindern besondere
Vorsicht geboten ist. Dies hat zur Folge, dass hier eine Berufung auf
das Vertrauensprinzip grundsätzlich selbst dann versagt, wenn keine
konkreten Anzeichen vorliegen, dass sich die Kinder unkorrekt verhalten
würden. Für einen Fahrzeuglenker ist darum auch dann besondere Vorsicht
geboten, wenn keine Anzeichen bestehen, dass sich ein Kind unvorsichtig
oder verkehrswidrig verhalten werde (BGE 104 IV 31, R. VON WERRA, Du
principe de la confiance dans le droit de la circulation routière...,
ZWR 4/1970, S. 200). Im vorliegenden Fall bestehen aber dennoch gewisse
Zweifel, ob der Beschwerdeführer unter den geschilderten Umständen damit
rechnen musste, dass das Mädchen die Strasse nicht in normaler Weise
überschreiten werde und ob er darum nicht nur hätte abbremsen, sondern voll
bremsen sollen. Auf alle Fälle war die dem Beschwerdeführer angelastete
Verletzung von Verkehrsregeln nicht so offensichtlich, dass es sich für
den Regierungsrat gerechtfertigt hätte, vom Standpunkt des Strafrichters
abzuweichen. Da nach der Überzeugung des Bundesgerichts ein Verstoss
gegen das SVG nicht bewiesen ist, muss die Beschwerde gutgeheissen werden.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Regierungsrates
des Kantons Thurgau vom 31. Januar 1978 aufgehoben.